Daten/Fakten  

   

„Friedensfähig statt erstschlagfähig!“

Neue Kampagne für ein Europa ohne Mittelstreckenwaffen

friedensfaehig statt erstschlagfaehig

Anfang November haben 36 Friedensorganisationen eine Kampagne gegen die Stationierung landgestützter US-Mittelstreckensysteme in Deutschland gestartet. „Die Entscheidung zur Stationierung der Mittelstreckenwaffen in Deutschland ist eine Bedrohung für den Frieden in Europa“, warnen die beteiligten Organisationen.

Bundesregierung und US-Regierung haben angekündigt, ab 2026 landgestützte Marschflugkörper, Hyperschallwaffen und Raketen der Vereinigten Staaten in Deutschland zu stationieren. Diese Waffensysteme können mit einer stark verkürzten Vorwarnzeit strategische Ziele, etwa Atomwaffenstandorte, in Russland treffen, was zu einer erhöhten Alarmbereitschaft in Russland führen kann und das Risiko von Fehlentscheidungen verschärft. Die Stationierung bedeutet somit einen neuen, gefährlichen Schritt im Wettrüsten und eine weitere Eskalationsgefahr. Vor diesem Hintergrund ist es unverantwortlich, dass die Entscheidung ohne eine gesellschaftliche Debatte getroffen wurde, nicht einmal der Bundestag wurde im Vorfeld informiert.

In der nun gestarteten Kampagne unter dem Titel »Friedensfähig statt erstschlagfähig – für ein Europa ohne Mittelstreckenwaffen!« wollen die beteiligten Organisationen über die Risiken aufklären und so die bislang ausbleibende, aber dringend nötige Debatte lostreten. Zudem soll politischer Druck für die Rücknahme der Stationierungsentscheidung aufgebaut bauen.

Anders als bei der sogenannten Nachrüstung in den 80er Jahren, gegen die die Friedensbewegung Millionen auf die Straße brachte, wird das Risiko bei der aktuellen Stationierung nicht von verschiedenen Ländern geteilt. Deutschland ist das einzige europäische NATO-Land, in dem diese Waffen stationiert werden sollen. Somit sind die Menschen in Deutschland alleiniges Ziel eines potenziellen Gegenschlages. Die Aufrüstung wird auch nicht, wie beim NATO-Doppelbeschluss 1979, mit einem Verhandlungsangebot verknüpft. Sie ist im Gegenteil ein Sargnagel für Rüstungskontrolle und Vereinbarungen wie den New START-Vertrag.

Die Entscheidung zur Stationierung der Mittelstreckenwaffen in Deutschland führt uns erneut in das mögliche Szenario eines Atomkriegs in Europa. Stattdessen sollten alle Parteien weiter eskalierende Schritte unterlassen und zur Rüstungskontrolle zurückkehren. Perspektivisch nötig sind Initiativen zur Abrüstung aller Mittelstreckenwaffen in Europa.

Die Forderungen der Kampagne sind im Einzelnen:

• Ein Stopp der geplanten Stationierung neuer US-Mittelstreckensysteme in Deutschland
• Einen Abbruch der Projekte zur Entwicklung eigener, europäischer Hyperschallwaffen und Marschflugkörper, an denen Deutschland sich beteiligen will
• Dialog statt Aufrüstung: Die Wiederaufnahme von Verhandlungen über Rüstungskontrolle und (nukleare) Abrüstung (z.B. für ein multilaterales Folgeabkommen zum INF-Vertrag)
• Neue Initiativen für gemeinsame Sicherheit und Zusammenarbeit und die langfristige Vision einer neuen Friedensordnung in Europa

friedenskooperative

Gründungsmitglieder:
NaturFreunde Deutschlands • Ohne Rüstung Leben • IPPNW Deutschland • Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen • pax christi – deutsche Sektion e.V. • Netzwerk Friedenskooperative • ICAN Deutschland e.V. • Informationsstelle Militarisierung (IMI) e. V. • Naturwissenschaftlerinitiative • Frauennetzwerk für Frieden e. V. • Friedenswerkstatt Mutlangen • Friedensglockengesellschaft Berlin e.V. • Deutscher Friedensrat e.V. • Friedensgruppe Daun • Marburger Bündnis „Nein zum Krieg!“ • Attac Trägerverein e.V. Regionalgruppe Dresden • attac Regionalgruppe untere Saar • Friedensmuseum Nürnberg e.V. • Hiroshima-Nagasaki-Arbeitskreis des Kölner Friedensforums • Friedensinitiative Nottuln e.V. • AG Büchel der deutschen Quäker • Lebenshaus Schwäbische Alb – Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden • Friedensbüro Hannover e.V. • Friedensinitiative Hunsrück • ÖKOPAX e.V- Bildungsbüro für Friedens- und Umweltfragen Würzburg • Hiroshima-Bündnis Hannover • BAG Globalisierung und Krieg • FriedensNetz Saar • Friedens- und Zukunftswerkstatt e.V. • Berliner Mahnwache für das Verbot der Atomwaffen – weltweit! • Darmstädter Friedensforum • Hamburger Forum für Völkerverständigung und weltweite Abrüstung e. V. • Int. Versöhnungsbund, Regionalgruppe Mainz • Martin-Niemöller-Stiftung und Dietrich Bonhoeffer Verein • Friedensforum Neumünster • Frauen wagen Frieden

18.11.2024, Netzwerk Friedenskooperative
Network of the German Peace Movement
www.friedenskooperative.de

Friedenspolitik für die Welt des 21. Jahrhunderts

Ein Diskussionspapier
der Initiative
Nie wieder Krieg – Die Waffen nieder!


 
Unter dem Titel „Friedenspolitik für die Welt des 21. Jahrhunderts“ hat unsere Initiative ein Diskussionspapier veröffentlicht, das ihr hier lesen könnt. Es befasst sich ausführlich mit den Folgen der globalen Umbrüche für eine Friedenspolitik auf der Höhe der Zeit. Das Papier skizziert die Transformation des internationalen Systems und diskutiert Chancen und Risiken einer multipolaren Ordnung sowie die Rolle der EU und Deutschlands in der neuen Weltordnung. Thematisiert werden auch die Zusammenhänge zwischen Krieg und Frieden und den globalen Problemen von Klimawandel, Armut und technologischen Umwälzungen.

Ausführlich geht das Papier auch auf Kontroversen in der Friedensbewegung und in der gesellschaftlichen Linken ein, u.a. die Sicht auf Konflikte in Kategorien von Demokratie versus Autokratie, das Verhältnis von Menschenrechten und nationaler Souveränität oder das zwischen Moral und Realismus. Im letzten Kapitel werden einige grundsätzliche Schlussfolgerungen für eine zeitgemäße Friedensbewegung gezogen.

An der Abfassung des Papiers waren beteiligt: Michael Brie, Erhard Crome, Frank Deppe und Peter Wahl.

Ziel des Papiers ist es, die Diskussion in der Friedensbewegung und der gesellschaftlichen Linken anzustoßen. Es ist geplant, ab Oktober dazu entsprechende Angebote zu machen.
 
Eine englische Fassung des Diskussionspapiers kann hier eingesehen werden:
Peace policy for the world of the 21st century
 

Friedenspolitik für die Welt des 21. Jahrhunderts

Inhalt:

1. Die Umbrüche im internationalen System verstehen

1.1. Die USA bleiben Supermacht
1.2. Supermacht China und die neue Rolle des Globalen Südens
1.3. Der Wiederaufstieg Russlands zur Großmacht
1.4. Die EU in der neuen Weltordnung
1.5. Die deutsche „Zeitenwende“

2. Der zentrale Konflikt auf dem Weg zur multipolaren Weltordnung

2.1. Washington will weiterhin die Weltordnung dominieren
2.2. Atomarer Winter statt Klimaerwärmung?
2.3. Neue US-Atomwaffen gegen Russland auf deutschem Boden
2.4. Demokratie versus Autokratie?

3. Kontroversen in der Friedensbewegung bearbeiten

3.1. Demokratie, Menschenrechte und nationale Souveränität
3.2. Widersprüche zwischen Frieden und Menschenrechten?
3.3. Instrumentalisierung von Menschenrechten provoziert Wagenburgverhalten
3.4. Krieg, Moral und Rationalität

4. Anforderungen an Friedenspolitik auf der Höhe der Zeit

Weiterlesen hier


Oder Original hier: PDF zum Download auf der https://nie-wieder-krieg.org

Friedenspolitik für die Welt des 21. Jahrhunderts

Ein Diskussionspapier
der Initiative
Nie wieder Krieg – Die Waffen nieder!


 
Unter dem Titel „Friedenspolitik für die Welt des 21. Jahrhunderts“ hat unsere Initiative ein Diskussionspapier veröffentlicht, das ihr hier lesen könnt. Es befasst sich ausführlich mit den Folgen der globalen Umbrüche für eine Friedenspolitik auf der Höhe der Zeit. Das Papier skizziert die Transformation des internationalen Systems und diskutiert Chancen und Risiken einer multipolaren Ordnung sowie die Rolle der EU und Deutschlands in der neuen Weltordnung. Thematisiert werden auch die Zusammenhänge zwischen Krieg und Frieden und den globalen Problemen von Klimawandel, Armut und technologischen Umwälzungen.

Ausführlich geht das Papier auch auf Kontroversen in der Friedensbewegung und in der gesellschaftlichen Linken ein, u.a. die Sicht auf Konflikte in Kategorien von Demokratie versus Autokratie, das Verhältnis von Menschenrechten und nationaler Souveränität oder das zwischen Moral und Realismus. Im letzten Kapitel werden einige grundsätzliche Schlussfolgerungen für eine zeitgemäße Friedensbewegung gezogen.

An der Abfassung des Papiers waren beteiligt: Michael Brie, Erhard Crome, Frank Deppe und Peter Wahl.

Ziel des Papiers ist es, die Diskussion in der Friedensbewegung und der gesellschaftlichen Linken anzustoßen. Es ist geplant, ab Oktober dazu entsprechende Angebote zu machen.
 
Eine englische Fassung des Diskussionspapiers kann hier eingesehen werden:
Peace policy for the world of the 21st century
 

Inhalt:

1. Die Umbrüche im internationalen System verstehen

1.1. Die USA bleiben Supermacht
1.2. Supermacht China und die neue Rolle des Globalen Südens
1.3. Der Wiederaufstieg Russlands zur Großmacht
1.4. Die EU in der neuen Weltordnung
1.5. Die deutsche „Zeitenwende“

2. Der zentrale Konflikt auf dem Weg zur multipolaren Weltordnung

2.1. Washington will weiterhin die Weltordnung dominieren
2.2. Atomarer Winter statt Klimaerwärmung?
2.3. Neue US-Atomwaffen gegen Russland auf deutschem Boden
2.4. Demokratie versus Autokratie?

3. Kontroversen in der Friedensbewegung bearbeiten

3.1. Demokratie, Menschenrechte und nationale Souveränität
3.2. Widersprüche zwischen Frieden und Menschenrechten?
3.3. Instrumentalisierung von Menschenrechten provoziert Wagenburgverhalten
3.4. Krieg, Moral und Rationalität

4. Anforderungen an Friedenspolitik auf der Höhe der Zeit

 
Hier als PDF zum Download auf der https://nie-wieder-krieg.org

Friedenspolitik für die Welt des 21. Jahrhunderts

 
Das internationale System befindet sich in einem Umbruch von historischer Tragweite. Die Dominanz der USA geht zu Ende. Eine neue Hegemonialmacht wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Es entsteht eine multipolare Weltordnung. Keine der heute lebenden Generationen kennt ein solches System aus eigener Erfahrung.

Der Umbruch wirft neue Fragen zu Krieg und Frieden auf. So zur Positionierung der Friedensbewegung in der Rivalität der Großmächte, zu Stabilitätsrisiken eines multipolaren Systems, zum Verhältnis von internen Verhältnissen eines Landes und internationalem System sowie zum Zusammenhang von Krieg und Frieden mit den globalen Problemen von Klimawandel, Armut, technologischen Umwälzungen wie Digitalisierung und künstliche Intelligenz. Wir haben es mit einer enorm gesteigerten Komplexität zu tun.

Aufgabe von Friedenspolitik auf der Höhe der Zeit ist es, Antworten auf die neuen Entwicklungen der Weltordnung zu finden und sie strategisch zu verarbeiten.

Der vorliegende Text will zur Diskussion über die Veränderungen der machtpolitischen Struktur und Dynamik des internationalen Systems und die Konsequenzen daraus für Friedenspolitik anregen. [1] Dabei haben wir nicht den Anspruch, die Thematik in all ihren Dimensionen behandelt zu haben. Kommentare, Kritik und Widerspruch sind willkommen. Wichtig ist, dass die Diskussion in Gang kommt.
 

1. Die Umbrüche im internationalen System verstehen

 
Die zentrale Determinante für Struktur und Dynamik des internationalen Systems ist auf absehbare Zukunft seine Transformation zu einem polyzentrischen System. Die Transformation ist unaufhaltsam. Die geopolitische Dominanz der USA und ihrer Verbündeten endet. Sie führt zur „Entwestlichung“ der internationalen Machtverhältnisse. Das ist die eigentliche Zeitenwende. Es entsteht eine Pluralität von geopolitischen Machtzentren, die jedoch unterschiedliches Gewicht haben.
 

1.1. Die USA bleiben Supermacht

 
Die USA bleiben dabei durchaus Supermacht. Sie haben bei allen wesentlichen Machtressourcen – Militär, ökonomisches Potential, Technologie, politischer Einfluss und Soft Power – nach wie vor eine Spitzenstellung. Mit ihren Militärallianzen und über 800 ausländischen Militärstützpunkten, mit ihren Konzernen, dem Dollar als internationaler Währung, ihren Geheimdiensten, Medien, ihrer Kulturindustrie verfügen sie über eine einzigartige Präsenz auf der ganzen Welt. Ein machtpolitisch besonders wichtiges Instrument ist dabei die NATO. Sie wurde von den USA gegründet und steht unter ihrer Führung. Gegen den Willen Washingtons kann in der NATO keine wichtige Frage entschieden werden. Auch im Indo-Pazifik formiert Washington derzeit ein gegen China gerichtetes System von Militärbündnissen.

Die Verfügung über die ganze Bandbreite von Machtressourcen gibt Washington eine Vielfalt von Handlungsoptionen wie sonst keinem anderen Land, und konstituiert in allen Außenbeziehungen – zu Freund wie zu Feind – eine Asymmetrie. Das heißt auch, dass die USA ihre Interessen mehr als jeder andere durch Machtressourcen unterhalb der militärischen Schwelle durchsetzen können, u.a. durch Technologie- und Wirtschaftssanktionen und viele Formen politischen Drucks. Dabei können auch Wirtschaftssanktionen durchaus verheerende und tödliche Wirkungen haben. So starb z.B. nach UN-Angaben infolge des Embargos gegen den Irak 1990-2003 mindestens eine halbe Million Menschen [2]. Entwicklungsländer sind besonders verletzlich. Neben ihren Lieblingsfeinden China, Russland, Iran, Kuba, Nicaragua, Nord-Korea, Venezuela stehen auch ca. 15 Low-Income-Countries auf Washingtons Sanktionsliste. [3] Die Arroganz der Macht wird ganz besonders deutlich, wenn die Sanktionen extraterritorial, d.h. gegen Dritte verhängt werden, wenn diese sich Washington nicht unterwerfen wollen. Selbst die Bundesregierung hält dies für völkerrechtswidrig – zumindest tat sie das bis zur Sprengung von Nord-Stream II.

Die außerordentliche Machtfülle prägt auch die US-Eliten mental. So wie es zum Wesen von Hegemonie gehört, dass jene, die ihrem Einfluss erliegen, sie als das Normale und quasi Naturgegebene wahrnehmen, so ist der globale Führungsanspruch für die politische Klasse in Washington eine Selbstverständlichkeit. Jede Infragestellung wird als Bedrohung aufgenommen. So meint z.B. Ex-Präsident Obama: „Amerika muss auf der Weltbühne immer führen“, … „ich glaube mit jeder Faser meines Wesens an die amerikanische Sonderstellung“ [exceptionalism] [4].

Die Verfügung über Machtressourcen konstituiert die Kräfteverhältnisse im internationalen System und erklärt – zwar nicht ausschließlich, aber zum großen Teil – die Außenpolitik eines Landes.
 

1.2. Supermacht China und die neue Rolle des Globalen Südens

 
Im Zentrum der Umbrüche steht der rasante Aufstieg von Ländern des Globalen Südens, vorneweg Chinas. Dessen atemberaubende Entwicklung vom Entwicklungsland zur Supermacht innerhalb zweier Generationen ist materiell, politisch wie psychologisch eine Provokation westlichen Überlegenheitsdenkens im Allgemeinen und des Dominanzanspruchs der USA im Besonderen.

Von den Machtressourcen her ist China den USA dicht auf den Fersen. Gemessen in Kaufkraftparitäten [5] hat die chinesische Volkswirtschaft die USA sogar bereits überholt [6], auch wenn es beim Wohlstandsindikator ‚Pro-Kopf-Einkommen‘ erst das Niveau von Ländern wie Serbien oder Bulgarien erreicht hat. Militärisch und technologisch ist China inzwischen eine Supermacht, und verfügt mit seinen beispiellosen Entwicklungserfolgen insbesondere im Globalen Süden über beträchtliche Soft-Power.

Indien, inzwischen das bevölkerungsreichste Land der Welt, verfügt nach Kaufkraftparität schon jetzt über die drittgrößte Volkswirtschaft. Auch formuliert die indische Führung offen den Anspruch auf Großmachtstatus. Allerdings ist die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit noch groß, und es dürfte einige Zeit dauern, bis das Land in die erste Reihe der Weltmächte aufrückt.

China und Indien stehen für die neue weltpolitische Bedeutung des Globalen Südens, wo auch Länder wie Indonesien, Brasilien, Südafrika, Saudi-Arabien oder das NATO-Mitglied Türkei eine geopolitisch eigenständigere Rolle zu spielen versuchen. Weitaus mehr als die Bewegung der Blockfreien während des Kalten Kriegs 1.0. ist der Globale Süden heute zu einem machtpolitischen Faktor geworden. Das Scheitern des Westens, ihn im Ukrainekrieg auf seine Seite zu ziehen, ist dafür ein Indikator von vielen. Projekte wie die BRICS oder die Shanghai Cooperation Organization (SCO) wollen „eine demokratischere und gerechte multipolare Welt auf der Grundlage des Völkerrechts, der Gleichheit, des gegenseitigen Respekts, der Zusammenarbeit, des gemeinsamen Handelns und kollektiver Entscheidungen aller Staaten“. [7] Demnach geht es also nicht darum, den einen Hegemon durch einen anderen zu ersetzen, sondern das Prinzip der Hegemonie selbst in Frage zu stellen.

D.h. die Selbstorganisation des Südens richtet sich objektiv in erster Linie gegen die Vorherrschaft der USA und deren Gefolge. Das ist das eigentlich Verbindende. Ansonsten ist der Globale Süden keine homogene Interessengruppe. In einigen Fällen gab es sogar bewaffnete Konflikte untereinander, so zwischen China und Indien, zwischen Pakistan und Indien, oder Armenien und Aserbaidschan.
 

1.3. Der Wiederaufstieg Russlands zur Großmacht

 
Russland war nach der Niederlage im Kalten Krieg 1.0. auch als Weltmacht am Ende. Die Versuche, sich nach 1991 dem Westen anzunähern – auch noch zu Beginn der Ära Putin – ohne sich zugleich der US-Hegemonie unterzuordnen, sind gescheitert. Die entscheidende Rolle spielte dabei, dass die USA von Anfang an die Entstehung einer engeren Bindung zwischen EU bzw. wichtigen Mitgliedsländern und Russland blockiert haben. Das wichtigste Instrument war dabei die NATO-Osterweiterung. Sie war zwar ein Bruch mit dem Prinzip der ungeteilten, gemeinsamen Sicherheit, entspricht aber einem Essential der außenpolitischen Doktrin Washingtons: „die Entstehung eines Hegemons in Eurasien“ unbedingt zu verhindern [8].

In den 2000er Jahren begann nicht nur eine Konsolidierung im Inneren, sondern mit der Modernisierung der russischen Nuklearstreitkräfte auch der Wiederaufstieg als Großmacht. Auf dem Sektor der strategischen Atomwaffen hat das Land Supermachtstatus. D.h. es besteht ein strategisches Gleichgewicht (des Schreckens) mit den USA. Selbst bei einem nuklearen Erstangriff der USA, würde Moskau mit seiner Zweitschlagskapazität die USA noch in Schutt und Asche legen können.

Das ist für die US-Eliten nur schwer zu ertragen. Es gibt daher immer wieder Diskussionen, über einen Enthauptungsschlag, mit dem die russische Zweitschlagsfähigkeit ausgeschaltet werden könnte. Die Osterweiterung der NATO und insbesondere die potentielle Aufnahme der Ukraine wird von Moskau als Möglichkeit dazu wahrgenommen. Als Bedrohungsszenario ist dies Bestandteil der russischen Militärdoktrin. Bereits ohne Krieg wäre die Enthauptungsfähigkeit ein gewaltiges Druckmittel, um Wohlverhalten zu erzwingen. Das meinte Putin in seiner Rede zur Rechtfertigung des Einmarschs in die Ukraine: „Tomahawk-Marschflugkörper bräuchten weniger als 35 Minuten, um Moskau zu erreichen, 7 bis 8 Minuten für ballistische Raketen aus der Region Charkow und 4 bis 5 Minuten für Hyperschallraketen. Das nennt man, das Messer an der Kehle zu haben.“ [9]

Bei allen anderen Machtressourcen, angefangen beim konventionellen Militär, ist Russland den USA weit unterlegen. Allerdings sollte daraus nicht die Unterschätzung folgen, wie sie in dem Spruch Helmut Schmidts vom „Burkina Faso mit Atomraketen“ zum Ausdruck kommt. In Kaufkraftparitäten liegt der russische Kapitalismus im globalen Ranking des IWF auf Platz sechs hinter Japan und Deutschland, und klar vor Großbritannien (Rang 9) und Frankreich (Rang 10). Es ist bezeichnend, dass in den großen Medien das Ranking nach KKP selten vorkommt. Aber selbst nach Wechselkursparität belegt Russland immerhin noch Platz 11 (2023) – Tendenz steigend. Auch die Fehleinschätzungen bei der Wirkung von Sanktionen ist typisches Beispiel für die notorische Unterschätzung Russlands. Die vollmundige Ankündigung der deutschen Außenministerin, das Land zu ruinieren, erwiesen sich als dünkelhafte Illusion.

Inzwischen ist es zu einer weitgehenden wirtschaftlichen Abkopplung vom Westen gekommen. Moskau hat die Abwendung vom Westen zum strategischen Ziel seiner außenpolitischen Orientierung gemacht. [10] Sie begann schon vor dem Ukrainekrieg und hat sich seit 2022 enorm beschleunigt.

Mit China ist eine strategische Allianz auf der Grundlage komplementärer Interessen entstanden. Russland profitiert von der überlegenen Wirtschaftskraft und dem technologischen Knowhow Chinas. Peking ist umgekehrt in der Konfrontation mit den USA daran interessiert, an der 4.000 km langen gemeinsamen Grenze einen strategischen Partner, innenpolitisch stabilen Nachbarn und Lieferanten wichtiger Rohstoffe zu haben.
 

1.4. Die EU in der neuen Weltordnung

 
Im Jahr 1900 stellte Europa fast ein Viertel der Weltbevölkerung. Gegenwärtig sind es für die EU noch 5,5%, die bis 2050 auf 4,5% sinken werden. Schon jetzt hat sich der Schwerpunkt der Weltwirtschaft vom transatlantischen Raum nach Ostasien verlagert. Für 2050 wird ein Schrumpfen des EU-Anteils am globalen BIP von derzeit 14% auf 9% prognostiziert. [11] 1980 waren es noch über 20%.

In einer multipolaren Weltordnung möchte die EU eigenständiger Pol sein, auf Augenhöhe mit den USA und China. Dazu sollen alle Politikfelder in den Dienst der geopolitischen Ambitionen gestellt werden: Klima, Energie- und Rohstoffe, Wirtschaft, Technologie, Medien etc. In Worten des Strategischen Kompasses heißt es, „die volle Bandbreite der EU-Politik und ihre Hebel als Machtinstrumente zu nutzen.“ [12] Auch die Erweiterungspolitik wird zum geopolitischen Machterwerb genutzt.

Bei der EU ist jedoch der Unterschied zwischen Wollen und Können besonders groß. Sie ist kein Staat, sondern ein Hybrid aus Staatenallianz und supranationalen Elementen von Staatlichkeit. Mit dieser komplizierten Konstruktion verfügt sie über deutlich weniger Handlungsfähigkeit als ein klassischer Staat. Akut setzen Wachstumsschwäche und Verluste bei Wettbewerbsfähigkeit und Spitzentechnologien die EU enorm unter Druck, während die internen Widersprüche und zentrifugalen Tendenzen zunehmen, wie u.a. die Wahlen zum EU-Parlament 2024 zeigten.

Hinzu kommt, dass die NATO einer geopolitischen Eigenständigkeit der EU enge Grenzen setzt. Das führt in den Essentials internationaler Politik zur Unterordnung unter die USA.

Von einigen Mitgliedsländern, vor allem im Osten, ist das so gewollt. Sie vertrauen den USA mehr als den EU-Führungsmächten Frankreich und Deutschland. Selbst mit Trump würde sich an der Unterordnung unter die USA nichts grundsätzlich ändern. Er will vor allem NATO-Europa stärker an den Kosten für die Sicherung der US-Hegemonie beteiligen und die Lasten des Ukrainekriegs abwälzen. Solange die NATO existiert, dürfte der Wunsch der EU nach autonomem Weltmachtstatus unerfüllt bleiben.

Vor diesem Hintergrund ist die Kontroverse um ‚strategische Autonomie‘ und ‚Transatlantismus‘ Ausdruck von Abstiegsängsten: „Die nächsten Jahrzehnte werden diesen Kontinent grundlegend herausfordern, … ich fürchte wir werden außenpolitisch ein Zwerg bleiben, wenn wir nicht aus der Einstimmigkeit herauskommen“ [13], so Manfred Weber, Fraktionschef der Konservativen EVP im EU-Parlament (EP). Nach 500 Jahren Kolonialismus, Imperialismus und Neokolonialismus Europas ist das eine schwere Kränkung für das Selbstwertgefühl der Funktionseliten und ihr Überlegenheitsdenken. So heißt es schon 2016 in einer Resolution des EU-Parlaments „dass die EU ihre Sicherheits- und Verteidigungsfähigkeiten stärken muss, da sie ihr volles Potenzial als Weltmacht nur nutzen kann, wenn sie ihre einzigartige ‚Soft Power‘ im Rahmen eines umfassenden EU-Ansatzes mit ‚Hard Power‘ kombiniert“ [14].

In solchen Formulierungen schimmert Panik vor dem Abstieg durch. Sie ist ein starker Treiber für die Militarisierung und den Bellizismus. Symptomatisch dafür ist die Resolution des neuen Europaparlaments zur Ukraine vom Juli 2024, die vom Geist militaristischer Durchhalteparolen durchtränkt ist, während das völkerrechtliche Gebot zu Diplomatie und Verhandlungen nicht vorkommen. [15] Dazu passt auch die Nominierung von Kaja Kallas, einer fanatischen Russenhasserin, als Außenbeauftragte.
 

1.5. Die deutsche „Zeitenwende“

 
Abstiegsängste treiben auch die deutschen Funktionseliten um. So erklärte Bundespräsident Steinmeier „Selbstbehauptung“ zur Aufgabe unserer Zeit, denn es kämen „raue, härtere Jahre“ [16].

In der Tat ist Deutschland von Niedergangstendenzen auf verschiedenen Gebieten erfasst. Die Wirtschaft steht vor einschneidenden Strukturanpassungen, von denen nicht sicher ist, ob sie gelingen. Die Dekarbonisierung, an sich sinnvoll und notwendig, aber ohne kohärentes Konzept, die Abkopplung von russischem Erdgas und damit von einem jahrzehntelangen Wettbewerbsvorteil, die Wettbewerbsstärke Chinas, Hinterherhinken bei Digitalisierung, Verfallserscheinungen bei der Infrastruktur, Inflation und sinkende Reallöhne – all das bedroht die Zukunft des deutschen Wirtschafts- und Sozialsystems.

Ökonomische Stärke war aber bisher das Fundament für Deutschlands Rolle in der EU und für eine gewisse Weltgeltung. Da dieses Fundament zu bröckeln beginnt, soll jetzt die Machtressource Militär herangezogen werden, um dem geopolitischen Bedeutungsverlust zu entkommen.

Dabei geht es nicht nur um die militärische Hardware. Auch mental wird mit der Entmottung des alten Feindbildes von der Gefahr aus dem Osten und mit unverhohlener Geschichtsklitterung aufgerüstet. Die öffentlich-rechtlichen und andere große Medien sind dabei zu staatstragenden Echokammern des neuen Bellizismus geworden.

Zugleich wird damit implizit anerkannt, dass die EU als militärischer Faktor nur unzulänglich in Frage kommt. Deshalb setzt man jetzt parallel dazu auf die nationalstaatliche Karte. Das hat zudem den Vorteil, in der Rivalität um die Führung in der EU gegenüber Frankreich an Gewicht zu gewinnen.

Allerdings verfügt Paris mit der Atombombe und dem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat über einen Trumpf, der für Berlin unerreichbar ist. Das versucht Macron zu nutzen, indem er die Force de frappe als Ersatz für die atomare Präsenz der USA offeriert. Das würde ein Stück strategischer Autonomie bieten, aber zugleich französische Hegemonie in der EU begründen. Das wollen weder Berlin noch die Mitgliedsstaaten im Osten. Sie ziehen die transatlantische Option vor.

Damit verschiebt sich das machtpolitische Gravitationszentrum der EU von Westeuropa nach Osten. Polen und das Baltikum verstehen sich als Frontstaaten und leiten daraus den Anspruch auf mehr Einfluss ab. Die Position Deutschlands in der EU ist dank seiner geografischen Mittellage, seiner starken wirtschaftlichen Präsenz in den östlichen Mitgliedsländern und seiner „Zeitenwende“ gestärkt worden, während die deutsch-französische Achse an Bedeutung verliert. Prompt wird in Berlin offen ein Führungsanspruch erhoben, so u.a. vom Ko-Vorsitzenden der SPD, Klingbeil: „Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben. Nach knapp 80 Jahren der Zurückhaltung hat Deutschland heute eine neue Rolle im internationalen Koordinatensystem.“ [17] Dieser Führungsanspruch bezieht sich allerdings nur auf die EU und stellt die Unterordnung unter die Hegemonie der USA nicht in Frage.

Das wird auch nach dem Ukrainekrieg so bleiben. Wie immer er ausgeht, die Konfrontation mit Russland wird für lange Zeit bleiben und einen neuen „Eisernen Vorhang“ durch den Kontinent ziehen.

Innenpolitisch heißt „Zeitenwende“, dass die unteren Klassen die Kosten tragen müssen. Schon jetzt kommt es zur Umverteilung vom Sozialen zum Militär, während die Profite der Rüstungsindustrie immer neue Höhen erreichen.

Und – wie immer in solchen Fällen – gehört auch die Demokratie zu den Verlierern. Gesinnungstreuer Konformismus wird eingefordert. Was früher der vaterlandslose Geselle oder Verräter war, ist heute der Putinversteher und Lumpenpazifist, während Heldenkitsch, Kriegsfähigkeit und der Kult des Kämpfers wieder hoffähig werden. Nach dem Vorbild der Unterstützung für Israel wird inzwischen auch das Bekenntnis zu NATO und Aufrüstung de facto zur „Staatsraison“ erhoben. Wer dabei nicht mitmacht, riskiert aus dem zulässigen Diskurs ausgegrenzt zu werden.
 

2. Der zentrale Konflikt auf dem Weg zur multipolaren Weltordnung

 
Eine multipolare Weltordnung ist ein Schritt zur Pluralisierung der internationalen Beziehungen und zu realem Multilateralismus. Sie erweitert für aufsteigende Länder die Teilhabe an Entscheidungen über die Entwicklung des internationalen Systems. Zugleich erhöht sich die Handlungsmacht mittlerer und kleinerer Länder. Es entstehen Spielräume, wenn gleichzeitige oder wechselnde Kooperationen mit verschiedenen Großmächten möglich werden. ‚Multivektorielle Außenpolitik‘ ist das Stichwort dafür.

Auf dem Papier existiert das zwar alles bereits in der UN-Charta, u.a. im Prinzip der souveränen Gleichheit aller Staaten sowie dem Verbot der Einmischung in innere Angelegenheiten. Die machtpolitische Funktionsweise des internationalen Systems hat dies in der Praxis immer wieder ignoriert.

Der Umbruch birgt freilich auch beträchtliche Risiken. Historisch haben Änderungen der Hegemonialordnung oft zu Krieg geführt. Eine Harvard-Studie hat 16 solcher Fälle in der Weltgeschichte untersucht. In zwölf davon kam es zum Krieg, darunter die beiden Weltkriege. [18]

Aber auch ohne Krieg kann Multipolarität leicht zur Zunahme von Konkurrenz, Spannungen, Instabilität und Unberechenbarkeit führen. Kernproblem ist dabei, dass die etablierte Hegemonialmacht nicht bereit ist, ihre Vormachtstellung aufzugeben und sich friedlich in die neue Ordnung einzufügen.

Anders als bei früheren Umbrüchen dieser Art ist neu, dass der geopolitische Wandel mit menschheitsgeschichtlich einmaligen Risiken durch Klima- und andere Umweltprobleme zusammenfällt, deren Lösung globale Kooperation eigentlich zwingend erforderlich macht.
 

2.1. Washington will weiterhin die Weltordnung dominieren

 
Die USA sind nicht bereit, ihre Vorherrschaft aufzugeben. So heißt es in der offiziellen Sicherheitsstrategie der Biden Administration: „Es gibt kein Land das besser geeignet wäre mit Stärke und Entschiedenheit zu führen als die Vereinigten Staaten von Amerika“. [19] Das ist nicht nur Anspruch, sondern Washington versucht dies Tag für Tag in Praxis umzusetzen. Und das nicht erst seit heute. Bereits 1992 wurde erklärt, zukünftig nie wieder einen Rivalen, wie es die Sowjetunion war, hochkommen zu lassen: „Unser erstes Ziel ist, das Wiederauftreten eines neuen Rivalen auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion oder woanders zu verhindern“ hieß es in der sog. Wolfowitz-Doktrin. [20] Und schon vor dem Ukrainekrieg wurden in zahlreichen offiziellen Dokumenten die Hauptfeinde explizit markiert: „China und Russland sind die wichtigsten Bedrohungen für eine Ära von Frieden und Wohlstand in der Welt“, heißt es z.B. in der Militärdoktrin der US-Kriegsmarine von 2020 [21].

Man kann daher das internationale System nicht ohne das Agieren seines mächtigsten Akteurs verstehen. Mit Anti-Amerikanismus hat das nichts zu tun.

Wenn China und Russland zu den Hauptfeinden erklärt werden, kann es nicht verwundern, dass die ihrerseits zur Lagerbildung gedrängt werden, wenngleich vor allem China versucht, einer Blockbildung durch plurale Netzwerke zu entgehen. Die massiven Sanktionen gegen China vor allem im Hightech-Bereich sollen ein Gleichziehen mit den USA oder gar Überholen verhindern. Die Spannungen um Taiwan eskalieren. Zugleich nutzen die USA ihr Potential zur Lagerbildung im Indo-Pazifik mit Japan, Australien, Südkorea und den Philippinen. Auch Indien soll ins US-Lager gezogen werden – auch wenn die Aussichten dafür eher gering sind.

Russland gegenüber wurde der Ukrainekrieg zum Stellvertreterkrieg transformiert. Kriegsziel ist dabei erklärtermaßen die maximale Schwächung Russlands, ökonomisch wie militärisch, verbunden mit der Hoffnung auf einen Regimewechsel in Moskau. Allerdings hindert die Fortsetzung dieses Krieges die USA daran, sich voll auf den Kampf gegen China zu konzentrieren.

Zur Durchsetzung seines Hegemonialanspruchs gegenüber Peking und Moskau greift Washington in erster Linie auf den Einsatz seiner militärischen, technologischen und wirtschaftlichen Machtinstrumente zurück, während ein Interessenausgleich durch politische Konfliktlösung, Verhandlungen und Diplomatie ausgeschlossen bleiben.
 

2.2. Atomarer Winter statt Klimaerwärmung?

 
Mit der Atombombe existiert zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte eine Waffe, mit der die Gattung des homo sapiens ausgerottet werden kann. Zwar gab es unter dem Schock der Kuba-Krise Verträge zur Rüstungskontrolle, die mit dem Gleichgewicht des Schreckens eine gewisse Stabilität und Entspannung ermöglichten. Doch inzwischen haben wir wieder eine brandgefährliche Situation: die Verträge sind gekündigt, beginnend bereits 2001 mit der Kündigung des ABM-Vertrages durch die Bush-Administration, und es gibt neue, völlig unregulierte Technologien, deren militärische Anwendung unkalkulierbare Risiken erzeugen, darunter ein Kriegsausbruch aufgrund technischer Fehler.

Die Konfrontation findet nicht mehr nur zu Lande, zu Wasser und in der Luft statt, sondern auch im Weltraum und im Cyberspace. Das erhöht zusätzlich das Misstrauen zwischen den Konfliktparteien und führt zu noch mehr Instabilität. Je weiter die Eskalation getrieben wird, umso wahrscheinlicher ist irgendwann ein Kontrollverlust. Die ukrainischen Angriffe auf das russische Atomwaffenradar zur Früherkennung anfliegender Nuklearwaffen verweisen auf dieses Risiko.

Wenn es nicht bald zu Verhandlungen wenigstens über Rüstungskontrolle kommt, könnte der Welt statt der Klimaerwärmung ein atomarer Winter drohen.

Die heißen Kriege in der Ukraine und in Nahost absorbieren schon jetzt große materielle und politische Ressourcen und fesseln die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Dafür treten die Klima- und Umweltkrisen in den Hintergrund. Der Ukraine-Krieg verursachte in den zwölf Monaten 2023 einen CO2-Ausstoß von etwa 120 Millionen Tonnen, was etwa dem Ausstoß eines Landes wie Belgien entspricht [22]. Die Treibhausgasemissionen durch das Militär werden weltweit auf mindestens 1.644 und bis zu 3.484 Millionen Tonnen im Jahr geschätzt. Das sind 3,3 bis 7,0 Prozent der globalen Emissionen. [23] Und zwar im laufenden militärischen Betrieb, ohne die derzeitigen Kriege. Das ist in etwa der Ausstoß eines Landes wie Russland oder Indien. In die Zahlenwerke, die dem Kyoto-Protokoll 1997 und dem Pariser Abkommen 2015 zugrunde liegen, wurden die militärischen Belastungen absichtlich nicht aufgenommen.
 

2.3. Neue US-Atomwaffen gegen Russland auf deutschem Boden

 
Angesichts der vielen Zuspitzungen ist der Beschluss der USA, Marschflugkörper vom Typ Tomahawk, Mittelstreckenraketen SM-6 und die Hyperschallwaffe Dark Eagle ab 2026 auf deutschem Boden zu stationieren, eine neue Qualität der Eskalation. Tomahawk und Dark Eagle sind sowohl konventionell als auch nuklear bestückbar und können Ziele im gesamten europäischen Teil Russlands angreifen, während die Vorwarnzeit im Vergleich zu den in Büchel dislozierten Kampfbombern der sog. atomaren Teilhabe drastisch schrumpft.

Einmal mehr handelt es sich hier um eine US-Maßnahme auf dem Territorium eines Drittstaates, die von Moskau nicht symmetrisch beantwortet werden kann, z.B. durch Raketenstationierungen vor der Haustür Washingtons, wie die Sowjetunion das 1962 in Kuba als Antwort auf US-Raketen in der Türkei tat. Die Stationierung verschiebt das strategische Gleichgewicht zugunsten der USA.

Und sie wird in der Logik von Abschreckung und Gegenabschreckung zu russischen Maßnahmen führen, die Deutschland zum bevorzugten Ziel russischer Raketen machen. Mit der unterwürfigen Hinnahme der bereits seit 2021 geplanten Stationierung setzt die Bundesregierung das Land einer neuen atomarer Gefährdung aus – während Washington 8.000 km weit vom Schuss ist.

Offiziell begründet wird die Stationierung mit der Behauptung einer ‚Sicherheitslücke‘, da Russland seit 2018 Mittelstreckenraketen vom Typ Iskander in seiner Exklave Kaliningrad mit einer Reichweite über 500 km aufgestellt habe. Das sei ein Bruch des INF-Vertrages. [24] Moskau behauptet, die Raketen hätten dagegen nur eine Reichweite von 480 km und wären damit vertragskonform.

In der Auseinandersetzung unterschlägt die Bundesregierung zum einen, dass die USA schon 2016 in Rumänien und 2018 in Polen das Raketenabwehrsystem AEGIS/SM-3 installierten. [25] Moskau betrachtet das als Beeinträchtigung des strategischen Gleichgewichts. Zum anderen ging Washington auf den russischen Vorschlag einer gegenseitigen Verifikation von Iskander und AEGIS/SM-3 nicht ein.

An dem Verlauf der Schuldzuweisungen wird die Logik der Abschreckung kenntlich: die eigenen Absichten werden verschleiert, was mit dem hochtrabenden Begriff „strategische Ambiguität“ auch noch zu rationaler Politik deklariert wird, und der Gegner soll in Angst versetzt werden, während die eigene Aufrüstung als reine Verteidigungsmaßnahme etikettiert wird. Heraus kommen die Zunahme der Spannungen und Unsicherheit auf beiden Seiten.
 

2.4. Demokratie versus Autokratie?

 
Ideologisch rechtfertigt der Westen die Konfrontationspolitik mit der Konstruktion „Demokratie versus Autokratie“. Mit der Anrufung von ‚Werten‘ soll eine post-heroisch eingestellte Bevölkerung wieder zu Kriegsbereitschaft motiviert werden. Notwendig ist dafür das seit ewigen Zeiten praktizierte Verfahren, die Gegenseite als das schlechthin Böse darzustellen. „Es geht um den Unterschied zwischen Gut und Böse“ so Nikki Haley, ehemalige UNO-Botschafterin der USA, stellvertretend für viele. [26]

Wenn man genauer hinschaut, entlarvt sich die scheinbar hochmoralische Einteilung der Welt in Gut und Böse jedoch als Doppelmoral. So heißt es in der o.g. US-Sicherheitsstrategie: „Die dringendste strategische Herausforderung für unsere Vision geht von Mächten aus, die autoritäres Regieren mit einer revisionistischen Außenpolitik verbinden.“ Daneben wird eine andere Kategorie von Autokratien eingeführt: „Viele Nicht-Demokratien schließen sich den Demokratien der Welt an, um diesen [revisionistischen] Verhaltensweisen abzuschwören.“ [27] Es geht also nicht um Autokratie als solche, sondern um das, was Washington zum ‚Revisionismus‘ erklärt, d.h. die Ablehnung der US-Dominanz. Man kreiert zwei Sorten von Autokratie: die revisionistischen in Peking und Moskau und die nichtrevisionistischen, die als Partner akzeptiert werden. Auch Lars Klingbeil ist Anhänger solcher doppelten Standards: „Es ist klar, dass wir dabei auch mit Ländern zusammenarbeiten müssen, die nicht unsere Werte teilen oder sogar unsere Gesellschaftsordnung ablehnen.“ [28]

Der zentrale Widerspruch im internationalen System ist keineswegs der zwischen Auto- und Demokratie, sondern der zwischen dem Eintreten für eine nichthegemoniale, multipolare Weltordnung auf der einen, und dem Versuch der Aufrechterhaltung von US/westlicher Dominanz auf der anderen Seite.

Die politische Funktion des Narrativs vom Widerspruch zwischen Auto- und Demokratie besteht darin, das schon in der Antike verkündete Dogma „Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor!“ plausibel zu machen. Dabei wird aber dessen grundlegender Defekt unterschlagen, nämlich dass die Gegenseite genauso denkt, und die Konfliktspirale auf diese Weise immer wieder angetrieben wird. Das o.g. Beispiel der Mittelstreckenwaffen zeigt die praktischen Folgen.

Im Unterschied zu Interessenskonflikten kann es in moralischen Konflikten keine Kompromisse geben. Sie ähneln darin Glaubenskriegen Es sei denn, man einigt sich – wie schon im Augsburger Religionsfrieden 1555 – auf die friedliche Koexistenz unterschiedlicher Bekenntnisse. Ein ideologischer Konflikt zwischen Demokratie und Autoritarismus stimuliert eine Eskalationsspirale mit Konfrontation, Wettrüsten und Kaltem Krieg – bis es zum Kontrollverlust, dem heißen Krieg, kommt.
 

3. Kontroversen in der Friedensbewegung bearbeiten

 
Das Narrativ von Auto- versus Demokratie besitzt bis in Teile der Friedensbewegung und der gesellschaftlichen Linken hinein einige Attraktivität. Dem liegt eine ursprünglich emanzipatorische Intention zugrunde: die Verdammten dieser Erde zu befreien. Schon die Gründung von „Schwesterrepubliken“ durch französische Revolutionstruppen im 18. Jahrhundert hatte dieses Motiv. [29] Affinität zu diesem Verständnis von Internationalismus – z.B. in der Kommunistischen Internationale in ihren ersten Jahren und ihrem Ziel der Weltrevolution [30] oder Che Guevaras Revolutionsversuch in Bolivien – ist unübersehbar. Allerdings kann außenpolitischer Messianismus von links unter Bedingungen von Konflikt und Spannungen im internationalen System höchst gefährlich werden, insbesondere wenn er mit dem ‚liberalen Internationalismus‘ konvergiert, mit dem der Westen gern eine aggressive Außenpolitik rechtfertigt.
 

3.1. Demokratie, Menschenrechte und nationale Souveränität

 
Ohnehin ist ein Großbegriff wie Demokratie immer umstritten, auch innerhalb der Friedensbewegung. Und es ist fraglich, ob je ein Konsens darüber zu erreichen ist. Erst recht, wenn es sich um die internen Verhältnisse eines anderen Landes handelt. Das ist auch nicht notwendig, wenn man die UN-Charta zur Souveränität und Nichteinmischung in die inneren Verhältnisse (insbes. Art. I, Abs. 2, Art. II, Abs. 1 und Abs. 7) respektiert. Die Charta beruht ja gerade auf der Einsicht, dass angesichts unterschiedlicher Kulturen, Wertesysteme und politischer Ordnungen heilloses Chaos und Zerstörung entstünde, wenn jedes Land seine eigenen Vorstellungen anderen aufdrängen oder gar mit Gewalt aufzwingen wollte.

Ähnliches gilt für Menschenrechte, wenn der Begriff als Kampfbegriff für geopolitische Interessen in Dienst genommen wird. Universalität der Menschenrechte bedeutet die Verpflichtung aller Mitgliedsstaaten, die Menschenrechte im eigenen Land zu verwirklichen (UN-Charta Art. I, Abs.3). Dazu gehören auch die sozialen Menschenrechte, die auch vom Westen gern ausgeblendet werden. Sie ist aber keine Lizenz für Regime-Change von außen, oder gar für einen Angriffskrieg der NATO, wie z.B. 1999 gegen Jugoslawien, als der deutsche Außenminister meinte, man müsse „ein neues Auschwitz verhindern“. Auch Moskaus Rechtfertigung für den Einmarsch in die Ukraine, das Land vom Faschismus zu befreien, gehört in die Kategorie unilateraler Anmaßung zur Intervention in ein anderes Land.

Nur für extreme Fälle wie Völkermord sieht die UN-Charta (Art. VII) genau definierte Ausnahmen vor. Demnach kann nur der UN-Sicherheitsrat die Befugnis zur Gewaltanwendung gegen ein Land erteilen. Das betrifft auch die sog. Responsibility to Protect, die in den Nullerjahren, als die westliche Hegemonie noch ungebrochen schien, Konjunktur hatte. [31] Die Hürden für Eingriffe sind sehr hoch, nicht zuletzt durch Blockaden im Sicherheitsrat. Das wird bei russischen Vetos immer lauthals beklagt. Anders dagegen bei US-Vetos, wenn es um Israel geht. Allerdings zeigt die Entscheidung für einen Waffenstillstand in Gaza vom 10. Juni 2024, dass es auch anders geht; auch wenn der Beschluss von Israel – mit westlicher Duldung – ebenso wenig umgesetzt wurde, wie die Resolutionen der Vollversammlung zu vielen anderen Konflikten.

In Deutschland gibt es politische Strömungen, die ein sehr distanziertes Verhältnis zu nationaler Souveränität und dem Gebot der Nichteinmischung haben. Sie berufen sich dabei auf die Erfahrungen mit dem exzessiven Nationalismus der deutschen Geschichte – und sind insofern typisch deutsch. Der hohe Stellenwert von Souveränität und Nichteinmischung im Völkerrecht ist aber Reaktion auf die lange Geschichte der Unterwerfung und Ausbeutung fremder Länder im Kolonialismus, Imperialismus und Neokolonialismus. Das vergisst man im Globalen Süden nicht.

Zudem reagiert gerade der Westen selbst extrem empfindlich, wenn er glaubt, andere Länder würden sich in seine inneren Verhältnisse einmischen. Allerdings ist bei der allfälligen Empörung über tatsächliche oder angebliche Desinformation und Cyberattacken aus Russland und China oft schwer zwischen Fakt und Fake, zwischen Realität, Propaganda und Verschwörungstheorie zu unterscheiden.
 

3.2. Widersprüche zwischen Frieden und Menschenrechten?

 
Die ideologische Aufladung zwischenstaatlicher Beziehungen mit unilateralen Wertorientierungen führt dazu, dass von fundamentalistischen Gegensätzen ausgegangen und nach Strategien gesucht wird, den jeweils anderen einzudämmen oder ganz auszuschalten.

Natürlich ist die Steinigung von Ehebrecherinnen in Saudi-Arabien, die Theokratie der Mullahs und der Taliban, die Diskriminierung religiöser, ethnischer, politischer u.a. Minderheiten in vielen Teilen der Welt – darunter auch im Westen – schwer zu ertragen. Kritik und Protest aus der Zivilgesellschaft ist selbstverständlich legitim. Auch für die Friedensbewegung bleibt internationalistische Solidarität mit Pazifisten, Kriegsdienstverweigerern u.a. Kriegsgegnern, die Repressionen und Verfolgung ausgesetzt sind, auf der Tagesordnung. Allerdings muss sie sich dabei klar von geopolitischer Instrumentalisierung von Menschenrechten durch Regierungen oder militaristischen Kräften abgrenzen.

Zudem ist Friedenspolitik per se auch Menschenrechtspolitik, denn die unmenschliche Brutalität des Krieges, die Toten, Verstümmelten, Traumatisierten, die Kriegsverbrechen sowie die sozialen und politischen Folgen von Zerstörung und Hass sind schwerste Verletzung der Menschenrechte.

Oft sind Menschenrechtsfragen mit dem Recht auf Selbstbestimmung von Minderheiten verknüpft, vor allem, wenn die Minderheiten Diskriminierungen ausgesetzt sind. Wenn diese dann staatliche Unabhängigkeit anstreben, entstehen scharfe Konflikte, in denen das Recht auf Selbstbestimmung in Widerspruch zum Recht auf territoriale Integrität des Mehrheitsstaates gerät. Spektakuläre Beispiele sind Kurdistan, Kosovo, die Kriege zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach, Nord-Zypern oder die Westsahara, aber auch Katalonien oder Schottland. Und natürlich die Taiwan- und die Palästinafrage. Auch in der Ukraine ist das Selbstbestimmungsrecht der Bewohner der Krim und des Donbass eine wichtige Komponente des Konflikts. Zusätzliche Brisanz gewinnen solche Konflikte, wenn sie Teil geopolitischer Einmischung von ausländischen Mächten und entsprechend instrumentalisiert werden.
 

3.3. Instrumentalisierung von Menschenrechten provoziert Wagenburgverhalten

 
Die geopolitische Instrumentalisierung von Demokratie und Menschenrechten erzeugt permanent Spannungen im internationalen System. Ein Klima der Konfrontation führt aber auch dazu, dass Autoritarismus und Repression in einem Land, das sich bedroht fühlt, entstehen, bzw. dort wo sie bereits existieren, sich weiter verstärken. Es tritt das Wagenburg-Phänomen ein, d.h. Abwehrhaltung nach außen führt auch immer zu Konformitätsdruck nach innen.

Das gilt für alle Seiten. Das Verbot russischer Sender und Zeitungen durch die EU und die Cancel Culture gegen alles Russische, oder auch die deutsche „Staatsraison“ im Gaza-Krieg haben zwar noch nicht das Ausmaß an Autoritarismus wie in der Ukraine und Russland erreicht, aber grundsätzlich greift hier die gleiche Logik der Wagenburg.

Eine neue Dimension entsteht dabei durch das Internet und die Integration des Cyberspace in die Konfrontation. Auch hier sind die USA führend. Ihr Geheimdienstsystem – 18 Institutionen mit über 800.000 Mitarbeitern – verfügte amtlichen Angaben zufolge 2023 über ein Budget von 99,6 Mrd. Dollar, wovon 27,9 Mrd. auf den militärischen Bereich entfielen. [32] Zum Vergleich: die russischen Militärausgaben betrugen 2023, dem zweiten Kriegsjahr in der Ukraine, insgesamt 109 Mrd. Dollar. [33]
 

3.4. Krieg, Moral und Rationalität

 
Eng verbunden mit dem Narrativ von Auto- versus Demokratie ist der Umgang mit Konflikt und Krieg in ausschließlich moralischen Kategorien. Das führt zu einer bequemen Reduktion einer komplexen Wirklichkeit auf zwei Variablen: „gut“ und „böse“. Diese wiederum beruhen meist auf lange etablierten Feindbildern und archetypischen Klischees, wie der ‚Gefahr aus dem Osten‘ oder dem Bild von David & Goliath. Darin wird z.B. der ‚David Ukraine‘ Opfer von ‚Goliath Russland‘. Vor allem bei vielen jungen Leuten gibt es auch die Wahrnehmung: ‚Goliath Israel‘ gegen ‚David Palästina‘! Das sind Strategien, die eigene Identität aus den realen Widersprüchen herauszunehmen und sich der einen oder anderen Seite zu unterwerfen. Eine autonome Friedensbewegung wird damit unmöglich.

Moralisch begründete Parteinahme ist auch deshalb attraktiv, weil sie ein Überlegenheitsgefühl vermittelt. Denn „Wir“ sind natürlich „die Guten“. Moral mutiert dann zu selbstgerechtem Moralisieren, wie es sehr typisch von der linksliberalen Avantgarde des Bellizismus, dem militaristischen Mainstream und ihrer Erzählung von der „wertegeleiteten Außenpolitik“ vertreten wird.

Allerdings ist Moral nur solange glaubwürdig, wie sie unteilbar ist. Wer selbst das Völkerrecht mit Füßen tritt, wie die NATO in Jugoslawien, oder die US-geführte „Koalition der Willigen“ im Irak 2003 – darunter die Ukraine mit dem sechstgrößten Truppenkontingent von 36 – praktiziert Doppelmoral.

Doppelmoral ist auch im Spiel, wenn es um das Recht auf Selbstbestimmung geht, z.B. des Kosovo oder Taiwans. Da gilt dessen Durchsetzung mit Krieg bzw. militärischen Drohungen durch den Westen als gerechtfertigt, während der gleiche Vorgang im Fall der Krim oder des Donbass‘ zu Separatismus erklärt und seine militärische Niederschlagung unterstützt wird.

Heuchlerische Doppelstandards gelten auch beim Thema Annexionen. So bleiben die Annexion von Nordzypern und Teilen des kurdisch besiedelten Nordsyriens durch das NATO-Mitglied Türkei oder die der Golanhöhen und Ostjerusalems durch Israel ohne praktische Konsequenzen seitens des Westens. Die Annexion der Westsahara durch Marokko wurde, entgegen klarer UN-Beschlüsse, durch die USA sogar formell anerkannt, und Frankreich ist dabei, sich dem anzuschließen.

Aus alledem folgt kein Plädoyer für Amoralität. Auch emanzipatorische Friedenspolitik braucht einen moralischen Kompass. Aber wenn Krieg verhindert oder beendet werden soll, helfen moralische Empörung oder gar moralisierender Hass nicht weiter. Im Gegenteil. Hass erzeugt Gegenhass und die Sehnsucht nach Rache und treibt so die Spirale der Gewalt immer weiter. Stattdessen muss man die Ursachen von Konflikten rational begreifen. Wissen und rationale Erkenntnis sind die Vorbedingung für mündige moralische Entscheidungen.
 

4. Anforderungen an Friedenspolitik auf der Höhe der Zeit

 
Erste Aufgabe einer zeitgemäßen Friedenspolitik ist es, die Komplexität der neuen Weltordnung zu verstehen und in Argumentation und Praxis einzubeziehen. Gefragt ist ein aufgeklärter Realismus, ein nüchterner Umgang mit Geopolitik, allerdings auf Grundlage friedenspolitischer Wertorientierungen.

Dazu gehören die klare Haltung gegen Tod und Zerstörung durch Krieg und die Orientierung an der UN-Charta: Diplomatie und politische Konfliktlösung, Kooperation, ungeteilte, gemeinsame Sicherheit, souveräne Gleichheit aller Staaten, friedliche Koexistenz, Rüstungskontrolle und Abrüstung.

Notwendig ist die qualifizierte Auseinandersetzung mit Bellizismus und Militarismus und deren scheinbar plausiblen Argumenten. Die Friedensbewegung und die gesellschaftliche und politische Linke sollten den Sirenengesängen einer ‚Burgfriedens-Politik‘, auf die die SPD sich im Ersten Weltkrieg einließ, nicht folgen.

Dabei gilt es, sich Diffamierungen wie ‚Putinversteher‘, Antiamerikanismus und dem Missbrauch des Antisemitismusvorwurfs u.ä., die auf Denkverbote und die Unterdrückung freier Meinungsäußerung hinauslaufen, selbstbewusst zu entziehen.

Friedenspolitik identifiziert sich nicht prinzipiell oder dauerhaft mit einem Land oder einem Lager. Das gilt auch für das eigene Land/Lager, d.h. Absage an Nationalismus, Euro-Nationalismus und die Identifikation mit irgendeiner Wagenburg, auch nicht mit der des Westens.

Das schließt nicht aus, im konkreten Fall Vorschläge einer Seite zu unterstützen, wenn sie friedenspolitisch sinnvoll sind. Das gilt auch für entsprechende Initiativen aus ‚Feindesland‘.

Nicht möglich ist in einer interdependenten Welt und unter Bedingungen der existenziellen Bedrohung durch Massenvernichtungsmittel die Haltung „Alles Imperialisten, aus deren Händel halten wir uns raus“.

Strategische Autonomie der EU, die darauf hinausläuft, klassische Großmacht zu werden, ist keine friedenspolitische Option. Gebraucht wird eine Autonomie, die mit einem anderen Politiktypus einhergeht, der auf Frieden, Koexistenz, Abrüstung, gemeinsamer Sicherheit und Kooperation beruht.

Schon in Vorkriegszeiten gehört die Kritik an ideologischen Feindbildern, die eine wesentliche Voraussetzung für außenpolitische Aggressivität schaffen, zu den Aufgaben von Friedenspolitik. Dazu ist es auch notwendig, autonome Expertise über ‚die Feinde‘ zu entwickeln, um nicht von staatstragenden ‚Experten‘, selbsternannten Think Tanks und einschlägigen Instituten abhängig zu sein.

Eine andere Außenpolitik für Deutschland liegt in der Verantwortung der deutschen Friedenskräfte. Das kann ihnen niemand abnehmen und muss im Mittelpunkt ihrer Arbeit stehen. Ihre Aufgabe ist es, der Militarisierung der Gesellschaft, der Aufrüstung und den Großmachtambitionen des herrschenden Blocks – sei es in deutscher, EU- oder NATO-Gestalt – entgegenzutreten.

Kontroversen innerhalb der Friedensbewegung sollten in sachlicher und solidarischer Form ausgetragen werden und nicht zu Konfrontation und gegenseitiger Ausgrenzung führen. Grenzen der Toleranz gibt es nur gegenüber rechtsextremistischen, nationalistischen, militaristischen u.ä. Kräften. [34]

Die herrschende Politik führt zu Demokratieabbau und zu sozialen Belastungen vor allem der subalternen Klassen und Schichten. Das muss eine wichtige Rolle friedenspolitischer Argumentation sein, nicht zuletzt, weil hier äußerst wichtige Ansatzpunkte für Gegenmachtbildung liegen.

Auch ist es den Kalten Kriegern der Zeitenwende, trotz intensiver Gesinnungsmassage durch die staatstragenden Medien, noch immer nicht gelungen, die Bevölkerung voll auf ihre Seite zu ziehen. Wie Umfragen immer wieder bestätigen, gibt es weiterhin starke postheroische Einstellungen und eine Ablehnung weiter Teile der Bevölkerung, sich auf „Kriegstüchtigkeit“ trimmen zu lassen.

Das gibt Anlass zu der Zuversicht, dass die Friedensbewegung wieder stark und einflussreich werden kann.
 

August 2024

 
Fußnoten:
 

[1] An der Formulierung des Textes waren beteiligt: Michael Brie, Erhard Crome, Frank Deppe, Peter Wahl. Die Verantwortung für die Endfas-sung liegt allein bei der Initiative ‚Die Waffen nieder!‘
[2] UN Economic and Social Council (2000): The adverse consequences of economic sanctions on the enjoyment of human rights. E/CN.4/Sub.2/2000/33 21 June 2000
[3] The Washington Post, 25.7.2024: How four U.S. Presidents Unleashed Economic Warfare across the Globe. https://www.washingtonpost.com/business/interactive/2024/us-sanction-countries-work/
[5] Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird von IWF, Weltbank u.a. Institutionen sowohl in Wechselkurs- als auch in Kaufkraftparität (KKP) angege-ben. Da die Produktionskosten für alle im jeweiligen Inland produzierten Güter und Dienstleistungen aufgrund von Unterschieden bei Arbeitskosten, Zugang zu Rohstoffen, Skaleneffekte durch den Binnenmarkt etc. erheblich sein können und sich damit entsprechend auf die wirtschaftliche Leistungskraft auswirken, verzerrt die Rechnung nach Wechselkursparitäten oft das Bild. So kann eine Kursänderung einer Währung über Nacht ein größeres oder kleineres BIP erscheinen lassen, obwohl sich realwirtschaftlich nichts geändert hat.
[6]International Monetary Fund (IMF), data. https://data.imf.org/?sk=388dfa60-1d26-4ade-b505-a05a558d9a42
[7] Abschlusserklärung der BRICs-Gründungskonferenz, Jekaterinburg 2009.
[8] Congressional Research Service. U.S. Role in the World: Background and Issues for Congress. Updated January 19, 2021. https://crsreports.congress.gov/product/pdf/R/R44891.
[10] Ministry of Foreign Affairs of the Russian Federation (2023). The Concept of the Foreign Policy of the Russian Federation. https://mid.ru/en/foreign_policy/fundamental_documents/1860586/
[11] Price Waterhouse Cooper (2017): The long view: how will the global economic order change by 2050. London
[12] Rat der Europäischen Union (2022): Ein Strategischer Kompass für Sicherheit und Verteidigung. S.7
[13] Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. 2.6.2024; S. 2. Einstimmigkeit meint das Konsensprinzip in Außen- und Sicherheitspolitik.
[14] Europäisches Parlament. Umsetzung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. 14.12.2016. P8_TA-PROV(20216)0503
[15] Die Notwendigkeit der anhaltenden Unterstützung der EU für die Ukraine. Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17. Juli 2024 (2024/2721(RSP))
[16] FAZ, 24.5.2024; S. 1
[18] Allison, Graham. Destined for War: Can America and China Escape Thucydides’s Trap? Boston/New York. 2017, S. 42 ff.
[20] New York Times, 7.3.1992. https://www.nytimes.com/1992/03/08/world/us-strategy-plan-calls-for-insuring-no-rivals-develop.html Wolfowitz war stellvertretender Verteidigungsminister. Sein Entwurf wurde von der New York Times geleakt, und musste daher aus Image-gründen überarbeitet werden. Unabhängig davon ist die sog. ‚no rival Strategie‘ Kern der US-Geo-Strategie (s. auch Fußnote 6).
[21] Department of the Navy: Advantage at Sea. Prevailing with Integrated All-Domain Naval Power. December 2020.
[22] 20 years climate focus. Climate damage caused by Russia’s war in Ukraine (First and second interim assessments). https://climatefocus.com/publications/climate-damage-caused-by-russias-war-in-ukraine/
[23] Auer, Martin (2023): Der CO2-Stiefelabdruck des Militärs. https://at.scientists4future.org/2023/05/15/co2-stiefelabdruck-des-militars/
[24] Vertrag von 1987 über das Verbot landgestützter Mittelstreckenraketen in Europa mit einer Reichweite von 500 – 5.500 km. Der Vertrag wurde von der Trump-Administration gekündigt.
[25] Washington erklärte, die Systeme dienten dem Schutz der EU vor iranischen Raketen. Von der iranischen Grenze ist es 1.500 km bis Rumä-nien und 2.000 km bis Polen. Dagegen grenzt Polen direkt an das Gebiet der russischen Enklave Kaliningrad.
[27] The White House. National Security Strategy, a.a.O. S. 8
[28] Klingbeil, Lars; a.a.O. S. 4
[29] Was auch schon damals umstritten war. So schrieb Robespierre: „Niemand liebt die bewaffneten Missionare; der erste Rat, den die Natur und die Klugheit geben, ist der, sie als Feinde zurückzuschlagen.“
[30] Das wurde später aus gutem Grund zurückgenommen und die Organisation 1943 aufgelöst.
[31] Resolution A/RES/60/1 der UN-Vollversammlung, 16.9.2005
[32] Office of the Director of the National Intelligence. https://www.dni.gov/index.php
[33] SIPRI. Trends in Military expenditure, 2023. https://www.sipri.org/sites/default/files/2024-04/2404_fs_milex_2023.pdf
[34] Siehe ausführlich dazu das Diskussionspapier unserer Initiative von 2023: Rechtsoffenheit in der Friedensbewegung – Kampfbegriff oder reales Problem? https://nie-wieder-krieg.org/wp-content/uploads/2023/08/Rechtsoffenheit_Kampfbegriff_oder_reales_Problem.pdf

Buch-Tipp:

Werner Rügemer: Verhängnisvolle Freundschaft. Wie die USA Europa eroberten, zunächst vom 1. zum 2. Weltkrieg.

Köln 2023, 326 Seiten, 22,90 Euro.

Die Gene des US-Staates: keine Demokratie in der Verfassung; Sklavenstaat und geopolitics of modernized slave labor; kein Außenministerium sondern Anspruch auf jeden Punkt der Erde und des Weltraums; Kapital-Demokratie offen nach ganz rechts und Militär-Kapitalismus; im Krieg auch Zivilisten töten. Ausrüstung von Stellvertreterkriegen. Zur Abwehr der demokratischen und Arbeiterbewegungen förderten die USA wirtschaftlich, medial, politisch alle faschistischen Diktaturen in Europa: sofort ab 1922 Mussolini, Salazar, dann Franco, Pilsudski, Hitler - in China auch Tschiang Kai Shek, gemeinsam mit Hitler. Mit dem Dawes-Plan investierten US-Konzerne ab 1924 in Deutschland. Hollywood produzierte für Goebbels. Die US-geführte Bank for International Settlements BIS in Basel/Schweiz wusch während des 2. Weltkriegs NS-Raubgold und Raubaktien zugunsten NS-Deutschlands. Die Arisierung jüdischer Unternehmen und die Vernichtung der Juden blieb unbeachtet. Seit dem Abwurf der Atombomben auf japanische Zivilisten erneuern die USA bis heute, zuletzt unter Obama, die Doktrin des atomaren Erstschlags, der auch in Europa ausgetragen werden kann - wo die guten Freunde wohnen.

Französisch: Amitié fatale, tredition 2024, hardcover, softcover, e-Book; englisch und spanisch erscheint im Dezember 2024

Hinweise IMI-Ausdruck Juni 2024

Von der Schmuddelecke in die Systemrelevanz

Die mediale Zeitenwende im öffentlichen Diskurs über Rheinmetall
(von Jonas Uphoff)

Nicht erst seit der Eskalation des Kriegs in der Ukraine und der „Zeitenwende“-Politik der Ampelregierung ist die deutsche Rüstungsindustrie auf dem aufsteigenden Ast. Aktienwerte und Umsatz der Rheinmetall-AG stie- gen beispielsweise in den letzten zehn Jahren fast kontinuierlich an. Mit offiziell 172 Standorten und 98 Tochterfirmen weltweit, ist Rheinmetall, gemessen am Umsatz, der zweitgrößte deutsche Rüstungskonzern nach Airbus.
Der latente Aufstieg erlebte mit der „Zeitenwende“ jedoch eine rasante Beschleunigung, von der die deutsche Rüstungsindustrie im Allgemeinen und Rheinmetall im Besonderen noch immer profitieren. Dass Rüstungsunternehmen von politischen Program-men zur massiven Aufrüstung oder Führung von ausgedehnten konventionellen Kriegen wie in der Ukraine profitieren, liegt auf der Hand. Dieser Höhenflug drückt sich jedoch nicht nur im wirtschaftlichen Erfolg aus, sondern geht einher mit einer politischen und gesellschaftlichen Diskursverschiebung in Bezug auf das Thema Rüstungskonzerne. So präsent im öffentlich medialen Diskurs, wie seit dem Februar 2022, waren Rüstungsunternehmen nie zuvor. Die Wandlung vom eher unsympathischen Geschäftemacher mit Krieg und Tod zum geschätzten Partner, der Seite an Seite mit dem Bundeskanzler den ersten „Spatenstich“ einer neuen Munitionsfabrik ausführt, wirkt fast hastig, so schnell geschah sie. Politischer Wille und wirtschaftliche Interessen allein erklären dies nicht, es hat auch eine Diskursverschiebung in den Medien gegeben.

Quelle: IMI-Ausdruck, Juni 2024
https://www.imi-online.de/download/Ausdruck117_10_Jonas_Uphoff.pdf

EU-MILITARISIERUNG

Umschalten auf Kriegswirtschaft

Die EU-Kommission legt eine Industriestrategie (EDIS) und ein Industrieprogramm (EDIP) für den Rüstungsbereich vor
(von Özlem Alev Demirel und Jürgen Wagner)

Anfang März 2024 legte die Europäische Kommission zwei neue Papiere vor, mit denen die Union einen weiteren großen Schritt in Richtung Kriegswirtschaft unternimmt. Dabei formuliert die „European Defence Industrial Strategy“ (EDIS) recht konkrete Ziele, während das „European Defence Industry Programme“ (EDIP) ergänzend die entsprechenden Maßnahmen zur Umsetzung vorschlägt.

Es geht dabei um nicht weniger als die Fähigkeit zur „Massenproduktion“ von Rüstungsgütern und den forcierten Aufbau eines europäischen Rüstungskomplexes, um international stärker in Konkurrenz treten und die eigenen Interessen „besser“ durchsetzen zu können. Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet die ansonsten neoliberal bis ins Mark daherkommende EU-Kommission damit Befugnisse erhalten will, um „Eingriffe in die Grundrechte der Unternehmen“ (EDIP: Artikel 61) vornehmen zu können – augenscheinlich stoßen die vielbeschworenen Freiheiten des Marktes bei Aufrüstungsfragen inzwischen an ihre Grenzen. Parallel dazu betont der zuständige Industriekommissar Thierry Breton, es gehe darum, dass sich die EU schrittweise einer Kriegswirtschaft nähern und bei Bedarf der militärischen Produktion ein Vorrang vor ziviler Produktion einräumen müsse. Kriegswirtschaft, das bedeutet nichts weiter als alle Bereiche der Produktion und Wirtschaft dem Bedarf des Krieges unterzuordnen. Diese Programme sind also eine vorauseilende Maßnahme, die deutlich machen, wohin die Reise in der EU geht

Quelle: IMI-Ausdruck, Juni 2024
https://www.imi-online.de/download/Ausdruck117_11_Demirel_Wagner.pdf

Kriegswahn ist tief in der SPD verwurzelt:

Im EU-Parlament wurde für Taurus-Lieferungen gestimmt

Wenn die Katze aus dem Haus ist, tanzen die Mäuse auf dem Tisch, lautet ein Sprichwort, und das Abstimmungsverhalten der meisten SPD-Europaabgeordneten erweckt genau diesen Eindruck. Offenkundig wollen die meisten deutschen Politiker unbedingt Kriegsbeteiligte werden.

Es sind nicht nur die Abgeordneten der Koalitionspartner, die Bundeskanzler Olaf Scholz nur mühsam bei der Stange halten kann, es sind auch Angehörige seiner eigenen Partei. Bei einer Abstimmung im Europaparlament am Freitag, nur einen Tag nach der Abstimmung über die Taurus-Lieferung im Bundestag, stimmte die Mehrheit der SPD-Parlamentarier für eine Resolution, die unter anderem in Punkt 11 folgenden Satz enthält:

„Das Europäische Parlament … ist der Ansicht, dass es keine selbst auferlegten Beschränkungen der militärischen Unterstützung für die Ukraine geben sollte. … [Es] betont, dass die Ukraine insbesondere hochentwickelte Luftabwehrsysteme, Marschflugkörper mit großer Reichweite wie die Systeme Taurus, Storm Shadow bzw. Scalp usw., moderne Kampfflugzeuge, verschiedene Arten von Artillerie und Munition (insbesondere Artilleriemunition des Kalibers 155 mm) sowie Drohnen und Waffen benötigt, um Angriffe abzuwehren.“

Die gesamte Resolution ist ein von Ideologie und keineswegs von Kenntnis oder Friedensbereitschaft geprägter Text; unter anderem wird nach wie vor die Beschlagnahmung eingefrorener russischer Vermögenswerte verlangt und dem „Selenskij-Friedensplan“ die Unterstützung ausgesprochen. Wie gründlich die historischen Kenntnisse der Europaparlamentarier sind, belegt unter anderem der Vorwurf unter Ziffer 2, Russland habe nach seiner „rechtswidrigen Annexion der Halbinsel Krim“ diese „in einen Militärstützpunkt verwandelt“. Der Vorwurf wäre an die russische Zarin Katharina II. zu richten, die dies im 18. Jahrhundert tat.
Der Punkt, in dem es um die Taurus geht, wurde vor der Gesamtabstimmung einzeln abgestimmt; schon bei dieser Abstimmung wandte sich die Hälfte der 16 SPD-Abgeordneten dagegen. Dem Protokoll zufolge waren dies die Abgeordneten Burkhardt, Ecke, Geier, Köster, Lange, Repasi, Rudner und Schuster. Die ehemalige Justizministerin Barley enthielt sich, zusammen mit Bischoff. In der Gesamtabstimmung zu dieser Resolution stimmten allerdings nur noch Köster, Rudner und Schuster dagegen – drei von 16 –, die übrigen stimmten zu.

Die Abgeordneten von FDP und Grünen stimmten geschlossen für die Resolution, auch für Punkt 11. Das zeigt, dass nur eine Minderheit der Politiker selbst der SPD sich der Risiken bewusst ist, die eine Lieferung der Taurus hervorruft, und die Ablehnung mittlerweile nur noch von einer Minderheit in der SPD und von Bundeskanzler Olaf Scholz aufrechterhalten wird. Sie hängt an einem seidenen Faden. (16. März 2024)

Quelle: https://meinungsfreiheit.rtde.life/inland/199625-kriegswahn-ist-tief-in-spd/

Mehr zum Thema:
Hitzige Debatte im Bundestag – Scholz bleibt beim Nein zu Taurus-Lieferungen

https://freeassange.rtde.live/inland/199287-hitzige-debatte-im-bundestag-scholz/

Frieden für die Ukraine und für Russland

Kundgebung vor dem Bundeskanzleramt am 24.2.2024 Rede Lühr Henken*


Liebe Friedensfreundinnen, liebe Friedensfreunde,
Bundeskanzler Olaf Scholz, vor dessen Amtssitz wir hier stehen, läutete vor knapp zwei Jahren die sogenannte Zeitenwende ein. Künftig sollten mehr als zwei Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung in die Bundeswehr fließen und Waffen in Kriegsgebiete geliefert werden. Scholz begründete das im Bundestag so: „Putin will ein russisches Imperium errichten. Er will die Verhältnisse in Europa nach seinen Vorstellungen grundlegend neu ordnen, und dabei schreckt er nicht zurück vor militärischer Gewalt. Das sehen wir heute in der Ukraine.“ 1 Oder kurzgefasst: Für die militärische Neuordnung Europas greift Putin zunächst die Ukraine an, um dies als Sprungbrett für den Gang nach Westen zu nutzen. Dagegen helfe nur ein Mittel: Aufrüsten der Ukraine - und der Bundeswehr. Aus Deutschland hat die Ukraine seitdem Waffenhilfe in Höhe von 9,4 Milliarden Euro erhalten und Versprechen auf weitere für 8,3 Milliarden. Aus dem anfänglichen Zauderer ist der Kriegstreiber Scholz geworden - nicht nur in Europa, sondern neuerdings auch in den USA. Geld für die massive Aufrüstung der Bundeswehr fließt. Wurden für die Bundeswehr im Jahr vor dem Ukrainekrieg noch 52,4 Milliarden locker gemacht, so werden es in diesem Jahr voraussichtlich 89 Milliarden werden. Das würde 2,1 Prozent des BIP bedeuten. Scholz verspricht, dieses Ausgabenniveau oberhalb der zwei Prozent zu halten, auch wenn der Topf mit den 100 Milliarden Sonderschulden spätestens ab 2028 leer ist. Zwei Prozent des BIP bedeutet dann, die zusätzlichen 30 bis 35 Milliarden für die Bundeswehr müssen bei den Sozialausgaben gekürzt werden. Und das Jahr für Jahr, weil Scholz’ Zusage auch für die 30er Jahre und darüber hinaus gilt. Pistorius machte vor einer Woche klar, dass die zwei Prozent nicht reichen könnten. Es könnten auch drei oder 3,5 Prozent werden, sagte er. Je nach Weltlage. Ich habe mal gerechnet. Das wären auf der Basis des BIPs dieses Jahres 125 beziehungsweise 150 Milliarden für die Bundeswehr. Hallelujah – und das alles aus dem Bundeshaushalt. Dazu darf es nicht kommen! Das verlangt der Bevölkerung sehr viel ab. Sie soll diesen gigantischen Aufrüstungskurs schließlich mittragen. Das heißt, es geht um den Kampf um die Köpfe. Nicht nur die Bundeswehr soll kriegstüchtig werden, sondern auch die Bevölkerung. Wie erreicht man das? Ganz einfach. Die Angst vor den Russen schüren. Und das hat wieder Konjunktur. Seit Mitte Dezember geistert es durch die Gazetten. Den Anfang machte Springers BILD: Sie titelte: „Pistorius warnt vor Putins Angriff: Wir haben ‚fünf bis acht Jahre‘“2 Erfinder des Gedankens ist Christian Mölling3 von der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik. Seine Erfindung: sobald in der Ukraine nicht mehr gekämpft wird – aus welchem Grund, das lässt Mölling offen, es kann also ein Waffenstillstand sein oder Russland hat den Krieg gewonnen oder gar verloren - wird Russland seine Armee wieder aufbauen, um danach im Baltikum oder Polen anzugreifen. Denn Russland verfolge imperiale Ambitionen. Das werde in fünf bis neun Jahren der Fall sein. Belege für diese Behauptungen haben weder Mölling noch Pistorius. Aber: Damit es nicht dazu kommt, muss die deutsche Aufrüstung beschleunigt werden.
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1Plenarprotokoll, Deutscher Bundestag – 20. Wahlperiode, 19. Sitzung, 27.2.2022, S. 1353 https://dserver.bundestag.de/btp/20/20019.pdf
2 https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/verteidigungsminister-pistorius-warnt-vor-putins-angriff-wir-haben-fuenf-bisach- 86458222.bild.html
3 Dr. Christian Mölling, Torben Schütz, „Den nächsten Krieg verhindern - Deutschland und die NATO stehen im Wettlauf mit der Zeit“, DGAP Policy Brief Nr. 32 , November 2023, 11 Seiten. https://dgap.org/system/files/article_pdfs/DGAP%20Policy%20Brief%20Nr- 32_November-2023_11S_2.pdf
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Liebe Freundinnen und Freunde,
das ist Stimmungsmache und ist geeignet, die Bevölkerung in eine Kriegshysterie hineinzutreiben. Ich halte es da mit Harald Kujat, ehemals Generalinspekteur der Bundeswehr und Chef des NATO-Militärausschusses, der vor 10 Tagen sagte: „Ob die Vermutungen der russischen Angriffsabsichten zutreffen, liesse sich übrigens durch einen Waffenstillstand und anschließende Friedensverhandlungen feststellen. Zudem könnte das Verhandlungsergebnis Regelungen enthalten, die ausschließen, dass ukrainisches Territorium von Russland als Aufmarschgebiet für einen Angriff auf Mitteleuropa genutzt werden kann. Darüber hinaus könnten mit Russland Vereinbarungen geschlossen werden, die vor allem die Sicherheit der baltischen Staaten erhöhen. Aber auch insgesamt zu grösserer Stabilität zwischen Nato und Russland beitragen. Ich denke beispielsweise an einen aktualisierten KSEVertrag über die Begrenzung konventioneller Streitkräfte mit neuen Flankenregelungen.“4Soweit Harald Kujat. Dem kann ich mich nur anschließen. Verhandlungen schließt Selenski per Dekret aus und fordert Waffenlieferungen des Westens. Insbesondere von Deutschland Marschflugkörper Taurus. Diese Forderung fand im Antrag der CDU/CSU keine Mehrheit, aber der Antrag aus den Fraktionen der Ampel-Koalition öffnet dieser Option Tür und Tor. Auch wenn der Taurus-Lieferung nicht heute oder morgen zugestimmt wird, so stellt der Bundestagsbeschluss kein Nein für alle Zukunft dar. Das bestätigte die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Gabriela Heinrich im Bundestag: „Fakt ist: Wir haben an dieser Stelle keine rote Linie gezogen und das hat übrigens auch der Kanzler nicht getan. Sie wissen ganz genau, dass es bisher kein Nein gibt.“5 Beabsichtigt ist, dass die Taurus an US-amerikanische Kampfflugzeuge des Typs F-16 gehängt werden, die noch nicht in der Ukraine sind. 61 F-16 sollen aus Dänemark und den Niederlanden vom Sommer an bis Ende nächsten Jahres ausgeliefert werden. Die Kriegstreiber:innen in CDU/CSU und Ampel werden nicht locker lassen. Entscheidet die Regierung sich für Taurus, schlägt sie sämtliche Warnungen vor einer Eskalation des Ukrainekrieges in den Wind. Was macht Taurus so gefährlich? Die punktzielgenauen Taurus sind durchschlagfähig gegen vier Meter dicken Beton und sehr schwer abfangbar. Seine Reichweite von mehr als 500 km 6 ermöglicht einen strategischen Einsatz in drei Bereiche: Erstens, strategische Zentren in Moskau, wie den Kreml und Ministerien. Das ist das, wofür der CDUHasardeur Roderich Kiesewetter kürzlich plädierte. Zweitens, auf halbem Weg nach Moskau lagern in 22 Silos russische Interkontinentalraketen mit 88 Atomsprengköpfen.7 Allein diese strategischen Optionen durch Taurus provozieren heftige russische Gegenmaßnahmen. Welche das sein könnten, darüber kann man nur spekulieren. Der dritte Bereich ist die für die Versorgung der Krim so bedeutsame Kertsch-Brücke ganz im Osten der Halbinsel. Die Krim ist von strategischer Bedeutung für Russland wegen der Schwarzmeerflotte, und der Stützpunkte für Luftwaffe und Heer. Die Zerstörung der Brückenpfeiler ist der Ukraine mit britischen und französischen Marschflugkörpern nicht möglich. Die Flugzeuge müssten zu nahe an die Kampflinie heran fliegen, um sie zu starten. Mit Taurus jedoch könnte der Start weit im Binnenland der Ukraine erfolgen. Eins ist klar: Werden Taurus geliefert, eskalieren die Feindseligkeiten. Deshalb: Taurus darf nicht an die Ukraine geliefert werden! Auch die USA arbeiten mit Hochdruck daran, den Druck auf Putin zu erhöhen. Unter Trump wurde 2019 die Entwicklung von Hyperschallraketen8 mit langer Reichweite in Gang gesetzt, dessen Gleitkörper mit konventionellem Sprengstoff bereits fertig ist. Superschnell wie einst Pershing II, aber anders als diese ist ihr
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4 Harald Kujat, „Der Westen sollte sich nicht länger Schuld am tragischen Schicksal des ukrainischen Volkes aufbürden“ Zeitgeschehen im Fokus Nr. 2/3, 14. 2. 2024, S. 4 bis 8, S. 6. https://www.zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-2-3- vom-14-februar-2024.html#article_1633
5 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll, 20/154 vom 22.2.24, S. 19633, https://dserver.bundestag.de/btp/20/20154.pdf
6 Otfried Nassauer, Munitionsgeschäfte in deutscher Verantwortung, 2018, 60 Seiten, S. 27, Fußnote 69
7 The Bulletin of the Atomic Scientists, Estimated Status of Russian ICBM forces, 2023, abgerufen 20.1.24, https://thebulletin.org/wp-content/uploads/2023/05/Table-1A.png Die Silos liegen in Kozelsk
8 Zu Dark Eagle und zur Entwicklung der Hyperschallwaffen weltweit: Lühr Henken, Sind US-Hyperschallwaffen Dark Eagle in Deutschland noch zu verhindern? Kassel, 9.12.2023., https://friedensratschlag.de/friedensratschlag-2023/dark-eagle/
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losgelöster Gefechtskopf während des Fluges lange Zeit manövrierbar, so dass er nicht abgefangen werden kann. Er trifft das Ziel punktgenau. Das Ziel: Putin persönlich. Die Crew dafür, 500 Mann stark, ist seit Ende 2021 bereits im Lande: verteilt auf Wiesbaden, der Kommandozentrale, und Grafenwöhr, wo die Kanoniere sind. Es ist zu erwarten, dass die Dark Eagle 2025 nach Deutschland kommen werden.9 Putin weiß um dieses “Messer am Hals“10, wie er im Februar 2022, drei Tage vor seinem Angriffsbefehl auf die Ukraine, sagte. Was wird er tun? Abwarten, bis die Batterie steht, weil er darauf vertraut, dass die USA sie schon nicht einsetzen werden, denn dann, so die russische Nukleardoktrin, droht den USA und/oder Europa unweigerlich der Gegenschlag Russlands. Oder vertraut Putin seiner Generalität nach seiner Ermordung nicht, weil diese sowohl Skrupel bei der Zerstörung Europas und der USA hat und den eigenen Tod und den ihrer Landsleute fürchtet? Falls Putin zur letzten Überlegung neigt, bleibt ihm nichts anderes übrig, als zuvor etwas zu unternehmen, um zu überleben. Was könnte das sein? Im Ukrainekrieg nachgeben? Sicher nicht. Anbieten, auf eigene Hyperschallwaffen zu verzichten, wenn die USA es auch tun? Wohl auch nicht. Denn die US-Raketenabwehrsysteme, derentwegen Russland die eigenen Hyperschallraketen überhaupt entwickelt hat, sind dann immer noch da. Folglich wird Putin diesen Vorschlag nicht machen, es sei denn, die USA würden auf ihre Raketenabwehr verzichten. Davon ist aber nicht auszugehen. Also, was bleibt noch? Ein Präventivschlag auf US-Kommandozentralen in Deutschland. Mit hochpräzisen Hyperschallraketen Kinschal oder Zirkon Wiesbaden, Stuttgart, Ramstein, Büchel und Grafenwöhr zu beschießen, könnte die US-Einsatzfähigkeit in Europa zerstören. Und der US-Gegenschlag? Ihre Kommandozentralen in Europa wären unbrauchbar, ebenso ihre militärischen Möglichkeiten. Würden sie dann ihr strategisches Nukleararsenal mit Interkontinentalraketen und von U-Booten und Bombern aus gegen Russland einsetzen? Klingt alles sehr abenteuerlich. Aber es ist brandgefährlich für uns alle. Zu abwegig? Zu spekulativ? Vielleicht. Die Stationierung von Dark Eagle ist in jedem Fall destabilisierend. Wie dem entkommen? Indem die Dark Eagle nicht nach Deutschland kommen. Wir haben noch ein Jahr Zeit, den nötigen öffentlichen Druck dafür auf Scholz, Baerbock und Co. zu erzeugen. Also Herr Scholz: Keine Taurus an die Ukraine liefern! Keine Dark Eagle nach Deutschland holen! Den Kurs auf Verhandlungen mit Russland stellen! Nicht aufrüsten, sondern abrüsten!
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*Lühr Henken, ist Ko-Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag (www.Friedensratschlag.de ), Herausgeber der Kasseler Schriften zur Friedenspolitik (https://jenior.de/produkt-kategorie/kasselerschriften- zur-friedenspolitik/ ) und arbeitet mit in der Berliner Friedenskoordination (http://www.frikoberlin.de/ )
9 Sidney E. Dean, Dark Eagle: Fielding the US Army’s Long Range Hypersonic Weapon, 26.10.2023, https://euro-sd.com/2023/10/articles/34767/dark-eagle-fielding-the-us-armys-long-range-hypersonic-weapon/ . Darin: “Under the extant timeline (which to date has not been officially adjusted) the second Dark Eagle battery is expected to be fielded in Germany in 2025.”
10 Dr. Rainer Böhme, dgksp-Diskussionspapiere, Dresden, März 2022, 151 Seiten, ISSN 2627-3470, S. 67f, https://slub.qucosa.de/landing-page/https%3A%2F%2Fslub.qucosa.de%2Fapi%2Fqucosa%253A78553%2Fmets%2F/

 

Kommentar:

Militärmacht EU?

Wolfgang Schäuble, erzkonservativer Vorkämpfer einer weitgehenden Integration der EU unter deutscher oder deutsch-französischer Vorherrschaft wies seinerzeit 2014, als in der Ukraine ein Bürgerkrieg ausbrach und das Gezerre zwischen Russland und den westlichen Staaten um die einstige Sowjetrepublik immer intensiver wurde, darauf hin, dass so ein äußerer Feind ja auch eine ganz praktische Sache wäre, da er die Europäische Union stärker zusammen schmiede.

Er sollte Recht behalten. Die Bundesregierung drängt verschärft darauf, im Ministerrat künftig in allen Fragen per Mehrheit zu entscheiden. Damit könnte angesichts der Stimmengewichtung Deutschland mit einigen anderen großen Ländern vollends bestimmen, wo es lang gehen soll. Wer das für eine gute Sache hält, sollte vielleicht mal ein Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln besuchen oder bei den Seenotrettern nachfragen, wie viele Menschen die EU allein schon dieses Jahr im Mittelmeer hat ertrinken lassen. Ende Januar waren es bereits etwa 100 Personen. Und sei das alles noch nicht genug, so drängt nicht nur Berlin, sondern auch Warschau, Paris und Den Haag auf gemeinsame Rüstungsprogramme und eine Militarisierung der Union. Aus der EU soll so eine Art Superstaat, und zwar ein hochgerüsteter werden. Schon wird sinniert, ob nicht auch Polen und Deutschland nuklear aufrüsten sollten.

Da fragt man sich doch: Sind die von allen guten Geistern verlassen? Natürlich sind immer die anderen Schuld. Der Böse ist Putin, gegen den sich die EU-Staaten verteidigen müssen. Ganz so wie im kalten Krieg. Zwei Machtblöcke zeigen mit dem Finger auf den anderen und rüsten immer weiter auf, veranstalten gefährliche Manöver mit ihren Armeen und bringen die Welt schließlich an den Rand eines Atomkrieges.

Nun kann man sich prächtig streiten, wer nun wirklich den der Böse ist, ob Putin oder die NATO. Doch in Wirklichkeit ist das völlig egal. Allen, die Augen im Kopf haben, zeigt der Ukraine-Krieg derzeit, was eine Auseinandersetzung zwischen der EU und Russland bedeuten würde. Man muss nur die Zahlen und Schäden hochrechnen. Selbst ein rein konventioneller Krieg ohne Atomwaffen würde zahlreiche Großstädte dem Erdboden gleich machen. Ein paar Dutzend Millionen Menschen würden ihr Leben verlieren. Die Älteren unter uns erinnern sich noch, welch tiefe Narben der Krieg in den Familien hinterließ, welche Traumata selbst noch an die Nachgeborenen weitergegeben wurden. (wop)

Klimakatastrophe:

EU-Klimaziel mit zwei Haken

Brüssel will Ausstoß von Treibhausgasen bis 2040 um 90 Prozent gegenüber 1990 verringern. Das klingt radikal, ist aber unzureichend

Die EU-Kommission hat Vorschläge für konkretisierte Klimaziele vorgelegt, die in den nächsten Monaten im Strasbourger Parlament und unter den Regierungen diskutiert und nach der EU-Wahl im Juni in eine Verordnung gegossen werden sollen. Das Verfahren ist im Europäischen Klimagesetz vorgesehen, und Zeit wäre es allemal. Der Klimawandel steht längst vor der Tür, verursacht schon jetzt erhebliche Schäden und lässt für die Zukunft allerlei unerfreuliche Szenarien erwarten (siehe Artikel zum Golfstrom).

Nach dem Vorschlag soll der Ausstoß der Treibhausgase bis 2040 um 90 Prozent gegenüber dem Niveau von 1990 verringert werden. 1990 betrugen die Emissionen nach Angaben der EU-Umweltagentur in Kopenhagen 4,7 Milliarden Tonnen jährlich, 31 Jahre später waren es noch immer 3,2 Milliarden Tonnen. Der Rückgang ist vor allem das Ergebnis des Ausstiegs aus der Kohle, der in vielen EU-Mitgliedsländern bereits weiter vorangekommen ist als in Deutschland. Andere Sektoren, zum Beispiel der Straßenverkehr, emittieren zum Teil noch auf dem gleichen Niveau wie 1990. Hierzulande wird damit inzwischen von der Bundesregierung das deutsche Klimaschutzgesetz verletzt, wie im Herbst ein Berliner Gericht festgestellt hat.

Angesichts dessen hört sich der Vorschlag der Kommission geradezu radikal an und dürfte daher viel Gegenwind bekommen. Allerdings hat er diverse Haken. Zum einen ist die Reduktion unzureichend. Soll die globale Erwärmung noch in einem halbwegs verträglichen Rahmen gehalten und das Umkippen verschiedener Komponenten des Klimasystems wie etwa des Golfstroms (siehe Keller) verhindert werden, müssten die Emissionen bis 2035 oder früher auf null reduziert werden und nicht erst 2050, wie es das Klimagesetz vorsieht. Und die Reduktion müsste sofort in großen jährlichen Schritten beginnen, denn letztlich kommt es auf die Gesamtmenge der Emissionen an. Das mit großem Abstand wichtigste Treibhausgas Kohlendioxid reichert sich nämlich in der Atmosphäre an und verbleibt dort für mehrere tausend Jahre.

Doch im Augenblick sieht es noch nicht einmal danach aus, dass die Union ihr Ziel für 2030 erreichen wird. Bis dahin soll der jährliche Treibhausgasausstoß um 55 Prozent auf 2,15 Milliarden Tonnen gesenkt werden. Aber zwischen 2011 und 2021 haben die Emissionen nach den Daten der Kopenhagener Umweltagentur nur um 0,48 Milliarden Tonnen abgenommen. Setzt sich dieser Trend fort, werden 2030 noch immer 2,8 Milliarden Tonnen jährlich in die Luft geblasen. (Alle Mengen sind in sogenannten CO2-Äquivalenten angegeben, da die anderen Treibhausgase wie etwa Methan entsprechend ihrer Klimawirksamkeit in CO2, das heißt in Kohlendioxid, umgerechnet werden.)

Ein weiterer Haken des Kommissionsvorschlags: Es ist von Nettoemissionen die Rede. Dahinter steckt die Vorstellung, dass ein Teil der Treibhausgasemissionen durch andere Maßnahmen kompensiert werden könnte. Konkret geht das Brüsseler Papier davon aus, dass 2040 noch bis zu 850 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente jährlich emittiert werden. Davon sollen 400 Millionen Tonnen CO2 durch Aufforstung und sogenanntes CCS (Carbon Capture and Storage, CO2-Abscheidung und Einlagerung) gebunden werden. Diese Technologie ist aber bisher nirgendwo über das Stadium von Pilotanlagen hinausgekommen.

Sie würde bedeuten, dass das CO2 in den Kraftwerken mit erheblichem Energieaufwand eingefangen und verflüssigt wird. Etwa zehn Prozent des im jeweiligen Kraftwerk erzeugten Stroms wäre dafür notwendig. Sodann müsste sich dafür ein langfristig sicherer Speicher finden lassen. Diskutiert wird vor allem, das flüssige CO2 in tiefere Erdschichten zu pressen. Ob es dort aber wirklich sicher verbleibt, ist bisher offen. Unter anderem wirkt das Gas als Säure, könnte also giftige Stoffe aus dem felsigen Untergrund lösen und mit diesen Grundwasser führende Schichten bedrohen. Entsprechend regt sich unter anderem in Schleswig-Holstein und in Sachsen-Anhalt in der Bevölkerung Widerstand gegen entsprechende Pläne.

(Wolfgang Pomrehn, 15.2.2024, jungeWelt)

Kommentar/Leserbrief

Zu den Ursachen der Flüchtlingskrise

Die vorbehaltlose Aufnahme und menschenwürdige Behandlung von Flüchtlingen wird von vielen Bürgern solidarisch praktiziert und sollte für Alle eine Selbstverständlichkeit sein.
Leider stellt das Gegenteil oft eher die Regel denn die Ausnahme dar:

Eine brutale Abschottung auf See und zu Land wird durch Frontex und andere Institutionen praktiziert; die Unterbringung in überfüllten Heimen und Abschiebeknästen ist oft belastend, drangsalierend und menschenunwürdig, das Betreuungspersonal häufig ohne adäquate Qualifikation, repressiv und manchmal auch gewalttätig; das oft jahrelange, perspektivlose isolierte Dahinvegetieren begleitet von angstauslösenden Bedrohungen durch Rechtsradikale und Abschiebungen kennzeichnen die Lage vieler, oft bereits vorher traumatisierter MigrantInnen. Geschätzte Zehntausende haben in den letzten Jahren das Martyrium der Flucht - insbesondere durch Wüstengebiete und über See - sowie die Behandlung in den Zielländer nicht überlebt.

Ca. 50 Millionen Menschen sollen derzeit auf der Flucht sein und es werden immer mehr. Ihre verzweifelte Situation präsentiert allenfalls die Spitze des Eisbergs bezogen auf das Elend, das wir in ihren Herkunftsländern vorfinden. Für diesen weltweit verheerenden Zustand sind in erster Linie die Eliten in den Industrienationen verantwortlich.
In ihrem konkurrierenden Kampf um Ressourcen und geostationäre Positionierungen werden ganze Regionen verwüstet. Dürren, Überschwemmungen sowie Bodenerosionen mit anschließenden Hungersnöten werden durch eine verantwortungslose Klimapolitik hervorgerufen.

Ferner sind zu nennen: Landgrabbing und Landraub durch internationale Konzerne, katastrophale ökologische Schäden durch eine rabiate Ausplünderung von Bodenschätzen (z. B. durch Uranabbau im Niger), Zerstörung lokaler Märkte durch diskriminierende Handelsgesetze, Plünderung insbesondere der küstennahen Fischfanggründe sowie ein grenzenloser profitträchtiger Export von Waffen an die regionalen „Verbündeten und Statthalter“, die oft brutale Despoten sind. Um die Ausbeutung sicherzustellen müssen die Nato, USA und Co. immer grausamere Kriege führen und führen lassen, mit Millionen an zivilen Opfern: Afghanistan, Pakistan, Irak, Syrien, Libyen, Somalia, Mali, Sudan und jetzt der Jemen. Die Liste wird immer länger !

Hinrichtungen mit Drohnen, Folterzentren wie Abu Ghraib und Guantanamo, das deutsche Massaker in Kundus, der massenhafte Einsatz radioaktiver Munition, die weitgehende Zerstörung der irakischen Stadt Fallutscha (etwa so groß wie Kiel) sind Kennzeichen dieser barbarischen Kriege, an deren Dauerzustand und Unbegrenztheit wir gewöhnt werden sollen. Vor allem durch diese Verhältnisse sind die ideologisch und religiös fehlgeleiteten islamistischen Reaktionen zu erklären.
Wir müssen uns mit der Verantwortlichkeit der Herrschenden in den Industriestaaten für die Verelendung in den Herkunftsländern der Flüchtlinge auseinandersetzen und die notwendigen politischen Konsequenzen ziehen.

Für eine solidarische, ökologische und friedliche Weltwirtschaftsordnung,
gegen Waffenexport und gegen eine Welt der Kriege!

Solange wir diese Ziele nicht erreicht haben, müssen wir alle Migranten bedingungslos aufnehmen, menschenwürdig behandeln und schützen!

Hans-Heinrich Rohwer, bereits als Rede am 27. Januar 2015 auf dem Rathausplatz, Kiel

Quelle: https://friedensratschlag.de/friedensratschlag-2023/vortragstext-krone-schmalz/

 

Frieden und gemeinsame Sicherheit auch mit Russland

Es ist schon abenteuerlich wie viele Selbstverständlichkeiten mittlerweile in Frage gestellt werden. Dazu gehört eben auch, dass es Frieden und Sicherheit auf dem europäischen Kontinent nur mit Russland geben kann und nicht ohne, und gegen Russland – so wie jetzt praktiziert – schon gar nicht.

Ich mache keinen Hehl aus meiner Fassungslosigkeit angesichts der kriegstreiberischen Politik und der gleichlautenden medialen Begleitung und ich hätte nie für möglich gehalten, dass es so weit kommt.

Die Ikonen der Entspannungs- und Friedenspolitik von SPD und Grünen, die nicht mehr unter uns weilen, werden in ihren Gräbern rotieren angesichts dessen, was aus den Grundlagen geworden ist, die sie mit Vernunft und Geduld geschaffen haben. In dem Zusammenhang kann ich auch gar nicht anders als den Namen Michail Gorbatschow zu erwähnen. Er hat nun wirklich alles riskiert, ohne Rücksicht auf sich und seine Familie, um aus der Ost-West-Konfrontation herauszukommen und das Kalte Kriegs Denken zu überwinden. Gerade wir Deutschen müssten uns jeden Tag dreimal bei ihm entschuldigen dafür, wie wir mit den Ergebnissen seiner Arbeit umgegangen sind und weiter umgehen.

Aber es nützt nichts sich zu echauffieren. Wer das Schlimmste verhindern will, muss argumentieren, muss aufklären, muss Lügen entlarven, und darf vor allen Dingen nicht resignieren oder sich vom Gegenwind umpusten lassen.

Und – so schwer es auch fallen mag – muss nach wie vor den Dialog, die Debatte anbieten und nicht selbst zur Polarisierung beitragen.

Wenn man sich Gedanken darüber macht, welche Politik gegenüber Russland die richtige ist, dann gilt es eine Grundsatzfrage zu klären. Nämlich:

Ist Russland auf einem expansionistischen Kurs, bei dem die Ukraine nur den Anfang darstellt? Oder ging und geht es Russland um eine funktionierende Sicherheitsarchitektur? Darüber kann und muss man streiten. Aber für diesen seriösen Streit gibt es keinen Raum.

Im Gegenteil: die gängige Lesart ist klar. Putin war schon immer ein Monster und jetzt zeigt er sich auch so. Und die sogenannten Entspannungspolitiker früherer Jahre tragen eine Mitschuld an diesem Krieg, weil Putin nur klare Kante versteht.

Man könnte es natürlich auch umdrehen: hätten sich die Entspannungspolitiker mit ihrer Politik wirklich durchsetzen können, dann hätte es diesen Krieg nie gegeben. Stichwort: NATO-Osterweiterung, Geltung von Abrüstungsverträgen.

Um über diese Dinge substanziell zu diskutieren, ist es nötig, belastbare Grundlagen zu liefern, sowohl in den Medien als auch in der Wissenschaft. Es ist nötig, auch wenn es schwerfällt, politische Analyse nicht durch Moral ersetzen zu wollen. Es ist nötig Wissenschaft und Aktionismus auseinanderzuhalten und denjenigen Einhalt zu gebieten, die ihre persönlichen Ansichten mit dem Gütesiegel von Wissenschaftlichkeit versehen, obwohl sie in dieser Angelegenheit nie geforscht haben.

Es ist nötig, die Räume zu schaffen, in denen um die besten und die praktikabelsten Lösungen gestritten werden kann – das ist durchaus nicht immer identisch, leider.

Aber dazu ist es nötig, wieder mit dem Begriff Respekt zu operieren. Seinem Gegenüber bis zum Ende des Gedankens zuzuhören, selbst wenn man sich nicht leiden kann. Mit Engagement überzeugen zu wollen, aber eben auch die innere Bereitschaft und die Größe zu haben, sich selbst überzeugen zu lassen.

Margot Friedländer, die fast schon legendäre Überlebende des Holocaust, mittlerweile 102 Jahre alt, hat mal gesagt: „Du kannst nicht jeden Menschen lieben, aber Du kannst jeden Menschen respektieren.“ Und wenn die das sagt, dann hat es eine ganz besondere Wucht und Bedeutung.

Dann werfen wir doch mal einen respektvollen Blick auf die russische Perspektive zum Thema Sicherheit und Frieden, ohne von vorneherein alles als Propaganda abzuqualifizieren. – Propaganda können alle, das ist keine Spezialität Moskaus.

Da ist es zunächst mal hilfreich die beiden großen Kontrahenten des Kalten Krieges – die USA und die Sowjetunion bzw. Russland – geografisch zu vergleichen. Die USA haben westlich und östlich von sich Ozeane vor der Tür, keine feindlich gesinnten Länder. Im Norden befindet sich Kanada, selbst NATO-Mitglied und im Süden Mexiko, von dem aus nun wirklich keine militärische Gefahr zu erwarten ist.

Bei Russland sieht die Sache anders aus. Russlands Landesgrenzen – also jetzt wirklich Landgrenzen, nicht die Küsten – erstrecken sich über ca. 20.000 km.

Ohne das jetzt hier im Einzelnen aufzuzählen: Russland ist eingekreist von NATO-Ländern und NATO-Stützpunkten, vor allem Richtung Westen.

Die USA unterhalten zahlreiche Militärbasen in Europa. In Polen und Rumänien wurden Raketenabwehrsysteme installiert, die sich technisch relativ leicht in Angriffssysteme umrüsten lassen.

Nebenbei: Russland hat nur 11 Stützpunkte außerhalb des eigenen Landes, davon sind 9 in unmittelbarer Nähe Russlands; die USA unterhalten knapp 800 Stützpunkte in etwa 70 Ländern dieser Welt.

Ist es da wirklich so schwer nachzuvollziehen, dass Russland ein Interesse an einer verlässlichen Sicherheitsarchitektur hat? Wie kann man ernsthaft annehmen, dass sich Russland von der immer weiter heranrückenden NATO inklusive ihrer Infrastruktur nicht bedroht fühlen könnte, schon gar, wenn es auch Länder wie Georgien oder die Ukraine betrifft?

Eine kluge Sicherheitspolitik müsste diese Lage doch einkalkulieren. Das ist aber nicht einmal im Ansatz auf irgendeiner Agenda zu finden.

Fakt ist, dass bei nahezu allen Konflikten und Kriegen auf unserem Planeten mehr als zwei Kontrahenten die Finger im Spiel haben. Auf der Suche nach Zusammenhängen – die man kennen muss, um zu tragfähigen Lösungen zu kommen – empfiehlt es sich, die jeweiligen Interessen herauszufinden und zu benennen.

Das ist meist um ein Vielfaches komplizierter als es auf den ersten Blick scheint, denn es gibt eben nicht die Amerikaner oder die Europäer (die noch viel weniger).

In den USA zeigt sich, dass sich die Kräfte, die das „leidige Thema Ukraine“ abhaken möchten, verstärkt zu Wort melden. Wobei die Hardliner eher bei Blinken im Außenministerium sitzen, also bei den Zivilisten, und die mehr Verhandlungsbereiten ausgerechnet im Verteidigungsministerium.

Uns in Europa sollte jedenfalls klar sein, dass es den Blickwinkel verändert, wenn sich zwischen dem eigenen Land und dem Kriegsgebiet ein breiter Ozean befindet.

Und – dass sich die außenpolitischen Entscheidungen der immer noch stärksten Macht der Welt durchaus an deren innenpolitischen Überlegungen orientieren, schon gar in Vor-Wahl-Zeiten wie jetzt.

Und die Ukraine wäre nicht das erste Land, aus dem sich die USA überhastet zurückziehen.

Das Interesse des sog. militär-industriellen Komplexes ist klar. An bessere Zeiten kann man sich kaum erinnern. Ein lang andauernder Abnutzungskrieg ist ein gutes Geschäft mit dem erfreulichen Nebenaspekt, dass Russland geschwächt wird. Waffenstillstand oder gar Friedensverhandlungen stehen da eher nicht an erster Stelle.

Das Problem in Europa besteht darin, dass es trotz aller beschworenen Gemeinsamkeit keine geschlossene europäische Außenpolitik gibt, schon gar nicht gegenüber Russland. Aus meiner Sicht war es ein großer Fehler, dass man in der EU immer mehr denjenigen Ländern das Sagen in der europäischen Außenpolitik überlassen hat, die noch offene Rechnungen mit Moskau haben. Für Länder wie Polen oder die baltischen Staaten funktioniert Moskau nach wie vor als Synonym für Sowjetunion und schlimme Erinnerungen an sowjetische Zeiten. Das ist menschlich verständlich, aber so macht man keine zukunftsorientierte Friedenspolitik. Das hätte der EU vielleicht früher auffallen sollen.

Jedenfalls ist es in der EU nicht gelungen, den historisch verständlichen Ängsten Polens, Estlands, Lettlands und Litauens und den historisch verständlichen Ängsten Russlands – da hilft ein Blick in die Geschichte und ein Blick auf die Landkarte, um deren Ängste zu verstehen –
es ist in der EU nicht gelungen, diesen jeweils verständlichen Ängsten mit einer konstruktiven Politik zu begegnen, die Interessenausgleich und Friedenssicherung als Ziel hat.

Wir haben uns durch die Aufnahme osteuropäischer Länder in die EU – grundsätzlich eine super Idee – deren Probleme mit Russland ins Bündnis geholt. In der NATO haben wir im Übrigen genau das gleiche. Es ist ein Jammer, dass sich die EU ihr ursprünglich recht gutes Verhältnis mit Russland dadurch nachhaltig ruiniert hat.

Weiter mit den Interessen.

Sowohl in der Ukraine als auch in Russland müsste das Interesse eigentlich sein, diesen Krieg so schnell wie möglich zu beenden. Jeden Tag sterben sehr viele Menschen, wie viele genau, erfahren wir gar nicht.

Sowas wie Kriegsmüdigkeit – ein perverser Begriff, wie ich finde – ist schon eine ganze Weile auch in der Ukraine ein Thema. Die Berichterstattung darüber musste man allerdings mit der Lupe suchen. Das scheint sich jetzt ein wenig zu ändern, wobei man in den sogenannten Leitmedien spürt, wie wenig man das wahrhaben will. Aber die Heroisierung des ukrainischen Präsidenten bricht langsam in sich zusammen.

Die Frage bleibt, wo ist der Ausweg aus dieser verfahrenen Situation?

Insofern wäre so ein Friedensplan, wie die Chinesen ihn vorgelegt haben, gar nicht so falsch, denn China bezieht sich darin nicht nur auf UN-Resolutionen, in denen es heißt, dass Verhandlungen so schnell wie möglich aufgenommen werden sollen, sondern China spricht von „resume talks“, also Gespräche wiederaufnehmen, und zwar an dem Punkt, an dem man Anfang April 2022 aufgehört hat, weil Boris Johnson, der damalige britische Premier, meinte, das sei nicht im Interesse der westlichen Staatengemeinschaft. Da liegt ja was auf dem Tisch, wo man anknüpfen kann, ohne sich mit den jetzt von beiden Seiten vorgetragenen Maximalforderungen herumschlagen zu müssen.

Aber wird darüber medial oder politisch ernsthaft debattiert? Nein. Denn was kann aus China schon Vernünftiges kommen?

Das ist ja auch so ein Ding: es sind nicht die Europäer, die sich in Moskau und Kiew die Klinke in die Hand geben auf der Suche nach Lösungen, sondern wie gesagt Chinesen oder Brasilianer oder Afrikaner, aber eben keine Abordnungen aus der EU. Ein deutsch-französisches Tandem wäre ja auch denkbar.

Absolut unverständlich, dass da nix kommt, denn wenn etwas aus dem Ruder läuft, dann wird Europa weiter zerstört oder gegebenenfalls vernichtet, die Regionen der Welt, aus denen Verhandlungsdelegationen aktiv sind, eher weniger. Das begreife wer will.

Also – Wo lässt sich in dieser hochgradig komplizierten Gemengelage ansetzen?

Von ukrainischer Seite heißt es ja, Russland hat sich diverse Gebiete rechtswidrig angeeignet, also muss es sich auch vollständig aus diesen Gebieten zurückziehen, bevor man überhaupt an Verhandlungen denken kann. Diese Position wird auch von nicht wenigen westlichen Staaten vertreten, die die Ukraine unterstützen.

Das mag ja nach Gerechtigkeit klingen, ist aber naiv und unrealistisch. Das wissen auch die Entscheidungsträger in Washington und in westlichen europäischen Hauptstädten.

Es wird gar nichts anderes übrigbleiben, als diese territorialen Fragen, so gut es geht, auszuklammern. So sehen das auch diverse Forschungsinstitute, die dazu konkrete Vorschläge machen und zivile Verwaltungen unter internationaler Kontrolle ins Spiel bringen. Es gibt auch einen sehr detaillierten Plan, den Harald Kujat, Horst Teltschik, Hajo Funke und Peter Brandt ausgearbeitet haben. Jeder ein Profi auf seinem Gebiet. Aber meines Wissens ist diese Abhandlung nur in der Berliner Zeitung aufgetaucht, nachdem sie in der Schweiz erstmals veröffentlicht wurde. In Deutschland wird so etwas eher als Vaterlandsverrat aufgefasst und im besten Falle ignoriert.

Dabei gibt es historische Vorbilder, an denen man sich grob orientieren könnte.

Nach dem Ersten Weltkrieg wollte sich Frankreich das Saarland einverleiben, aber im Versailler Vertrag wurde es 1919 zum Mandatsgebiet des Völkerbundes erklärt, der Vorläuferorganisation der UNO. Der Völkerbund stellte das Saarland 1920 unter französische Verwaltung. Völkerrechtlich blieb es allerdings Teil des Deutschen Reiches. Nach 15 Jahren, also 1935, fand eine Volksabstimmung statt, in der sich 90 Prozent gegen eine Angliederung an Frankreich und für eine Rückkehr ins Deutsche Reich entschlossen.

Was wäre denn, wenn die Krim und die anderen von Russland beanspruchten Gebiete zum Mandatsgebiet der UN erklärt würden, sie völkerrechtlich bei der Ukraine blieben, Russland aber mit der Verwaltung betraut wäre? Auf diese Weise würde sich am Status quo zunächst nicht viel ändern, er bekäme aber einen rechtlichen Unterbau. Nach einer Frist, über die man sich verständigen müsste, könnte die UN einen Volksentscheid durchführen, in dem sich die Bevölkerung für die Ukraine, für Russland oder eine vollkommene Unabhängigkeit aussprechen könnte. Dieser Volksentscheid wäre international anerkannt und würde respektiert werden müssen.

Das oder etwas Vergleichbares kann natürlich nur funktionieren, wenn der politische Wille da ist, der politische Wille aus diesem Teufelskreis auszubrechen und sich von den Kategorien des Hasses und der Vergeltung zu befreien.

In anderen Ländern gab es diesen politischen Willen offenbar. Nehmen Sie Südafrika. Nach Jahrzehnten der Apartheidpolitik mit unvorstellbaren Grausamkeiten hat dieses Land mit Hilfe einer Versöhnungskommission einen Neuanfang geschafft. In Spanien war es ein „Pakt des Vergessens“, um nach den Verbrechen der Franco Diktatur neu anfangen zu können. Es gibt noch mehr solcher Beispiele. Aber man muss es wollen.

Wenn man jetzt einen intensiveren Blick auf die Ukraine wirft, dann spielen folgende Punkte eine Rolle:

Als Erstes fällt auf, dass es zwischen dem ukrainischen Präsidenten und seiner Militärführung schon länger Differenzen gibt. Während Selenskyj Durchhalteparolen verbreitet, scheint sich in der militärischen Führung immer mehr die Erkenntnis durchzusetzen, dass die Ukraine – ob mit oder ohne westliche Unterstützung – diesen Krieg nicht gewinnen kann. Das ist das eine.

Wenn man sich das Sicherheitsbedürfnis der Ukraine anschaut, dann kann man ja durchaus die Frage stellen, ob das zwingend mit einer NATO-Mitgliedschaft verbunden sein muss oder ob es da nicht auch andere Möglichkeiten gibt, die sowohl dem Sicherheitsbedürfnis der Ukraine Rechnung tragen als auch den Bedenken Moskaus, ein mehr oder weniger feindliches Militärbündnis unmittelbar vor der Haustür zu haben. Sowas ist ja lösbar, wenn man aufhört, moralisch aufgeladene und an Ideologien orientierte Politik zu betreiben.

Was unbedingt ins Blickfeld gehört, ist die Tatsache, dass die Ukraine aufgrund ihrer Geschichte und ihrer geografischen Lage ein Identitätsproblem hat, das man ansprechen muss, um es lösen zu können. Der innerukrainische Streit über ukrainische Identität ist etwa 150 Jahre alt und bis heute nicht beigelegt. Die Ukraine, wie wir sie heute kennen, gibt es seit 1991, also etwa 32 Jahre. Mit anderen Worten: der Ukraine fehlt eine staatliche Kontinuität. Das muss sich nicht negativ auswirken, wenn den unterschiedlichen Identitäten politisch Rechnung getragen wird. Das war und ist aber nicht der Fall. Gebiete im Osten und Süden des Landes sind von Kiew systematisch vernachlässigt worden und man hat mehrfach versucht, alles Russischsprachige beiseite zu drängen.

Ich will nicht zu sehr spekulieren, aber ich könnte mir gut vorstellen, dass das, was wir jetzt haben, hätte verhindert werden können, wenn die Ukraine mit Blick auf die Innenpolitik eine Föderalisierung betrieben hätte und mit Blick auf die Außenpolitik eine Orientierung in beide Richtungen – nach Westen und nach Russland. Russland hat sich nie daran gestört, wenn die Ukraine ihre Fühler nach Westen ausgestreckt hat, solange das nicht bedeutete, gleichzeitig sämtliche Kontakte Richtung Russland abzubrechen.

So oder so Schnee von gestern, aber trotzdem nicht unerheblich, denn das sind die Dinge, die für eine tragfähige Lösung in der Zukunft eine Rolle spielen werden. Das lässt sich nicht dadurch aushebeln, dass politische Kräfte sowohl in der Ukraine als auch in der westlichen Staatengemeinschaft mantraartig wiederholen, wie sehr sich das Land doch nach Einbindung in den Westen sehnt.

Vielleicht an der Stelle ein kurzer Rückgriff auf das EU-Assoziierungsabkommen von 2014. Es war ein großer Fehler, Russland nicht mit in die Verhandlungen einzubeziehen. Diejenigen, die von Anfang an geraten haben, Brüssel, Kiew und Moskau sollten gemeinsam erarbeiten, wie man das zum Vorteil aller Beteiligten gestaltet, haben sich leider nicht durchsetzen können.

Ökonomisch war es für die Ukraine jedenfalls ein Wahnsinn, die Verbindungen zu Russland zu kappen. Es ging immerhin um zwei Drittel aller Exporte. Nikolai Petro, US-amerikanischer Politikwissenschaftler und Professor an der University of Rhode Island spricht von „Selbstmordökonomie“ und führt das auch im Einzelnen auf. Er hat ein sehr lesenswertes Buch unter dem Titel „The Tragedy of Ukraine“ geschrieben. (Die Tragödie der Ukraine)

Jedenfalls habe die Kombination von Marktöffnung Richtung Westen und Trennung von Russland der Ukraine nicht gutgetan, so Petro, weder finanziell noch wirtschaftlich noch demographisch. Aber es war aus rein ideologischen Gründen angesagt, sich um jeden Preis von Russland abzuwenden.

Aus meiner Sicht ist es immer und überall ein Fehler, ideologische statt sachorientierter Politik zu betreiben. Das ist leider kein Alleinstellungsmerkmal der Ukraine.

Militärische Stärke und Entspannung – das muss durchaus kein Widerspruch sein, aber dazu gehört eine Politik, die Verhandlungen und Diplomatie höher bewertet als Waffenlieferungen. Und davon scheint im Moment keine Rede zu sein.

Wie groß das Risiko ist, dass „unsere“ Politik mittlerweile eingeht, und zwar ohne sich dafür sachlich zu rechtfertigen, zeigt folgender Punkt. Bundeskanzler Scholz betont ja immer mal wieder, man wolle trotz der Unterstützung der Ukraine und trotz der Waffenlieferungen nicht zur Kriegspartei werden. Das ist ja durchaus von existenzieller Bedeutung für uns alle. Und deshalb ist es so wichtig zu wissen, wo genau da die Grenzlinie verläuft, die man möglichst nicht überschreiten sollte.

Dazu gibt es eine erhellende Auskunft des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages. Auf eine entsprechende Anfrage war die Antwort – und zwar bereits am 16. März 2022 – also schon vor gut anderthalb Jahren: nicht mit den Waffenlieferungen, aber mit der Ausbildung von Soldaten verlasse man den gesicherten Bereich der Nicht-Kriegsteilnahme. D.h. wir befinden uns bereits seit geraumer Zeit außerhalb des gesicherten Bereichs. Die Bundeswehr hat sogar eine Führungsrolle innerhalb eines EU-Ausbildungsprogramms übernommen.

Im vergangenen Monat hat der dafür zuständige Bundeswehr Generalmajor Christian Freuding nicht ohne Stolz verkündet, dass seit Kriegsbeginn 8.000 ukrainische Soldaten eine Ausbildung bei der Bundeswehr durchlaufen haben.

Es hängt also nicht mehr von uns ab, ob wir Kriegspartei sind oder nicht, sondern von der Wahrnehmung in Moskau.

Müsste über derlei – im wahrsten Sinne des Wortes – existenzielle Fragen nicht offen und öffentlich debattiert werden? Wie weit gehen wir denn in der Unterstützung der Ukraine, wenn wir damit den eigenen Interessen schaden, nicht nur wirtschaftlich, sondern mit Blick auf Krieg und Frieden? Was ist denn mit dem Eid, den Bundeskanzler und Minister bei Amtsantritt feierlich ablegen, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden? Was ist denn mit dem Friedensgebot im Grundgesetz?

Diese Debatten finden in der sogenannten Mitte der Gesellschaft eher nicht statt. Ich halte das nicht nur für einen Fehler, sondern für systemgefährdend, denn es führt zur Aushöhlung demokratischen Denkens und das sollten wir uns in Deutschland nach unserer Vorgeschichte nicht leisten.

Unsere Demokratie wird auch nicht in der Ukraine verteidigt, genauso wenig wie damals am Hindukusch. Das ist nur eine besonders hinterhältige Form Kriegseinsätze zu rechtfertigen und moralischen Druck aufzubauen. Der Kampf um unsere Demokratie findet nicht im Ausland statt, sondern innerhalb unserer Landesgrenzen. Und da ist weiß Gott genug zu tun.

Ich habe den Eindruck, dass sich die Mehrheit in unserer Gesellschaft – schon gar die schweigende – weniger Kriegsrhetorik und mehr diplomatische Ansätze wünscht; dass sie nichts von diesen Ausschluss- und Verweigerungspraktiken hält, nach dem Motto: man kann erst reden, wenn diese oder jene Vorbedingung erfüllt ist. Menschen haben in der Regel ein feines Gespür für Symbolpolitik und wünschen sich eher konstruktive Aktivitäten als Verweigerung. Das ist zumindest mein Eindruck.

Den folgenden Gedanken möchte ich zum Thema Interessen nicht unterschlagen.

Seit ca. 100 Jahren ist es das erklärte politische Ziel der USA, eine enge Zusammenarbeit auf dem eurasischen Kontinent zu verhindern. Das ist keine Verschwörungstheorie, sondern in offiziellen Papieren nachzulesen. Aus Sicht der USA ist das ein legitimes Ziel, das sie – professionell wie meistens – nun auch erreicht haben.

Der Krieg ist ein gigantisches Wirtschaftsförderprogramm. Nebenbei: im Gegensatz zu Deutschland und meines Wissens auch den anderen Ländern der EU verschenken die USA ihre Waffen nicht, sondern leasen sie und für einen Teil übernimmt die EU die Kosten. Und – die USA werden endlich in Mengen ihr teures und umweltschädliches Fracking-Gas los.

Es wird Zeit europäische Interessen zu definieren – schwer genug, aber für Europa lebensnotwendig, denn um uns herum bilden sich neue Allianzen von Ländern, die die europäisch-amerikanische Bevormundung satthaben und eigenes Selbstbewusstsein entwickeln. Nur jemand mit eurozentristischem Blick und einer gewissen Arroganz kann behaupten Russland sei isoliert. Der Kollege Gabor Steingart geht noch einen Schritt weiter. Er hat gesagt: Russland ist nach dem Überfall auf die Ukraine nicht der Paria der internationalen Gemeinschaft geworden, sondern das neue anti-westliche Rollenmodell.

Jetzt werden Weichen gestellt, mit weitreichenden Konsequenzen. In einer Demokratie, die diesen Namen verdient, muss darüber offen und angstfrei debattiert werden.

Dazu passt eine Aussage von Alfred de Zayas, US-amerikanischer Völkerrechtler und ehemaliger UN-Beamter im Menschenrechtsrat und da zuständig gewesen für „die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung“. Er hat gesagt: „Sowohl Amerikaner wie auch Europäer haben kein Recht, das Überleben des Planeten wegen einer innereuropäischen Querele aufs Spiel zu setzen. Für den durchschnittlichen Afrikaner, Asiaten oder Lateinamerikaner ist es völlig unerheblich, ob die Krim zu Russland oder zur Ukraine gehört. Darüber dürfe sich niemals ein Atomkrieg entfachen.“

Zur Blickwinkelerweiterung gehört eben auch, sich klarzumachen, wie viele Millionen und Milliarden Menschen in anderen Teilen der Welt sitzen mit völlig anderen Interessen, und nicht so zu tun, als hätten „Wir“ – was immer das genau ist – die Deutungshoheit über globale Prozesse.

Ich würde mir wünschen, dass junge Menschen, die mit ihrem Engagement im Kampf gegen den Klimawandel Gesellschaften weltweit aufgerüttelt haben, das Thema Frieden entdecken und sich dafür mit der gleichen Kraft einsetzen. Über die Meinungen, wie man das dann am besten macht, darf und muss gestritten werden.

Mündige Bürger sind in einer Demokratie systemrelevant – eigentlich auch so eine abhanden gekommene Selbstverständlichkeit, sonst hätte Deutschland die Bildung nicht so sträflich vernachlässigt. – Ein mündiger Bürger muss in der Lage sein, Entscheidungen zu treffen, die Konsequenzen seiner Entscheidung zu überblicken und die Verantwortung dafür zu tragen. Wenn das nicht der Fall ist, dann taugt die Demokratie nicht viel.

Die Voraussetzung dafür, fundierte Entscheidungen zu treffen, ist: so umfassend wie möglich informiert zu sein, über Hintergründe Bescheid zu wissen, Zusammenhänge zu erkennen. Das ist anstrengend und mühsam. Niemand hat behauptet, dass Demokratie eine bequeme Angelegenheit ist.

Inhaltliche Auseinandersetzungen mit faktenbasierten Meinungen, streitbare respektvolle Debatten um die besten Lösungen – darum geht es. Um nicht mehr, aber auch um nicht weniger.

Tja, und nun? Immer modernere und schlagkräftigere Waffensysteme sind im Gespräch beziehungsweise werden geliefert oder zumindest zugesagt. Auffällig ist dabei die Zurückhaltung der USA (damit meine ich jetzt nicht die Blockade der Republikaner, bereits beschlossene Mittel nicht zur Verfügung zu stellen) sondern die Tatsache, dass sich die USA trotz umfangreicher Lieferungen – bisher jedenfalls – gewisse Grenzen gesetzt haben. Dazu gehört die Überlegung, keine Waffensysteme zur Verfügung zu stellen, die in der Lage sind, weit ins russische Kernland vorzudringen.

Im Gegensatz zu europäischen Ländern sind die USA nämlich nicht davon überzeugt, dass sich die Ukraine an ihre offiziellen Zusagen hält, nur das eigene Land zu verteidigen und russisches Territorium nicht einzubeziehen. Deshalb haben die USA z.B. bestimmte Raketenwerfer nur mit Projektilen geliefert, die eine Reichweite von 85 statt 150 km haben.

General a.D. Harald Kujat, den ich eben schon erwähnt habe, der ehemalige Vorsitzende des NATO- Militärausschusses – immerhin die höchste militärische Autorität der NATO – hat sich zu dieser amerikanischen Zurückhaltung in einem Artikel neulich folgendermaßen geäußert: „Die USA überlassen es den Europäern, amerikanische F-16 zu liefern. Dass die Ukraine entgegen ihrer Zusicherung kürzlich Streumunition bei einem Angriff auf das Stadtgebiet von Donezk gegen zivile Ziele eingesetzt hat, bestätigt die amerikanische Zurückhaltung.“

Währenddessen wird in Deutschland geprüft, ob man das hochleistungsfähige Taurus System, diesen Luft-Boden-Marschflugkörper mit einer Reichweite von bis zu 500 Kilometern an die Ukraine abgibt.

Zwei Schlussbemerkungen. Die eine hat mit meinem Berufsstand zu tun.

Journalisten sind mit ihrer Arbeit nicht dafür verantwortlich Frieden zu erhalten, weder den inneren noch den äußeren, aber ihnen sollte schon klar sein, dass sie mit ihrer Arbeit dazu beitragen können, Frieden zu gefährden, sowohl den inneren als auch den äußeren. – Vielleicht muss man das dem einen oder anderen mal unmissverständlich klar machen, respektvoll aber deutlich.

Die zweite Bemerkung. Da werden Sie sich vermutlich wundern, dass ich Thomas Gottschalk erwähne. Ich gehe mal davon aus, dass den auch hier jeder kennt.

Sie haben ja vielleicht mitbekommen, dass er neulich seine letzte Wetten dass-Sendung moderiert hat. Und in seiner Begründung, warum er nicht weitermacht, hat Gottschalk unter anderem folgendes gesagt, fast nebenbei: er habe bisher zu Hause immer genauso geredet wie hier auf der Bühne, aber offenbar ginge das so nicht mehr, und diesen Spagat wolle er sich nicht zumuten. Ich muss sagen, ich fand’s toll, wie dieser Publikumsliebling aus der Unterhaltung kurz und prägnant die Sache auf den Punkt gebracht hat. Was für eine Aussage in unserer freiheitlich demokratischen Gesellschaft.

Also – diejenigen, die sich dafür einsetzen, laufende Kriege zu beenden und künftige zu verhindern, müssen jetzt dringend Mittel und Wege finden, wieder als gestalterische Kraft in der Gesellschaft zu wirken. Das wird ohne junge Menschen nicht gehen.