Daten/Fakten  

   

Griechenland:

Parlamentarische Demokratie wird ausgehebelt

In Athen wurde am Dienstagabend der Betrieb des öffentlichen Radio- und Rundfunksenders eingestellt. Der Schritt wurde vom konservativen Primärminister Andonis Samaras per Dekret und gegen den Willen seiner beiden sozialdemokratischen Juniorpartner, PASOK und Dimar, verkündet. Die griechische Öffentlichkeit reagierte empört. Nach dem der Beschluss um 17:45 Uhr Ortszeit bekannt gegeben wurde, versammelten sich viele Tausend Menschen vor dem Sitz des Senders in einem der Athener Vororte. Am Mittwoch und Donnerstag wird in vielen Medien aus Protest gestreikt.
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Die Einstellung des Sendebetriebs konnten die Proteste allerdings nicht verhindern. Um 23 Uhr Ortszeit (22 Uhr MESZ) schaltete die Polizei die Senderantenne ab. 2500 bis 3000 Menschen verlieren von heute auf morgen ihren Arbeitsplatz. Ein Teil von ihnen soll später wieder eingestellt werden. Die Regierung kündete an, der Sender solle später mit einem schmaleren Programm weitergeführt werden.

„Natürlich kann man an dem alten Sender nicht alles verteidigen“, meint eine griechische Journalistin, die ungenannt bleiben möchte. „Mancher hat seinen Job dort wegen politischer Beziehungen bekommen, und der eine oder andere bezog Gehalt, ohne dafür zu arbeiten. Aber wenn man den Sender tatsächlich reformieren will, dann schließt man ihn nicht. Denn dann kann man doch nicht sicher sein, dass die Zuschauer später auch zurück kommen.“

Und das ausgerechnet die Konservativen und die PASOK, die jahrzehntelang Klientelwirtschaft betrieben haben, nun den Sender transparent und kostengünstiger organisieren, glaubt in Athen kaum jemand. Schon das undemokratische Regieren per Dekret spricht eher dagegen.

Das am Dienstag verkündete Dekret war bereits das 19. seiner Art berichtet Errikos Finalis, Mitglied der außenpolitischen Kommission des Linksbündnisses Syriza. „Sie lösen die Institutionen der bürgerlichen Demokratie auf. Das Parlament hat nichts mehr zu sagen. Nach etwa drei Monaten, wenn so ein Dekret längst umgesetzt wurde, hat es lediglich die Möglichkeit es zu bestätigen oder nachträglich abzulehnen. Allerdings ohne Debatte.“

Der Vorgang erinnert – wie übrigens auch die von der EU unter anderem auf Druck der Berliner Regierung durchgesetzte Austeritätspolitik – stark an die deutsche Notstandspolitik in den frühen 1930er Jahren vor der Machtergreifung der Nazis.

Finalis kritisiert auch andere Element, die den Rahmen der bürgerlichen Demokratie verlassen, zum Beispiel die Zwangsverpflichtung der Lehrer oder die Reaktivierung von Gesetzen aus der Bürgerkriegszeit in den 1950er Jahren. So könne jemand wegen der Anstachelung zur Rebellion zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden, wenn er zu Streiks oder zu Widerstand gegen Großprojekte wie den Goldbergbau in Chalkidiki im Norden des Landes aufruft. Es habe bereits verschiedene Festnahmen mit solcher Begründung gegeben.

Die Regierung erklärt derweil ihr Coup sei nötig, um Ausgaben einzusparen. Vertreter der Medien-Gewerkschaften sahen einen unmittelbaren Zusammenhag mit dem aktuellen Besuch einer Troika-Kommission, die über die Vergabe einer neuen Kredittranche verhandelt.

Allerdings war der Sender gebührenfinanziert. Ein Teil der Gebühren war von der Regierung sogar zweckentfremdet worden. Die Schließung wird den Staatshaushalt also nicht entlasten. Bereits mit Gebührengeldern bezahlte Senderechte wurden per Regierungsbeschluss an Privatsender vergeben. Ein Grund mehr für die Menschen, sich verschaukelt zu fühlen.

Und auch die Symbolik stößt vielen auf. ERT war nach dem Sturz der Militärdiktatur in den 1970er Jahren gegründet worden. Der andere öffentliche Sender, der unangetastet bleibt, wurde hingegen vom Militär aufgebaut. Entsprechend lautete einer der am Dienstag von der Menge vor dem Sender skandierten Slogans: „Brot, Bildung, Freiheit – die Diktatur endete nicht 1973“. (Die griechische Militärdiktatur wurde 1973 von einem Volksaufstand gestürzt, dessen zentrale Parole „Brot, Bildung, Freiheit“ war.) 
 (wop)


Mehr Infos auf Teleopolis:
http://www.heise.de/tp/artikel/39/39308/1.html

Internetseite des Senders mit Livestreams (alles auf Griechisch):
http://www.ert.gr./eidiseis/greece/koinonia/story/167265/oloi-kontra-sto-pligma-tis-dimokratias