Daten/Fakten  

   

Beiträge

Kirill Medvedev:

 "Dies ist nicht unser Krieg, doch es kämpfen in ihm –

auf beiden Seiten – unsere Menschen"

Medw

Die Notwendigkeit eines »Dritten Wegs«, der sich von der Unterstützung einer der fanatischen Seiten in der ukrainischen Krise unterscheidet und über den viele in den letzten Monaten geschrieben haben, ist derzeit besonders offensichtlich, weil das die einzige Möglichkeit zur Wiederherstellung der beinahe vollständig zerbrochenen demokratischen Opposition in Russland ist.

 'Maidan' und 'Anti-Maidan' - gescheiterte Hoffnungen

»Maidan« als die lauteste und andauerndste Mobilisierung im post-sowjetischen Raum war ohne Zweifel eine Chance für einen einmaligen demokratischen Durchbruch, der als Beispiel für Westeuropa, die GUS-Länder und viele andere dienen konnte.

Und »Anti-Maidan«, der Aufruhr in der Südost-Ukraine, war ohne Zweifel eine Chance für den Ausbruch aus einem Kreislauf, eine Gelegenheit zum Überdenken der Entwicklung von Westeuropa außerhalb jenes Laufes (von De-Industrialisierung, Privatisierung, Neoliberalismus), der ihm seitens der EU und des IWFs aufgezwungen wird.

Es sieht so aus, als hätten beide Seiten verloren. Revolution wird von einer aktiven Minorität betrieben, doch ihr Schicksal hängt von der Fähigkeit dieser Minorität ab, eine Mehrheit für ihre Sache zu gewinnen und zu überzeugen, dass es eine Gemeinsamkeit von Interessen gibt. »Maidan« erwies sich noch vor dem Sieg als unfähig, in den Südosten die klare Botschaft zu übermitteln: wir sind eine Nation, wir haben gemeinsame Interessen, es wird in der neuen Ukraine Raum für verschiedene kulturell-historische Traditionen und ökonomisch-politische Orientierungen geben. Stattdessen gab es im besten Fall Zuversicht, dass die Bewohner des Südostens allem zustimmen werden, was die Revolutionäre in Kiew erreichen würden und im schlimmsten Fall – abschreckendsten Sozial-Rassismus und Chauvinismus, welcher zuletzt die ideologische Basis für die Anti-Terroristischen Operationen (ATO) wurde.

Die Republiken, die in der Südost-Ukraine entstanden, sind ohne Zweifel das Ergebnis eines außenpolitischen Abenteuers des russischen Regimes, welches schlingernd wagte und versuchte, die völlig gerechtfertigte Unzufriedenheit eines gewaltigen Teils der Bevölkerung im Südosten mit dem neuen Kiewer Establishment und seiner Politik zu seinem Vorteil zu wenden.

Viele Menschen der Linken (ich eingeschlossen) hofften, dass die Menschen des Donbass (wie die des »Maidan«) ihre eigenen sozialen und demokratischen Programme formulieren und realisieren könnten. Dies hätte entweder die beiden Bewegungen näher zueinander bringen können und hätte die fortschrittlichen Elemente beider ins Blickfeld gerückt; oder es hätte die Frage der territorialen Integrität der Ukraine (und Russlands, sowie eines jeden Landes in ähnlicher Lage) unerheblich gemacht. 

Jenseits von Problemen der Selbstorganisation und von politischer Initiative, die es tatsächlich in der Südost-Ukraine gibt (so wie es sie in Russland und an vielen anderen Orten gibt), ist es doch wichtig, dass die benachteiligten Menschen des Donbass von Beginn an kein irgendwie klar definiertes Ziel hatten. Deshalb ist es vollkommen logisch, dass sich an die Führungsspitze der Mobilisierung ein kleiner Stab von Leuten – primär aus Russland – mit militärischen oder verwaltungstechnischen Erfahrungen setzte, mit gewisser (sei sie auch unsicher und schwankend) Unterstützung aus Moskau und mit sehr speziellen politischen Motiven: die Wiedererrichtung und die Ausdehnung der »Russischen Welt«.

Unter dem Segel des 'Anti-Faschismus' auf groß-russischem Kurs

Ja, der rudimentäre sowjetische Antifaschismus und Egalitarismus, der die Mehrheit der Menschen des Donbass beherrscht, sind milde gesagt nicht die schlechtesten Werte, die derzeit im post-sowjetischen Raum verbreitet sind. Aber es ist unmöglich, ernsthaft als Zeichen von linksgerichteter oder demokratischer Regierungspolitik zu nehmen, wenn Ideen über Nationalisierung oder »Anti-Faschismus« von rechten, die Geschichte wiederherstellenden, früheren Mitgliedern der RNU (Russische Nationale Einheitspartei) mit ihrer auf unzweifelhaft reaktionäre Stimmungen der Massen abzielenden anti-westlichen, anti-europäischen Sprache eingeimpft werden.

Und überhaupt nichts Linksgerichtetes sind anti-oligarchische Proklamationen an sich, denn diese können ebenso gut ein Teil von rechten »Linken« - oder sogar national-sozialistischen Programmen sein. Und es kann auch weder einen Vergleich mit der kubanischen noch mit der bolivarischen Revolution geben, solange man sich weigert, von Russland als einer regionalen imperialistischen Macht zu reden, die ihre Führungskräfte in Nachbarrepubliken mit folgenden Ansichten schickt: „Die Grenzen der russischen Welt sind erheblich weiter als die Grenzen der Russischen Föderation. Ich erfülle im Namen der russischen Nation, der durch das orthodoxe Christentum verbundenen russischen Super-Ethnie eine historische Mission. In der Ukraine kämpfe ich wie im Kaukasus gegen Separatisten, dieses Mal gegen ukrainische, nicht gegen Tschetschenen. Weil es eben so etwas wie Russland, Groß-Russland, das russische Imperium gibt. Und nun kämpfen die ukrainischen Separatisten in Kiew gegen das Russische Imperium.“ (Alexander Borodai [bis vor kurzem »Ministerpräsident« der »VR Donezk«])

Es ist vollkommen klar, dass die Mehrheit der Bewohner des Donbass nicht in der Fantasiewelt der historischen Wiederherstellung leben, sondern in einer Welt mit ihren eigenen Alltagsproblemen, Problemen im Leben und in der Arbeit, ihren eigenen Interessen, die von denen der sie besuchenden Kämpfer und Kommandeure abweicht, ganz gleich, welche Hoffnungen auf Letztere zu Beginn gesetzt wurden. Und auch dies ist gleich klar: selbst wenn eine linksgerichtete, radikal demokratische Programmatik plötzlich von unten her begänne, sich Durchbruch zu verschaffen, würde sie mit Unterstützung Moskaus von den Bauherren der »Russischen Welt« beschlagnahmt oder einfach zerdrückt.

Der Schlüssel liegt in Russland

Deshalb besteht die einzige Chance des Ausbruchs aus dem Teufelskreis in der Ukraine in grundlegenden Veränderungen in Russland. Veränderungen, die nicht unter dem Banner des Kampfes für die »Russische Welt« gegen Jugendkriminalität, EURO-Sodom und ähnliches geführt werden, sondern unter dem Banner von radikal-demokratischem und sozialem Wandel innerhalb des Landes und der Rückbesinnung von einer Wirtschaft der Versorgung einer Armee von Bürokraten, Polizisten, FSB-Leuten und Haufen von großen Geschäftsleuten auf eine Wirtschaft des Sozialen, der Wissenschaft und der Industrie. 

Natürlich fällt es schwer, sich vorzustellen, dass solche Veränderungen heute stattfinden könnten. Die Ereignisse in der Ukraine haben einerseits die [innerrussische] Opposition fast vollständig demoralisiert und ihre Flanken von innen her gespalten (vor allem der Linken). Auf der anderen Seite haben die Geschehnisse dem [russischen] Regime ein neues Problem geschaffen: Wie soll man mit den Stimmungen umgehen, die andauernd von der russischen Propaganda angefeuert wurden, wie mit den Führern und Kämpfern im Südosten der Ukraine, die im Zusammenhang mit der »antifaschistischen« Hysterie der Massenmedien Autorität gewonnen haben? Und es ist offensichtlich, dass nichts anders zu tun sein wird, als diese Führer und die sie tragenden Stimmungen zu vereinnahmen, um sie an die Macht zu bringen. 

Die Frage des Faschismus

Hier stoßen wir auf den Tatbestand des Faschismus. Während die von den russischen Propagandisten eingepflanzte Phrase »Kiewer Putschregime« nichts zur Erhellung der Situation beiträgt, sind bestimmte Elemente des Faschismus in der post-revolutionären Ukraine augenscheinlich. Es sind dies zuallererst die von den Oligarchen finanzierten militärischen Kräfte, gebildet von Kämpfern, die von ultra-nationalistischen Ideen motiviert sind und sich weitgehend aus rechtsextremen Organisationen rekrutieren. Versuche seitens des Regimes (welches vielleicht selbst nicht »faschistisch« ist), solche Strukturen zu unterstützen und zu nutzen, führen oft zum Verlust der Kontrolle über sie oder zur Hinnahme von ihnen als einzigem Mittel für das Überleben. Historisch gesehen findet das Zusammenspiel der Beziehungen zwischen bürgerlicher Macht und Faschismus genau so statt, weshalb es eben kein Orientierungspunkt ist, wenn das Regime Poroschenkos oder Putins für sich allein zu Zwecken kurzfristiger Propagandagewinne als »faschistisch« bezeichnet wird.

Auf die eine oder andere Weise muss die Frage des Faschismus in der Ukraine verantwortungsbewusst diskutiert werden und den Kontext zur europaweiten Situation der extremen Rechten einschließen. Wir müssen die Beziehung zwischen dem Handeln der Soldaten und Kämpfer für Kiew und der ultra-nationalistischen Ideologie behandeln. Aber es muss ebenso klar sein, dass rassistischer Hass, Folter und Gewalt gegenüber friedlichen Bewohnern nicht weniger verbrecherisch sind, wenn dies unter russischen, imperialen oder Sowjet-Flaggen stattfindet. Und wenn wir überzeugt sind, dass sich in der Südost-Ukraine eine humanitäre Katastrophe ereignet, müssen wir zwar ein Ende der »Anti-Terroristischen Operationen«  und den Beginn von Verhandlungen unter internationaler Kontrolle fordern, nicht jedoch militärische Unterstützung für unsere »Brüder«, die vom rechtsgerichteten, autoritären russischen Regime her kommen.

Und natürlich müssen wir die Frage des Faschismus noch ernsthafter in Verbindung mit Russland diskutieren, denn beides – die Logik der Folgeereignisse in der VR Donezk, wie auch etwa das Beispiel Igor Kolomojskis mit seinen privaten Bataillonen – geben der Bildung von dem klassischen Faschismus ähnelnden Elementen in unserem Land Auftrieb. Es wurde mehr als einmal schon gesagt, dass wir in der nächsten Runde – egal, wie die ganze Geschichte des Donbass enden wird – vermutlich sowohl den Aufstieg mehrerer »Helden der VR Donezk« zur Macht, als auch die Bildung von gewissen Arten paramilitärischer Strukturen aus den Reihen der nach Russland zurückkehrenden Militärs unter der Schirmherrschaft von patriotisch getriebenen großen Geschäftsleuten und Gruppen der Elite sehen werden. Ikonisierte VRD-Leute und ihre neu gewonnenen Anhänger können recht leicht in verschiedenen politischen Konflikten und Repressionen als Beispiele für das »national-patriotische« Wesen des Regimes dienen, im Fall von Krisen an die Front gestellt und im Moment größter Gefahr – mit höchsten Posten bedacht. 

Ganz natürlich und parallel dazu wird »Anti-Liberalismus« gestärkt werden, ohne jedoch vom generell neoliberalen Wirtschaftskurs abzuweichen, dafür aber in Form der verfeinerten Gestalt des »nationalen Verräters« als Buhmann für alle Mitglieder jeglicher Art von Opposition. Einige Menschen der Linken zeigen sich schon bereit, diesen Bemühungen hilfreich die Hand zu reichen: einige einfach aus Hass auf »Liberale«, andere wünschen, für sich in der neuen Situation einen kleinen, aber festen Platz zu finden. Sie werden in die gleiche anti-westliche, »anti-liberale« Sauce hineingeschüttet, wie die Pläne aus konservativem Müll. Schauen wir zum Beispiel auf die Erklärung zur »Widerstandskonferenz von Jalta« auf der Internetseite rabkor.ru:

„Der Kampf mit dem neuen Regime in Kiew ist tatsächlich ein Kampf gegen die EU, nicht lediglich in Form der Herausforderung einer Politik der Zerstörung der Familie und der heterosexuellen Beziehungen, sondern in Form der Herausforderung der ganzen anti-sozialen neoliberalen Wirtschaftspolitik der westlichen Eliten“, bringt es der Leiter des Zentrums für Wirtschaftsforschung (IGSO), Wassili Koltaschow, zum Ausdruck.

Für eine neue Opposition des radikalen Wandels

All jene, die mit diesem aufgeputzten Konsens nicht zufrieden sind, all diejenigen, die wahrlich Demokratie, wahrlich fortschrittlichen sozialen Wandel in Russland wollen, die immer noch hoffen, dass unser Land nicht nur ein netter regionaler Räuber, sondern ein Beispiel für Demokratie, Gerechtigkeit und Bildung für alle werden kann – all die brauchen eine neue Opposition. Damit das aber ermöglicht wird, ist es notwendig – wie schwer es auch immer erscheinen mag – die Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Ukraine beiseite zu legen. Natürlich ist es genauso unmöglich, die Meinungsverschiedenheiten zu denen beiseite zu legen, die sich in all diesen Monaten in ihre Computer verbissen haben und die Anti-Terror-Operationen bei ihren Angriffen auf die »Colorados« (die pro-russischen Aufständischen) unterstützten, wie es unmöglich ist, Meinungsverschiedenheiten zu denen zur Seite zu legen, die hysterisch zu Kampagnen gegen Kiew und Lwow aufgerufen haben, um »Banderismus« und »Ukraine-Faschismus« auszulöschen.

Allerdings können wir völlig mit den Ukrainern sympathisieren, die nicht unter dem jetzigem, zunehmend anti-demokratischen ukrainischen Regime leben wollen. Und wir können vollkommen mit den Ukrainern sympathisieren, die ihren Staat vor jeder Art der russischen Einmischung schützen wollen. Dies ist nicht unser Krieg, doch es kämpfen in ihm – auf beiden Seiten – unsere Menschen, überdies eine Minderheit von ultra-rechten Schlägern, ihre ideologischen und militärischen Anführer, Schirmherren und Aufwiegler in offiziellen TV-Medien. Eine große Zahl von Menschen aus allen Schichten sind vollkommen in der Lage, diese Position zu verstehen und zu teilen, sie sind fähig, dies der Mehrheit zu vermitteln.

Wir benötigen ein Programm des radikalen Wandels, der sich auf die Mehrheit richtet, ein Programm, welches demokratische und soziale Forderungen zusammenführt, ein Programm, das davon ausgeht, dass der Austausch einer Gruppe von Geschäftsleuten durch eine andere »demokratischere« zu überhaupt nichts Gutem führt, ein Programm, das glUkraine Russlandeichzeitig auf Dezentralisierung wie auf Einheit des Landes gerichtet ist. Denn das Beispiel der Ukraine hat einmal mehr jedermann gezeigt, welche Ergebnisse der Traum von »kuscheligen Nationalregierungen« unter unpassenden historischen und kulturellen, Bedingungen hervorbringt.

Wir müssen uns auf Gewerkschaften ausrichten, die jeden Tag um Arbeitsrechte kämpfen, ohne die kein demokratischer Wandel möglich ist.

Wir müssen uns der Intelligenz und jedermann zuwenden, der nicht »abhauen« kann oder das nicht wünscht, der einfach in seinem eigenen Land unter normalen Bedingungen arbeiten will.

Wir müssen uns der Jugend zuwenden, welche früher oder später gegen idiotische konservative Verbote rebellieren wird.

Solche Menschen sind vollkommen in der Lage, eine reale Mehrheit zu bilden, die dem heutigen – tatsächlich euphemistischen – ideologisierten »Für Putin, für Stalin, für die Russische Welt« trotz.

Und wir müssen fordern, dass all jene verurteilt werden, die in all diesen Monaten mit unglaublichem Zynismus die Psychen von Millionen von Fernsehzuschauern manipulieren. Und wir müssen freien Zugang zu den zentralen Fernsehsendern für verschiedene politische Kräfte (außer denen, die ethnische und religiöse Spaltung verbreiten), soziale Bewegungen und Gewerkschaften fordern.

Unser Feind sitzt im Kreml!

Kirill Medvedev ist Musiker und linker Aktivist in Moskau

Quelle: http://www.criticatac.ro/lefteast/peace-fighters-kirill-medvedev-on-the-need-for-a-new-democratic-opposition/ 

Zwischenüberschriften von der Redaktion, www.kommunisten.de  /  Übersetzung: Heribert Thomalla