Daten/Fakten  

   

Kommentar/Leserbrief

Zu den Ursachen der Flüchtlingskrise

Die vorbehaltlose Aufnahme und menschenwürdige Behandlung von Flüchtlingen wird von vielen Bürgern solidarisch praktiziert und sollte für Alle eine Selbstverständlichkeit sein.
Leider stellt das Gegenteil oft eher die Regel denn die Ausnahme dar:

Eine brutale Abschottung auf See und zu Land wird durch Frontex und andere Institutionen praktiziert; die Unterbringung in überfüllten Heimen und Abschiebeknästen ist oft belastend, drangsalierend und menschenunwürdig, das Betreuungspersonal häufig ohne adäquate Qualifikation, repressiv und manchmal auch gewalttätig; das oft jahrelange, perspektivlose isolierte Dahinvegetieren begleitet von angstauslösenden Bedrohungen durch Rechtsradikale und Abschiebungen kennzeichnen die Lage vieler, oft bereits vorher traumatisierter MigrantInnen. Geschätzte Zehntausende haben in den letzten Jahren das Martyrium der Flucht - insbesondere durch Wüstengebiete und über See - sowie die Behandlung in den Zielländer nicht überlebt.

Ca. 50 Millionen Menschen sollen derzeit auf der Flucht sein und es werden immer mehr. Ihre verzweifelte Situation präsentiert allenfalls die Spitze des Eisbergs bezogen auf das Elend, das wir in ihren Herkunftsländern vorfinden. Für diesen weltweit verheerenden Zustand sind in erster Linie die Eliten in den Industrienationen verantwortlich.
In ihrem konkurrierenden Kampf um Ressourcen und geostationäre Positionierungen werden ganze Regionen verwüstet. Dürren, Überschwemmungen sowie Bodenerosionen mit anschließenden Hungersnöten werden durch eine verantwortungslose Klimapolitik hervorgerufen.

Ferner sind zu nennen: Landgrabbing und Landraub durch internationale Konzerne, katastrophale ökologische Schäden durch eine rabiate Ausplünderung von Bodenschätzen (z. B. durch Uranabbau im Niger), Zerstörung lokaler Märkte durch diskriminierende Handelsgesetze, Plünderung insbesondere der küstennahen Fischfanggründe sowie ein grenzenloser profitträchtiger Export von Waffen an die regionalen „Verbündeten und Statthalter“, die oft brutale Despoten sind. Um die Ausbeutung sicherzustellen müssen die Nato, USA und Co. immer grausamere Kriege führen und führen lassen, mit Millionen an zivilen Opfern: Afghanistan, Pakistan, Irak, Syrien, Libyen, Somalia, Mali, Sudan und jetzt der Jemen. Die Liste wird immer länger !

Hinrichtungen mit Drohnen, Folterzentren wie Abu Ghraib und Guantanamo, das deutsche Massaker in Kundus, der massenhafte Einsatz radioaktiver Munition, die weitgehende Zerstörung der irakischen Stadt Fallutscha (etwa so groß wie Kiel) sind Kennzeichen dieser barbarischen Kriege, an deren Dauerzustand und Unbegrenztheit wir gewöhnt werden sollen. Vor allem durch diese Verhältnisse sind die ideologisch und religiös fehlgeleiteten islamistischen Reaktionen zu erklären.
Wir müssen uns mit der Verantwortlichkeit der Herrschenden in den Industriestaaten für die Verelendung in den Herkunftsländern der Flüchtlinge auseinandersetzen und die notwendigen politischen Konsequenzen ziehen.

Für eine solidarische, ökologische und friedliche Weltwirtschaftsordnung,
gegen Waffenexport und gegen eine Welt der Kriege!

Solange wir diese Ziele nicht erreicht haben, müssen wir alle Migranten bedingungslos aufnehmen, menschenwürdig behandeln und schützen!

Hans-Heinrich Rohwer, bereits als Rede am 27. Januar 2015 auf dem Rathausplatz, Kiel

Quelle: https://friedensratschlag.de/friedensratschlag-2023/vortragstext-krone-schmalz/

 

Frieden und gemeinsame Sicherheit auch mit Russland

Es ist schon abenteuerlich wie viele Selbstverständlichkeiten mittlerweile in Frage gestellt werden. Dazu gehört eben auch, dass es Frieden und Sicherheit auf dem europäischen Kontinent nur mit Russland geben kann und nicht ohne, und gegen Russland – so wie jetzt praktiziert – schon gar nicht.

Ich mache keinen Hehl aus meiner Fassungslosigkeit angesichts der kriegstreiberischen Politik und der gleichlautenden medialen Begleitung und ich hätte nie für möglich gehalten, dass es so weit kommt.

Die Ikonen der Entspannungs- und Friedenspolitik von SPD und Grünen, die nicht mehr unter uns weilen, werden in ihren Gräbern rotieren angesichts dessen, was aus den Grundlagen geworden ist, die sie mit Vernunft und Geduld geschaffen haben. In dem Zusammenhang kann ich auch gar nicht anders als den Namen Michail Gorbatschow zu erwähnen. Er hat nun wirklich alles riskiert, ohne Rücksicht auf sich und seine Familie, um aus der Ost-West-Konfrontation herauszukommen und das Kalte Kriegs Denken zu überwinden. Gerade wir Deutschen müssten uns jeden Tag dreimal bei ihm entschuldigen dafür, wie wir mit den Ergebnissen seiner Arbeit umgegangen sind und weiter umgehen.

Aber es nützt nichts sich zu echauffieren. Wer das Schlimmste verhindern will, muss argumentieren, muss aufklären, muss Lügen entlarven, und darf vor allen Dingen nicht resignieren oder sich vom Gegenwind umpusten lassen.

Und – so schwer es auch fallen mag – muss nach wie vor den Dialog, die Debatte anbieten und nicht selbst zur Polarisierung beitragen.

Wenn man sich Gedanken darüber macht, welche Politik gegenüber Russland die richtige ist, dann gilt es eine Grundsatzfrage zu klären. Nämlich:

Ist Russland auf einem expansionistischen Kurs, bei dem die Ukraine nur den Anfang darstellt? Oder ging und geht es Russland um eine funktionierende Sicherheitsarchitektur? Darüber kann und muss man streiten. Aber für diesen seriösen Streit gibt es keinen Raum.

Im Gegenteil: die gängige Lesart ist klar. Putin war schon immer ein Monster und jetzt zeigt er sich auch so. Und die sogenannten Entspannungspolitiker früherer Jahre tragen eine Mitschuld an diesem Krieg, weil Putin nur klare Kante versteht.

Man könnte es natürlich auch umdrehen: hätten sich die Entspannungspolitiker mit ihrer Politik wirklich durchsetzen können, dann hätte es diesen Krieg nie gegeben. Stichwort: NATO-Osterweiterung, Geltung von Abrüstungsverträgen.

Um über diese Dinge substanziell zu diskutieren, ist es nötig, belastbare Grundlagen zu liefern, sowohl in den Medien als auch in der Wissenschaft. Es ist nötig, auch wenn es schwerfällt, politische Analyse nicht durch Moral ersetzen zu wollen. Es ist nötig Wissenschaft und Aktionismus auseinanderzuhalten und denjenigen Einhalt zu gebieten, die ihre persönlichen Ansichten mit dem Gütesiegel von Wissenschaftlichkeit versehen, obwohl sie in dieser Angelegenheit nie geforscht haben.

Es ist nötig, die Räume zu schaffen, in denen um die besten und die praktikabelsten Lösungen gestritten werden kann – das ist durchaus nicht immer identisch, leider.

Aber dazu ist es nötig, wieder mit dem Begriff Respekt zu operieren. Seinem Gegenüber bis zum Ende des Gedankens zuzuhören, selbst wenn man sich nicht leiden kann. Mit Engagement überzeugen zu wollen, aber eben auch die innere Bereitschaft und die Größe zu haben, sich selbst überzeugen zu lassen.

Margot Friedländer, die fast schon legendäre Überlebende des Holocaust, mittlerweile 102 Jahre alt, hat mal gesagt: „Du kannst nicht jeden Menschen lieben, aber Du kannst jeden Menschen respektieren.“ Und wenn die das sagt, dann hat es eine ganz besondere Wucht und Bedeutung.

Dann werfen wir doch mal einen respektvollen Blick auf die russische Perspektive zum Thema Sicherheit und Frieden, ohne von vorneherein alles als Propaganda abzuqualifizieren. – Propaganda können alle, das ist keine Spezialität Moskaus.

Da ist es zunächst mal hilfreich die beiden großen Kontrahenten des Kalten Krieges – die USA und die Sowjetunion bzw. Russland – geografisch zu vergleichen. Die USA haben westlich und östlich von sich Ozeane vor der Tür, keine feindlich gesinnten Länder. Im Norden befindet sich Kanada, selbst NATO-Mitglied und im Süden Mexiko, von dem aus nun wirklich keine militärische Gefahr zu erwarten ist.

Bei Russland sieht die Sache anders aus. Russlands Landesgrenzen – also jetzt wirklich Landgrenzen, nicht die Küsten – erstrecken sich über ca. 20.000 km.

Ohne das jetzt hier im Einzelnen aufzuzählen: Russland ist eingekreist von NATO-Ländern und NATO-Stützpunkten, vor allem Richtung Westen.

Die USA unterhalten zahlreiche Militärbasen in Europa. In Polen und Rumänien wurden Raketenabwehrsysteme installiert, die sich technisch relativ leicht in Angriffssysteme umrüsten lassen.

Nebenbei: Russland hat nur 11 Stützpunkte außerhalb des eigenen Landes, davon sind 9 in unmittelbarer Nähe Russlands; die USA unterhalten knapp 800 Stützpunkte in etwa 70 Ländern dieser Welt.

Ist es da wirklich so schwer nachzuvollziehen, dass Russland ein Interesse an einer verlässlichen Sicherheitsarchitektur hat? Wie kann man ernsthaft annehmen, dass sich Russland von der immer weiter heranrückenden NATO inklusive ihrer Infrastruktur nicht bedroht fühlen könnte, schon gar, wenn es auch Länder wie Georgien oder die Ukraine betrifft?

Eine kluge Sicherheitspolitik müsste diese Lage doch einkalkulieren. Das ist aber nicht einmal im Ansatz auf irgendeiner Agenda zu finden.

Fakt ist, dass bei nahezu allen Konflikten und Kriegen auf unserem Planeten mehr als zwei Kontrahenten die Finger im Spiel haben. Auf der Suche nach Zusammenhängen – die man kennen muss, um zu tragfähigen Lösungen zu kommen – empfiehlt es sich, die jeweiligen Interessen herauszufinden und zu benennen.

Das ist meist um ein Vielfaches komplizierter als es auf den ersten Blick scheint, denn es gibt eben nicht die Amerikaner oder die Europäer (die noch viel weniger).

In den USA zeigt sich, dass sich die Kräfte, die das „leidige Thema Ukraine“ abhaken möchten, verstärkt zu Wort melden. Wobei die Hardliner eher bei Blinken im Außenministerium sitzen, also bei den Zivilisten, und die mehr Verhandlungsbereiten ausgerechnet im Verteidigungsministerium.

Uns in Europa sollte jedenfalls klar sein, dass es den Blickwinkel verändert, wenn sich zwischen dem eigenen Land und dem Kriegsgebiet ein breiter Ozean befindet.

Und – dass sich die außenpolitischen Entscheidungen der immer noch stärksten Macht der Welt durchaus an deren innenpolitischen Überlegungen orientieren, schon gar in Vor-Wahl-Zeiten wie jetzt.

Und die Ukraine wäre nicht das erste Land, aus dem sich die USA überhastet zurückziehen.

Das Interesse des sog. militär-industriellen Komplexes ist klar. An bessere Zeiten kann man sich kaum erinnern. Ein lang andauernder Abnutzungskrieg ist ein gutes Geschäft mit dem erfreulichen Nebenaspekt, dass Russland geschwächt wird. Waffenstillstand oder gar Friedensverhandlungen stehen da eher nicht an erster Stelle.

Das Problem in Europa besteht darin, dass es trotz aller beschworenen Gemeinsamkeit keine geschlossene europäische Außenpolitik gibt, schon gar nicht gegenüber Russland. Aus meiner Sicht war es ein großer Fehler, dass man in der EU immer mehr denjenigen Ländern das Sagen in der europäischen Außenpolitik überlassen hat, die noch offene Rechnungen mit Moskau haben. Für Länder wie Polen oder die baltischen Staaten funktioniert Moskau nach wie vor als Synonym für Sowjetunion und schlimme Erinnerungen an sowjetische Zeiten. Das ist menschlich verständlich, aber so macht man keine zukunftsorientierte Friedenspolitik. Das hätte der EU vielleicht früher auffallen sollen.

Jedenfalls ist es in der EU nicht gelungen, den historisch verständlichen Ängsten Polens, Estlands, Lettlands und Litauens und den historisch verständlichen Ängsten Russlands – da hilft ein Blick in die Geschichte und ein Blick auf die Landkarte, um deren Ängste zu verstehen –
es ist in der EU nicht gelungen, diesen jeweils verständlichen Ängsten mit einer konstruktiven Politik zu begegnen, die Interessenausgleich und Friedenssicherung als Ziel hat.

Wir haben uns durch die Aufnahme osteuropäischer Länder in die EU – grundsätzlich eine super Idee – deren Probleme mit Russland ins Bündnis geholt. In der NATO haben wir im Übrigen genau das gleiche. Es ist ein Jammer, dass sich die EU ihr ursprünglich recht gutes Verhältnis mit Russland dadurch nachhaltig ruiniert hat.

Weiter mit den Interessen.

Sowohl in der Ukraine als auch in Russland müsste das Interesse eigentlich sein, diesen Krieg so schnell wie möglich zu beenden. Jeden Tag sterben sehr viele Menschen, wie viele genau, erfahren wir gar nicht.

Sowas wie Kriegsmüdigkeit – ein perverser Begriff, wie ich finde – ist schon eine ganze Weile auch in der Ukraine ein Thema. Die Berichterstattung darüber musste man allerdings mit der Lupe suchen. Das scheint sich jetzt ein wenig zu ändern, wobei man in den sogenannten Leitmedien spürt, wie wenig man das wahrhaben will. Aber die Heroisierung des ukrainischen Präsidenten bricht langsam in sich zusammen.

Die Frage bleibt, wo ist der Ausweg aus dieser verfahrenen Situation?

Insofern wäre so ein Friedensplan, wie die Chinesen ihn vorgelegt haben, gar nicht so falsch, denn China bezieht sich darin nicht nur auf UN-Resolutionen, in denen es heißt, dass Verhandlungen so schnell wie möglich aufgenommen werden sollen, sondern China spricht von „resume talks“, also Gespräche wiederaufnehmen, und zwar an dem Punkt, an dem man Anfang April 2022 aufgehört hat, weil Boris Johnson, der damalige britische Premier, meinte, das sei nicht im Interesse der westlichen Staatengemeinschaft. Da liegt ja was auf dem Tisch, wo man anknüpfen kann, ohne sich mit den jetzt von beiden Seiten vorgetragenen Maximalforderungen herumschlagen zu müssen.

Aber wird darüber medial oder politisch ernsthaft debattiert? Nein. Denn was kann aus China schon Vernünftiges kommen?

Das ist ja auch so ein Ding: es sind nicht die Europäer, die sich in Moskau und Kiew die Klinke in die Hand geben auf der Suche nach Lösungen, sondern wie gesagt Chinesen oder Brasilianer oder Afrikaner, aber eben keine Abordnungen aus der EU. Ein deutsch-französisches Tandem wäre ja auch denkbar.

Absolut unverständlich, dass da nix kommt, denn wenn etwas aus dem Ruder läuft, dann wird Europa weiter zerstört oder gegebenenfalls vernichtet, die Regionen der Welt, aus denen Verhandlungsdelegationen aktiv sind, eher weniger. Das begreife wer will.

Also – Wo lässt sich in dieser hochgradig komplizierten Gemengelage ansetzen?

Von ukrainischer Seite heißt es ja, Russland hat sich diverse Gebiete rechtswidrig angeeignet, also muss es sich auch vollständig aus diesen Gebieten zurückziehen, bevor man überhaupt an Verhandlungen denken kann. Diese Position wird auch von nicht wenigen westlichen Staaten vertreten, die die Ukraine unterstützen.

Das mag ja nach Gerechtigkeit klingen, ist aber naiv und unrealistisch. Das wissen auch die Entscheidungsträger in Washington und in westlichen europäischen Hauptstädten.

Es wird gar nichts anderes übrigbleiben, als diese territorialen Fragen, so gut es geht, auszuklammern. So sehen das auch diverse Forschungsinstitute, die dazu konkrete Vorschläge machen und zivile Verwaltungen unter internationaler Kontrolle ins Spiel bringen. Es gibt auch einen sehr detaillierten Plan, den Harald Kujat, Horst Teltschik, Hajo Funke und Peter Brandt ausgearbeitet haben. Jeder ein Profi auf seinem Gebiet. Aber meines Wissens ist diese Abhandlung nur in der Berliner Zeitung aufgetaucht, nachdem sie in der Schweiz erstmals veröffentlicht wurde. In Deutschland wird so etwas eher als Vaterlandsverrat aufgefasst und im besten Falle ignoriert.

Dabei gibt es historische Vorbilder, an denen man sich grob orientieren könnte.

Nach dem Ersten Weltkrieg wollte sich Frankreich das Saarland einverleiben, aber im Versailler Vertrag wurde es 1919 zum Mandatsgebiet des Völkerbundes erklärt, der Vorläuferorganisation der UNO. Der Völkerbund stellte das Saarland 1920 unter französische Verwaltung. Völkerrechtlich blieb es allerdings Teil des Deutschen Reiches. Nach 15 Jahren, also 1935, fand eine Volksabstimmung statt, in der sich 90 Prozent gegen eine Angliederung an Frankreich und für eine Rückkehr ins Deutsche Reich entschlossen.

Was wäre denn, wenn die Krim und die anderen von Russland beanspruchten Gebiete zum Mandatsgebiet der UN erklärt würden, sie völkerrechtlich bei der Ukraine blieben, Russland aber mit der Verwaltung betraut wäre? Auf diese Weise würde sich am Status quo zunächst nicht viel ändern, er bekäme aber einen rechtlichen Unterbau. Nach einer Frist, über die man sich verständigen müsste, könnte die UN einen Volksentscheid durchführen, in dem sich die Bevölkerung für die Ukraine, für Russland oder eine vollkommene Unabhängigkeit aussprechen könnte. Dieser Volksentscheid wäre international anerkannt und würde respektiert werden müssen.

Das oder etwas Vergleichbares kann natürlich nur funktionieren, wenn der politische Wille da ist, der politische Wille aus diesem Teufelskreis auszubrechen und sich von den Kategorien des Hasses und der Vergeltung zu befreien.

In anderen Ländern gab es diesen politischen Willen offenbar. Nehmen Sie Südafrika. Nach Jahrzehnten der Apartheidpolitik mit unvorstellbaren Grausamkeiten hat dieses Land mit Hilfe einer Versöhnungskommission einen Neuanfang geschafft. In Spanien war es ein „Pakt des Vergessens“, um nach den Verbrechen der Franco Diktatur neu anfangen zu können. Es gibt noch mehr solcher Beispiele. Aber man muss es wollen.

Wenn man jetzt einen intensiveren Blick auf die Ukraine wirft, dann spielen folgende Punkte eine Rolle:

Als Erstes fällt auf, dass es zwischen dem ukrainischen Präsidenten und seiner Militärführung schon länger Differenzen gibt. Während Selenskyj Durchhalteparolen verbreitet, scheint sich in der militärischen Führung immer mehr die Erkenntnis durchzusetzen, dass die Ukraine – ob mit oder ohne westliche Unterstützung – diesen Krieg nicht gewinnen kann. Das ist das eine.

Wenn man sich das Sicherheitsbedürfnis der Ukraine anschaut, dann kann man ja durchaus die Frage stellen, ob das zwingend mit einer NATO-Mitgliedschaft verbunden sein muss oder ob es da nicht auch andere Möglichkeiten gibt, die sowohl dem Sicherheitsbedürfnis der Ukraine Rechnung tragen als auch den Bedenken Moskaus, ein mehr oder weniger feindliches Militärbündnis unmittelbar vor der Haustür zu haben. Sowas ist ja lösbar, wenn man aufhört, moralisch aufgeladene und an Ideologien orientierte Politik zu betreiben.

Was unbedingt ins Blickfeld gehört, ist die Tatsache, dass die Ukraine aufgrund ihrer Geschichte und ihrer geografischen Lage ein Identitätsproblem hat, das man ansprechen muss, um es lösen zu können. Der innerukrainische Streit über ukrainische Identität ist etwa 150 Jahre alt und bis heute nicht beigelegt. Die Ukraine, wie wir sie heute kennen, gibt es seit 1991, also etwa 32 Jahre. Mit anderen Worten: der Ukraine fehlt eine staatliche Kontinuität. Das muss sich nicht negativ auswirken, wenn den unterschiedlichen Identitäten politisch Rechnung getragen wird. Das war und ist aber nicht der Fall. Gebiete im Osten und Süden des Landes sind von Kiew systematisch vernachlässigt worden und man hat mehrfach versucht, alles Russischsprachige beiseite zu drängen.

Ich will nicht zu sehr spekulieren, aber ich könnte mir gut vorstellen, dass das, was wir jetzt haben, hätte verhindert werden können, wenn die Ukraine mit Blick auf die Innenpolitik eine Föderalisierung betrieben hätte und mit Blick auf die Außenpolitik eine Orientierung in beide Richtungen – nach Westen und nach Russland. Russland hat sich nie daran gestört, wenn die Ukraine ihre Fühler nach Westen ausgestreckt hat, solange das nicht bedeutete, gleichzeitig sämtliche Kontakte Richtung Russland abzubrechen.

So oder so Schnee von gestern, aber trotzdem nicht unerheblich, denn das sind die Dinge, die für eine tragfähige Lösung in der Zukunft eine Rolle spielen werden. Das lässt sich nicht dadurch aushebeln, dass politische Kräfte sowohl in der Ukraine als auch in der westlichen Staatengemeinschaft mantraartig wiederholen, wie sehr sich das Land doch nach Einbindung in den Westen sehnt.

Vielleicht an der Stelle ein kurzer Rückgriff auf das EU-Assoziierungsabkommen von 2014. Es war ein großer Fehler, Russland nicht mit in die Verhandlungen einzubeziehen. Diejenigen, die von Anfang an geraten haben, Brüssel, Kiew und Moskau sollten gemeinsam erarbeiten, wie man das zum Vorteil aller Beteiligten gestaltet, haben sich leider nicht durchsetzen können.

Ökonomisch war es für die Ukraine jedenfalls ein Wahnsinn, die Verbindungen zu Russland zu kappen. Es ging immerhin um zwei Drittel aller Exporte. Nikolai Petro, US-amerikanischer Politikwissenschaftler und Professor an der University of Rhode Island spricht von „Selbstmordökonomie“ und führt das auch im Einzelnen auf. Er hat ein sehr lesenswertes Buch unter dem Titel „The Tragedy of Ukraine“ geschrieben. (Die Tragödie der Ukraine)

Jedenfalls habe die Kombination von Marktöffnung Richtung Westen und Trennung von Russland der Ukraine nicht gutgetan, so Petro, weder finanziell noch wirtschaftlich noch demographisch. Aber es war aus rein ideologischen Gründen angesagt, sich um jeden Preis von Russland abzuwenden.

Aus meiner Sicht ist es immer und überall ein Fehler, ideologische statt sachorientierter Politik zu betreiben. Das ist leider kein Alleinstellungsmerkmal der Ukraine.

Militärische Stärke und Entspannung – das muss durchaus kein Widerspruch sein, aber dazu gehört eine Politik, die Verhandlungen und Diplomatie höher bewertet als Waffenlieferungen. Und davon scheint im Moment keine Rede zu sein.

Wie groß das Risiko ist, dass „unsere“ Politik mittlerweile eingeht, und zwar ohne sich dafür sachlich zu rechtfertigen, zeigt folgender Punkt. Bundeskanzler Scholz betont ja immer mal wieder, man wolle trotz der Unterstützung der Ukraine und trotz der Waffenlieferungen nicht zur Kriegspartei werden. Das ist ja durchaus von existenzieller Bedeutung für uns alle. Und deshalb ist es so wichtig zu wissen, wo genau da die Grenzlinie verläuft, die man möglichst nicht überschreiten sollte.

Dazu gibt es eine erhellende Auskunft des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages. Auf eine entsprechende Anfrage war die Antwort – und zwar bereits am 16. März 2022 – also schon vor gut anderthalb Jahren: nicht mit den Waffenlieferungen, aber mit der Ausbildung von Soldaten verlasse man den gesicherten Bereich der Nicht-Kriegsteilnahme. D.h. wir befinden uns bereits seit geraumer Zeit außerhalb des gesicherten Bereichs. Die Bundeswehr hat sogar eine Führungsrolle innerhalb eines EU-Ausbildungsprogramms übernommen.

Im vergangenen Monat hat der dafür zuständige Bundeswehr Generalmajor Christian Freuding nicht ohne Stolz verkündet, dass seit Kriegsbeginn 8.000 ukrainische Soldaten eine Ausbildung bei der Bundeswehr durchlaufen haben.

Es hängt also nicht mehr von uns ab, ob wir Kriegspartei sind oder nicht, sondern von der Wahrnehmung in Moskau.

Müsste über derlei – im wahrsten Sinne des Wortes – existenzielle Fragen nicht offen und öffentlich debattiert werden? Wie weit gehen wir denn in der Unterstützung der Ukraine, wenn wir damit den eigenen Interessen schaden, nicht nur wirtschaftlich, sondern mit Blick auf Krieg und Frieden? Was ist denn mit dem Eid, den Bundeskanzler und Minister bei Amtsantritt feierlich ablegen, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden? Was ist denn mit dem Friedensgebot im Grundgesetz?

Diese Debatten finden in der sogenannten Mitte der Gesellschaft eher nicht statt. Ich halte das nicht nur für einen Fehler, sondern für systemgefährdend, denn es führt zur Aushöhlung demokratischen Denkens und das sollten wir uns in Deutschland nach unserer Vorgeschichte nicht leisten.

Unsere Demokratie wird auch nicht in der Ukraine verteidigt, genauso wenig wie damals am Hindukusch. Das ist nur eine besonders hinterhältige Form Kriegseinsätze zu rechtfertigen und moralischen Druck aufzubauen. Der Kampf um unsere Demokratie findet nicht im Ausland statt, sondern innerhalb unserer Landesgrenzen. Und da ist weiß Gott genug zu tun.

Ich habe den Eindruck, dass sich die Mehrheit in unserer Gesellschaft – schon gar die schweigende – weniger Kriegsrhetorik und mehr diplomatische Ansätze wünscht; dass sie nichts von diesen Ausschluss- und Verweigerungspraktiken hält, nach dem Motto: man kann erst reden, wenn diese oder jene Vorbedingung erfüllt ist. Menschen haben in der Regel ein feines Gespür für Symbolpolitik und wünschen sich eher konstruktive Aktivitäten als Verweigerung. Das ist zumindest mein Eindruck.

Den folgenden Gedanken möchte ich zum Thema Interessen nicht unterschlagen.

Seit ca. 100 Jahren ist es das erklärte politische Ziel der USA, eine enge Zusammenarbeit auf dem eurasischen Kontinent zu verhindern. Das ist keine Verschwörungstheorie, sondern in offiziellen Papieren nachzulesen. Aus Sicht der USA ist das ein legitimes Ziel, das sie – professionell wie meistens – nun auch erreicht haben.

Der Krieg ist ein gigantisches Wirtschaftsförderprogramm. Nebenbei: im Gegensatz zu Deutschland und meines Wissens auch den anderen Ländern der EU verschenken die USA ihre Waffen nicht, sondern leasen sie und für einen Teil übernimmt die EU die Kosten. Und – die USA werden endlich in Mengen ihr teures und umweltschädliches Fracking-Gas los.

Es wird Zeit europäische Interessen zu definieren – schwer genug, aber für Europa lebensnotwendig, denn um uns herum bilden sich neue Allianzen von Ländern, die die europäisch-amerikanische Bevormundung satthaben und eigenes Selbstbewusstsein entwickeln. Nur jemand mit eurozentristischem Blick und einer gewissen Arroganz kann behaupten Russland sei isoliert. Der Kollege Gabor Steingart geht noch einen Schritt weiter. Er hat gesagt: Russland ist nach dem Überfall auf die Ukraine nicht der Paria der internationalen Gemeinschaft geworden, sondern das neue anti-westliche Rollenmodell.

Jetzt werden Weichen gestellt, mit weitreichenden Konsequenzen. In einer Demokratie, die diesen Namen verdient, muss darüber offen und angstfrei debattiert werden.

Dazu passt eine Aussage von Alfred de Zayas, US-amerikanischer Völkerrechtler und ehemaliger UN-Beamter im Menschenrechtsrat und da zuständig gewesen für „die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung“. Er hat gesagt: „Sowohl Amerikaner wie auch Europäer haben kein Recht, das Überleben des Planeten wegen einer innereuropäischen Querele aufs Spiel zu setzen. Für den durchschnittlichen Afrikaner, Asiaten oder Lateinamerikaner ist es völlig unerheblich, ob die Krim zu Russland oder zur Ukraine gehört. Darüber dürfe sich niemals ein Atomkrieg entfachen.“

Zur Blickwinkelerweiterung gehört eben auch, sich klarzumachen, wie viele Millionen und Milliarden Menschen in anderen Teilen der Welt sitzen mit völlig anderen Interessen, und nicht so zu tun, als hätten „Wir“ – was immer das genau ist – die Deutungshoheit über globale Prozesse.

Ich würde mir wünschen, dass junge Menschen, die mit ihrem Engagement im Kampf gegen den Klimawandel Gesellschaften weltweit aufgerüttelt haben, das Thema Frieden entdecken und sich dafür mit der gleichen Kraft einsetzen. Über die Meinungen, wie man das dann am besten macht, darf und muss gestritten werden.

Mündige Bürger sind in einer Demokratie systemrelevant – eigentlich auch so eine abhanden gekommene Selbstverständlichkeit, sonst hätte Deutschland die Bildung nicht so sträflich vernachlässigt. – Ein mündiger Bürger muss in der Lage sein, Entscheidungen zu treffen, die Konsequenzen seiner Entscheidung zu überblicken und die Verantwortung dafür zu tragen. Wenn das nicht der Fall ist, dann taugt die Demokratie nicht viel.

Die Voraussetzung dafür, fundierte Entscheidungen zu treffen, ist: so umfassend wie möglich informiert zu sein, über Hintergründe Bescheid zu wissen, Zusammenhänge zu erkennen. Das ist anstrengend und mühsam. Niemand hat behauptet, dass Demokratie eine bequeme Angelegenheit ist.

Inhaltliche Auseinandersetzungen mit faktenbasierten Meinungen, streitbare respektvolle Debatten um die besten Lösungen – darum geht es. Um nicht mehr, aber auch um nicht weniger.

Tja, und nun? Immer modernere und schlagkräftigere Waffensysteme sind im Gespräch beziehungsweise werden geliefert oder zumindest zugesagt. Auffällig ist dabei die Zurückhaltung der USA (damit meine ich jetzt nicht die Blockade der Republikaner, bereits beschlossene Mittel nicht zur Verfügung zu stellen) sondern die Tatsache, dass sich die USA trotz umfangreicher Lieferungen – bisher jedenfalls – gewisse Grenzen gesetzt haben. Dazu gehört die Überlegung, keine Waffensysteme zur Verfügung zu stellen, die in der Lage sind, weit ins russische Kernland vorzudringen.

Im Gegensatz zu europäischen Ländern sind die USA nämlich nicht davon überzeugt, dass sich die Ukraine an ihre offiziellen Zusagen hält, nur das eigene Land zu verteidigen und russisches Territorium nicht einzubeziehen. Deshalb haben die USA z.B. bestimmte Raketenwerfer nur mit Projektilen geliefert, die eine Reichweite von 85 statt 150 km haben.

General a.D. Harald Kujat, den ich eben schon erwähnt habe, der ehemalige Vorsitzende des NATO- Militärausschusses – immerhin die höchste militärische Autorität der NATO – hat sich zu dieser amerikanischen Zurückhaltung in einem Artikel neulich folgendermaßen geäußert: „Die USA überlassen es den Europäern, amerikanische F-16 zu liefern. Dass die Ukraine entgegen ihrer Zusicherung kürzlich Streumunition bei einem Angriff auf das Stadtgebiet von Donezk gegen zivile Ziele eingesetzt hat, bestätigt die amerikanische Zurückhaltung.“

Währenddessen wird in Deutschland geprüft, ob man das hochleistungsfähige Taurus System, diesen Luft-Boden-Marschflugkörper mit einer Reichweite von bis zu 500 Kilometern an die Ukraine abgibt.

Zwei Schlussbemerkungen. Die eine hat mit meinem Berufsstand zu tun.

Journalisten sind mit ihrer Arbeit nicht dafür verantwortlich Frieden zu erhalten, weder den inneren noch den äußeren, aber ihnen sollte schon klar sein, dass sie mit ihrer Arbeit dazu beitragen können, Frieden zu gefährden, sowohl den inneren als auch den äußeren. – Vielleicht muss man das dem einen oder anderen mal unmissverständlich klar machen, respektvoll aber deutlich.

Die zweite Bemerkung. Da werden Sie sich vermutlich wundern, dass ich Thomas Gottschalk erwähne. Ich gehe mal davon aus, dass den auch hier jeder kennt.

Sie haben ja vielleicht mitbekommen, dass er neulich seine letzte Wetten dass-Sendung moderiert hat. Und in seiner Begründung, warum er nicht weitermacht, hat Gottschalk unter anderem folgendes gesagt, fast nebenbei: er habe bisher zu Hause immer genauso geredet wie hier auf der Bühne, aber offenbar ginge das so nicht mehr, und diesen Spagat wolle er sich nicht zumuten. Ich muss sagen, ich fand’s toll, wie dieser Publikumsliebling aus der Unterhaltung kurz und prägnant die Sache auf den Punkt gebracht hat. Was für eine Aussage in unserer freiheitlich demokratischen Gesellschaft.

Also – diejenigen, die sich dafür einsetzen, laufende Kriege zu beenden und künftige zu verhindern, müssen jetzt dringend Mittel und Wege finden, wieder als gestalterische Kraft in der Gesellschaft zu wirken. Das wird ohne junge Menschen nicht gehen.

Europas wahnsinnige Energiepolitik

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine haben sich die Staaten der EU, allen voran Deutschland, weitgehend von russischem Pipelineerdgas entkoppelt. Was auf den ersten Blick wie ein Erfolg aussieht, ist in Wirklichkeit in vielfacher Hinsicht eine Ansammlung von Katastrophen.

Mit dem Leerkaufen der internationalen LNG-Märkte (LNG, Liquid Natural Gas = verflüssigtes Erdgas) wurde die Energieversorgung im Globalen Süden empfindlich geschädigt. Das hat dramatische Auswirkungen auf die Wirtschaft, die Energieversorgung und die politische Stabilität und fördert gleichzeitig Armut und Hunger. Gleichzeitig hat diese Europa-first-Politik dem Globalen Süden erneut vor Augen geführt, wie wenig die „werteorientierte“ Politik der EU im Krisenfall wert ist. In ihrer vom Westen verursachten Not wenden sich die Länder des Globalen Südens Russland zu. So haben z.B. Pakistan und Indien mit Russland langfristige Lieferverträge für Öl und Gas abgeschlossen bzw. verhandeln diese derzeit. Damit machen sie sich unabhängig von den politischen Entscheidungen der EU, was ihre Energieversorgung betrifft. Dafür steigt der russische Einfluss im Globalen Süden derzeit stark an.
Nach dem Scheitern von Nord-Stream 2 soll jetzt eine massiv überdimensionierte LNG-Infrastruktur ohne Rücksicht auf die Umwelt, das Klima oder demokratische Beteiligungsrechte durchgedrückt werden. Die mit heißer Nadel gestrickte gesetzliche Grundlage musste nach wenigen Monaten erneut verschärft werden, um die geplanten Vorhaben der gerichtlichen Kontrolle noch weiter zu entziehen. Gleichzeitig explodieren die Kosten innerhalb weniger Monate für die Steuerzahler von ursprünglich rund 3 Mrd. Euro auf derzeit rund 10 Mrd. Euro. Ein Ende der Kostenexplosion ist genauso wenig absehbar, wie die Realisierung der Vorhaben.
Absehbar ist jedoch, dass durch den massiven Ausbau der LNG-Infrastruktur, insbesondere in Deutschland, das Erreichen des 1,5°C-Ziels torpediert wird. Die Gasversorgung Europas von der arabischen Halbinsel wird dort zur Erschließung weiterer Vorkommen führen. Bereits die von Katar geplante Förderung von Erdgas reicht aus, um das gesteckte Klimaziel zu verfehlen, wenn man nur das CO2 aus der Verbrennung des Erdgases betrachtet. Werden alle Emissionen der Prozesskette, also auch die Methanverluste bei Förderung, Verflüssigung, Transport, Regasifizierung, erneutem Transport und Nutzung des Erdgases betrachtet, dann ist mit einer vielfach höheren Klimaauswirkung zu rechnen.
Das Ziel, Russland die Mittel zur Führung des Ukrainekrieges zu entziehen, ist richtig. Allerdings wird dieses Ziel verfehlt: 1. Russland verkauft seine , Kohle-, Öl- und Gasvorräte statt an die EU an Länder, die unter der rücksichtslosen Beschaffungspolitik der EU leiden, 2. Europa bezieht ca. 50% des für Atomkraftwerke benötigten Urans aus Russland und 3. Die Staaten der EU haben das billige russische Pipelineerdgas zu einem erheblichen Teil durch teures russisches LNG ersetzt. Wie aus Berechnungen des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) hervorgeht, bezieht Deutschland derzeit rund 5 bis 6 Prozent seines Erdgases über russisches LNG. Europa importiert rund 13 Prozent seines LNG aus russischen Quellen, bisher im Jahr 2022 insgesamt für 27 Mrd. Euro. Der Bundeswirtschaftsminister verweigert bis heute rechtswidrig Auskunft zum bisherigen Bezug von LNG für Deutschland, insbesondere über den russischen Anteil an den Lieferungen, da er damit die Absurdität der deutschen Energiepolitik offenbaren würde. Warum wird nicht das russische Erdgas durch unser Biogas ersetzt, das ins Gasnetz eingespeichert werden könnte?
Warum werden die falschesten Anreize gesetzt, die möglich sind, indem mit der geplanten Übergewinnsteuer von (Bürger-)Wind- und Solarparks 90%, von Braunkohle- und Atomkraftwerkskonzerne 33 % und von Steinkohle- und Gaskraftwerksbetreibern null Prozent der zusätzlichen Gewinne abgeschöpft werden sollen? Warum werden die Übergewinne der Mineralölkonzerne gar nicht erwähnt? Was ist das für eine Klima- und Energiepolitik?
Die einzige Alternative zu dieser rückwärtsgewandten fossilen Energiepolitik ist ein konsequenter schneller Ausbau der Erneuerbaren Energien, der „Freiheitsenergien“. Wir erwarten von einem grünen Wirtschaftsminister, dass er alle Mittel einsetzt, die sauberen einheimischen Energien (Wind, Sonne, Wasser, Erdwärme…) zu fördern, statt durch Zigmilliarden Euro für LNG-Terminals die fossile Abhängigkeit von autokratischen Staaten zu zementieren.
Infos: https://fragdenstaat.de/anfrage/russische-lng-importe/

Pressemitteilung vom 12. Dezember 2022
Dr. Reinhard Knof, https://www.keinco2endlager.de/

Unwort des Jahres 2021:

„Pushback“

Und wieder hat ein Wort der menschenfeindlichen Flüchtlingspolitik es geschafft zum Beginn des Jahres mediale Aufmerksamkeit zu bekommen. Wie jedes Jahr wurde das „Unwort des Jahres“ gewählt.

Eine Jury aus Mitgliedern der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) machte im Jahr 1991 den Anfang und losgelöst von deren Vorstand machten die Jurymitglieder als „Sprachkritische Aktion Unwort des Jahres“ seit 1994 weiter.

Die Jury sind vier Sprachwissenschaftler*innen und zwei Journalist*innen. Vorschläge für das Unwort können aus der Bevölkerung eingereicht werden.

Mit der Wahl zum „Unwort des Jahres“ soll auf "undifferenzierten, verschleiernden oder diffamierenden öffentlichen Sprachgebrauch" hingewiesen werden.

In den letzten Jahren haben bereits die Worte „Anti-Abschiebe-Industrie und Ankerzentrum“ (2018) sowie „Rückführungspatenschaften“ (2020) den denkwürdigen Titel erhalten.

„Pushback“ ist „Unwort des Jahres 2021“! 

Es scheint, dass jedes  „Unwort“ die politische Situation der jeweiligen Zeit spiegelt. Und damit auch hinweist auf die Veränderungen: ging es vorher noch darum, Geflüchtete und ihrem Recht auf Asyl in diesem Land zu widersprechen bzw. sie abzuschieben, kommt jetzt hinzu, Menschen auf der Flucht gar nicht erst nach Europa, geschweige denn Deutschland, einreisen zu lassen.

In vielen Medien wird nun, im Zusammenhang mit der „Auszeichnung“, über den „Pushback“ geschrieben er bedeute „zurückdrängen, zurückschieben“. Dies sind zwei der möglichen Übersetzungen. Eine weitere lautet: Zurückstoßen!

Da es um Sprache geht und mit der Wahl zum Unwort auch darum Begriffe zu demaskieren, sollte man auch bei der Übersetzung ehrlich sein. 

Der „Pushback“ richtet sich gegen Geflüchtete, die vor den Grenzen nach Europa illegal und mit Gewalt von einem Grenzübertritt abgehalten werden. Sie werden gezwungen wieder zurückzukehren in die Länder, aus denen sie geflohen sind oder in die Länder, in denen sie ihren letzten Aufenthaltsort hatten.

Diese Praxis der „Pushbacks“ wird an den Grenzen auf dem Land, aktuell insbesondere in Polen und Belarus, und auf dem Mittelmeer durch Grenzpolizei und Frontex durchgeführt. 

Menschen werden auf diese Weise daran gehindert ihr Asylrecht wahrzunehmen. Die Grenzen zu überwinden ist sehr oft mit Lebensgefahr verbunden. Grenzsoldaten versuchen das Übertreten von Grenzen auch mit Waffengewalt zu verhindern. Im Mittelmeer werden die oft ohnehin nicht seetauglichen kleinen Boote der Geflüchteten, mit den vielen Menschen an Bord, wieder zurückgetrieben und dem Meer überlassen. Von den zig-tausenden auf der Flucht im Mittelmeer ertrunkenen Menschen, sind auch die darunter, die von den Frontex-Einheiten zurückgestoßen wurden.

In der Ägäis, dem Teil des Mittelmeers zwischen der Türkei und Griechenland, werden immer wieder von der griechischen Küstenwache Geflüchtete zurück in türkische Gewässer gedrängt. 

Frontex, die europäische Grenzschutzpolizei, unterstützt bei diesen Aktionen nicht die Menschen auf der Flucht, sie retten nicht, sondern treiben mit „Pushbacks“ zurück auf das Meer. Seit Jahren gibt es an Frontex Kritik. Doch auch die neue Bundesregierung aus SPD/Grüne/FDP hat sich mit dem Koalitionsvertrag für die weitere Unterstützung des EU-Grenzregimes ausgesprochen. Sie meint es soll "auf Grundlage der Menschenrechte und des erteilten Mandats zu einer echten EU-Grenzschutzagentur weiterentwickelt werden" und weiterhin "ein wirksamer und rechtsstaatlicher Außengrenzschutz sein, der transparent ist und parlamentarisch kontrolliert wird. Frontex soll sich im Rahmen des Mandats bei der Seenotrettung aktiv beteiligen." (Koalitionsvertrag 2021)

Seit ihrem Bestehen, wird versucht der Frontex ein positives Bild zuzuschreiben. Doch immer wieder wird öffentlich, wie Frontex als eine Abwehrorganisation für Geflüchtete arbeitet. Dies scheint die Ampel-Regierung nicht sehen zu wollen. Frontex ist an den Pushbacks beteiligt.

Mit der Wahl zum Unwort des Jahres 2021 wird sich die Realität von „Pushbacks“ gegen Menschen die Schutz und Hilfe suchen nichts ändern. Dass die Wahl auf dieses Wort gefallen ist „weil mit ihm ein menschenfeindlicher Prozess beschönigt wird", so die Jury, kann jedoch dazu beitragen, dass mehr Menschen über diese Praxis des Zurückstoßens informiert werden. Darüber hinaus wird dann auch über die Einschränkungen des Asylrechts und die Versuche der unmenschlichen Abschreckung durch europäische Regierungen gelesen.

Es sind aber nicht Worte des Jahres, es sind die dazugehörigen Taten, die diesen Worten ihren erschreckenden und unmenschlichen Ausdruck geben.

Seit Jahren werden immer wieder Worte kreiert, die politische Ziele beschreiben sollen und dabei gleichzeitig den Weg zu unmenschlichen Vorhaben deutlich machen.

Wenn im Koalitionsvertrag der Bundesregierung mit dem Begriff der „Rückführungsoffensive“ die Perspektive mancher Geflüchteten beschreibt, zeigt allein schon dieses Wort wie diese Regierung mit der Frage von Flucht und Asyl umgehen wird – entgegen allen ihren eigenen Beteuerungen und Versprechungen für eine menschliche Flüchtlings- und Migrationspolitik.

Wenn die CDU/CSU die neue Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) dafür kritisiert, dass sie in der EU-Flüchtlingsfrage gemeinsam mit anderen Ländern eine "Koalition der aufnahmebereiten Mitgliedstaaten" schmieden will, zeigt dies, dass die Union dort weitermacht, wo der Innenminister a.D. Seehofer aufgehört hat. Deutlicher wird noch, wenn der CDU-Innenexperte Christoph de Vries der "Bild" diktiert: "Oberste Priorität für eine deutsche Innenministerin muss jetzt sein, klare Stoppsignale zu senden und keine neuen Einladungen zu verteilen", und Deutschland habe "viele Jahre die größten humanitären Lasten in Europa getragen".

"Pushback"- das Unwort des Jahres muss zur Untat des Jahres werden!

Halten wir es mit der Menschenrechtsorganisation „Mare Liberum“, die schreibt: „2022 suchen wir dann kein neues Wort, sondern schaffen diesen Unakt, die Pushbacks ab, ja? Für das Recht auf Bewegungsfreiheit und Safe Passage!“

Kämpfen wir für legale Fluchtwege!

Für das Recht zu kommen, für das Recht zu bleiben!

#LeaveNoOneBehind

Bettina Jürgensen, marxistische linke

An den Europaausschuss des Landtags von Schleswig-Holstein: 

Unterschrift unter den Atomwaffenverbotsvertrag

An die Mitglieder des Europaausschusses des Landtags von Schleswig-Holstein. 

Sehr geehrte Damen und Herren! 

Der Antrag der SPD-Fraktion, der Landtag von S.-H. möge auf die Bundesregierung einwirken, dass diese den Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichne, wurde an den Europaausschuss überwiesen. Damit kommt Ihrem Votum eine hohe Bedeutung bei. Wir hoffen, dass die nachfolgenden Argumente Sie erreichen können. 

Zwar ist die Entscheidung über die Unterschrift unter den Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) Bundessache, doch ist das Land S.-H. mit seinen Werften, Marine- und Luftwaffenstützpunkten im Kriegsfall als ein vorrangiges Ziel potentieller gegnerischer Verteidigungs- oder gar Präventivschläge zu betrachten, nicht zuletzt selbst bei einer entfernteren Nuklearexplosion durch radioaktiven Fallout bedroht. 

Von daher muss S.-H. ein großes Interesse daran haben, diese Risiken weitestgehend zu minimieren. Laut dem gerade veröffentlichten Koalitionsvertrag planen die Parteien der künftigen Bundesregierung, an der Wiener Überprüfungskonferenz des AVV als Beobachter teilzunehmen und „die Intention dieses Vertrags konstruktiv zu begleiten“. 

Damit wird Deutschland nach Norwegen der zweite NATO-Staat und das erste Land, in dem Atomwaffen stationiert sind, das als Beobachter an der AVV-Staatenkonferenz teilnimmt. Deshalb könnten Sie der Meinung sein, dass sich nun der im Europaausschuss zu behandelnde Antrag doch eigentlich erübrigen würde. Doch die Bereitschaft der Bundesregierung zur Teilnahme an der AVV-Staatenkonferenz ist nur ein erster, wiewohl sehr wichtiger und erfreulich hoffnungsvoller Schritt. 

Ein unterstützendes Votum des S.-H. Landtags an die Bundesregierung zum Beitritt zum AVV, wie bereits von vier anderen Bundesländern und auch der Landeshauptstadt Kiel erfolgt, ist jedoch gerade deshalb von Bedeutung, weil im Koalitionsvertrag von der neuen BR explizit das Ziel „Deutschland frei von Atomwaffen” angestrebt wird, wie dies ja auch die große Mehrheit der Bevölkerung fordert.

Unzweifelhaft liegt Ihnen allen, die Sie Verantwortung für das Wohl unseres Landes tragen, die Sicherheit von uns Bürgern am Herzen. Strittig ist jedoch offenbar, welche Methoden am besten geeignet sind, diese Sicherheit zu gewährleisten. 

Über das Ziel, die US-Atomwaffen aus Deutschland zu entfernen, herrscht Uneinigkeit, meist mit Verweis auf unsere Bündnisverpflichtungen und das Risiko, dass dadurch die NATO destabilisiert würde. Deshalb sollte sich Deutschland unbedingt dafür einsetzen, den schon 2011 mit dem NATO „Deterrence and Defense Posture Review Committee“ begonnenen Dialog, bei dem ein Ausstieg aus der nuklearen Teilhabe diskutiert wurde, wieder aufzunehmen. 

Der Sorge, dass die USAtomwaffen dann in Polen stationiert würden muss mit Verweis auf die NATO-Russland-Charta von 1997 begegnet werden, in der dies eindeutig verboten ist. Auch dürfen unsere „Bündnisverpflichtungen“ nicht bedeuten, dass wir uns zu Geiseln politischer Entscheidungen machen, die nicht in unserer Hand liegen! Denn die „nukleare Teilhabe Deutschlands“ bedeutet nicht, dass Deutschland im Ernstfall Einfluss auf die Entscheidung über einen Atomwaffeneinsatz hätte. 

Diese Entscheidung liegt letztlich allein beim US-Präsidenten, auch die für einen Ersteinsatz von Atomwaffen! Weiter wird von Gegnern des AVV argumentiert, dass alle Atomwaffenstaaten, wie im Atomwaffensperrvertrag (Nichtverbreitungsvertrag NVV) von 1970 beschlossen, zunächst abrüsten müssten. Doch wurde der AVV ja gerade deshalb initiiert, weil die Reduktion der Atomwaffen seit langem stagniert und deren „Modernisierung“ einer Aufrüstung gleichkommt. 

Wie vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages am 19.1.2021 bestätigt, steht der AVV nicht im Widerspruch zum NVV, sondern ergänzt diesen vielmehr, indem er die Verhandlungen des NVV befördern kann, statt zu einer Schwächung der Verhandlungsposition zu führen. 

Zentraler Konfliktpunkt in der Frage des Beitritts Deutschlands zum AVV ist die Strategie der Abschreckung. 

Nukleare Abschreckung ist bis heute die zentrale Sicherheitsstrategie der Großmächte. Abschreckung bedeutet, dass im Fall eines nuklearen Angriffs der Angreifer durch einen Zweitschlag mit für ihn inakzeptablen Schäden und Nachteilen zu rechnen hätte. Der Abschreckungslogik ist also die nukleare Zweitschlagslogik immanent. 

Hauptargument der Vertreter einer atomaren „Abschreckungsstrategie“ heute ist jedoch immer noch, dass dank der Abschreckungsstrategie im Kalten Krieg durch das „Gleichgewicht des Schreckens“ ein Atomkrieg verhindert worden sei. Dabei wird zum einen verschwiegen, dass es aufgrund von Fehlalarmen und Fehlinterpretationen vermeintlicher Angriffe wiederholt um Haaresbreite zu einem „Atomkrieg aus Versehen“ gekommen wäre. – Je kürzer die Vorwarnzeit, umso höher ist dieses Risiko! 

Zum anderen setzte diese gegenseitige Abschreckung damals und setzt heute wieder einen ungeheuren, Ressourcen verbrauchenden und die Umwelt belastenden, äußerst gefährlichen Rüstungswettlauf in Gang. Der auf diese Weise in Gang kommende Rüstungswettlauf verringert so die Chancen einer friedlichen Lösung politischer Konflikte. Die Abschreckungslogik sorgte im damaligen bipolaren atomaren Patt zwischen den Blöcken USA/NATO und Sowjetunion/Warschauer Pakt für eine gewisse, jedoch durch Fehlalarme immer gefährdete Stabilität und sollte die damalige konventionelle Überlegenheit des Warschauer Pakts in Schach halten. 

Heute ist die NATO jedoch auch konventionell Russland weit überlegen. In dem heute multipolaren Kräftefeld von mindestens sieben Atommächten funktioniert diese gegenseitige Abschreckungsstrategie nicht mehr. Außerdem beinhaltet die neue, auf eine Vormachtstellung ausgerichtete US-Nuklearstrategie schon seit 2014/15, Atomwaffen auch in einem Ersteinsatz als sog. nukleare Gefechtsfeldwaffen mit vorwählbarer Sprengkraft von 0,3 - 50 kt(!) einzusetzen. (Zum Vergleich: die Hiroshimabombe hatte eine Zerstörungskraft von 20 kt!). 

Das potentielle nukleare Gefechtsfeld wäre Deutschland und Europa! Ein Einsatz von strategischen Atomwaffen wäre ein „game changer“! Er lässt sich nicht auf ein „Gefechtsfeld“ begrenzen und würde zwangsläufig zur atomaren Eskalation führen! Diese zunehmende Atomkriegsgefahr, die durch das Vorrücken der Zeiger auf der „Doomsday Clock“, der Weltuntergangsuhr, auf 100 Sekunden vor 12 symbolisiert wird, muss durch völkerrechtlich verbindliche Verträge wie den AVV unbedingt verhindert werden! 

Die Befürworter der nuklearen Teilhabe Deutschlands stützen sich jedoch noch immer auf die schon im Kalten Krieg gefährliche Strategie „Frieden durch Abschreckung“. Sie verkennen dabei die Gefahr, dass Deutschland und Europa im Ernstfall, wenn ein militärischer Konflikt atomar eskalieren würde, zum nuklearen Schlachtfeld werden würde! 

Nicht zuletzt braucht eine Abschreckungsstrategie zu ihrer Rechtfertigung den „absoluten Feind“, d.h. Feindbilder werden geschürt, statt sich in die Situation des Gegners, der sich ebenfalls bedroht fühlt, hinein zu versetzen und Frieden durch vertrauensbildende Maßnahmen zu befördern. Insbesondere das Festhalten der Bundesregierung an der nuklearen Teilhabe durch die auf deutschem Boden stationierten US-Atombomben wird auf russischer Seite als Bedrohung seiner nationalen Sicherheit bewertet und führt wiederum zu den Westen beunruhigenden Gegenmaßnahmen. 

„Frieden durch Abschreckung“ heute bedeutet Aufrüstung auf Grund der vermeintlich oder tatsächlich empfundenen Bedrohung der Sicherheit Deutschlands und Europas speziell durch Russland. Wir empfinden es deshalb als sehr beunruhigend, dass seit vielen Jahren einseitig die Bedrohung durch Russland vermittelt wird und nicht die gegenseitige Bedrohtheit durch Großmanöver beidseits der russischen Grenze anerkannt wird, die fatalerweise auf beiden Seiten zu Aufrüstungsmassnahmen führt. Diese Aufrüstungsmassnahmen verschlingen Unmengen an finanziellen und materiellen Ressourcen, die dringend für die Abwendung der die ganze Welt bedrohenden Klimakatastrophe benötigt würden. 

Deshalb ist der Beitritt Deutschlands zum AVV eine wichtige Möglichkeit, Abrüstungswillen zu signalisieren und dadurch die gegenseitige Rüstungs- und Bedrohungsspirale zu durchbrechen. Es wäre ein wichtiges Signal an Russland, dass Deutschland einen Beitrag für die gemeinsame Sicherheit mit Russland zu leisten bereit wäre. Der Beitritt zum AVV ist ein wichtiger Beitrag für Rüstungskontrolle und Abrüstung und damit ein Schritt auf dem Weg zu einer atomwaffenfreien Welt, ein Aufbruch in eine Welt, in der jeder Staat sich dadurch für die eigene Sicherheit einsetzt, dass er dafür sorgt, dass andere Staaten sich vor ihm sicher fühlen können. 

Wir bitten Sie deshalb dringend, das Votum des S.-H. Landtages an die Bundesregierung für einen Beitritt zum AVV zu ermöglichen! 

gez. Siegfried Lauinger

AG Atomwaffenverbotsvertrag Schleswig-Holstein Kiel, 28.11.2021 

c/o Siegfried Lauinger Dorfstr. 80 24232 Tökendorf Tel: 04348-9132264 

Bilder: Aktion am 22.01.2021 beim Kanzleramt in Berlin

Polen/Belarus:

Solidarität mit den Geflüchteten an der EU-Grenze

Etwa 50 Demonstrat*innen versammelten sich am 20.11.2021 am Kieler Hauptbahnhof und forderten offene Grenzen sowie die sofortige Aufnahme der an der polnisch-belarusischen EU-Außengrenze festgesetzen Menschen auf der Flucht.



Während das autoritäre Lukaschenko-Regime die Leidtragenden seit Wochen als Spielball im Kräftemessen mit der EU missbraucht, halten polnische Behörden mit Unterstützung diverser europäischer Staaten das EU-Grenzregime mit militärischer Brutalität aufrecht. Die Betroffenen müssen bei lebensgefährlicher Kälte in Wäldern hausen und werden an ihrer Weiterreise gehindert. Auch die deutsche Regierung hat sich jeglicher Schaffung sicherer Fluchtwege und Aufnahme der Schutzsuchenden verweigert. Zu der Kundgebung hatten Kurdische Organisationen aufgerufen; unter den Flüchtenden befinden sich viele Menschen aus Kurdistan. (Quelle: Revolutionsstadt Kiel)

Ergänzend dazu ein Kommentar der Schriftstellerin Daniela Dahn: “Kühl sagt Heiko Maas, glückloser Außenminister, Deutschland werde diese Menschen nicht aufnehmen. Es scheint egal, ob sie erfrieren oder nur erkranken. Egal, ob sie schon europäischen Boden betreten und damit das Recht auf ein Asylverfahren haben. In Brüssel wird nicht über ein Vertragsverletzungsverfahren diskutiert, sondern über die Bezahlung einer Mauer. Auf jeden Migranten, auf jede Frau, jedes Kind, kommen inzwischen drei oder vier Uniformierte an dieser Grenze der Schande – nicht mit dem Auftrag zu helfen, sondern mit dem gesetzwidrigen Pushback-Befehl. Go, go, go ist ihre Botschaft.
Das Wort Fluchtursachen scheint aus dem Vokabular gestrichen. Stattdessen werden Migranten angeblich nur noch „instrumentalisiert“, was ihnen eigene, begründete Motive abspricht. Und erst recht deren Verursacher im Dunkeln lässt. Die meisten Geflüchteten kommen aus dem Irak. Im Gegensatz zu Belarus war Polen einst mit 2.000 Soldaten beteiligt, als das Land von ausländischen Truppen, die dort nichts zu suchen hatten, in Schutt und Asche gebombt wurde.

Die Sprache zeugt heute unverändert von militantem Denken: „hybrider Angriff“ (von der Leyen), „menschliche Schutzschilde“ (Morawiecki) oder „weißrussischer Staatsterror“ (Steinmeier).“

(Daniela Dahn in: „Europa rüstet auf“. der Freitag, 19.11.2021, https://www.maskenfall.de/?p=14548)

#ZeroCovid

Das Ziel heißt Null Infektionen!

Für einen solidarischen europäischen Shutdown

Nach einem Jahr Pandemie sind wir in ganz Europa in einer äußerst kritischen Situation. Tausende Menschen sterben jeden Tag und noch viel mehr erkranken. Das neue Coronavirus breitet sich rasend schnell aus, von Mutationen noch beschleunigt. Die Maßnahmen der Regierungen reichen nicht aus: Sie verlängern die Pandemie, statt sie zu beenden, und gefährden unser Leben.

Die Strategie, die Pandemie zu kontrollieren, ist gescheitert („flatten the curve“). Sie hat das Leben dauerhaft eingeschränkt und dennoch Millionen Infektionen und Zehntausende Tote gebracht. Wir brauchen jetzt einen radikalen Strategiewechsel: kein kontrolliertes Weiterlaufen der Pandemie, sondern ihre Beendigung. Das Ziel darf nicht in 200, 50 oder 25 Neuinfektionen bestehen – es muss Null sein.

Wir brauchen sofort eine gemeinsame Strategie in Europa, um die Pandemie wirksam zu bekämpfen. Mit Impfungen allein ist der Wettlauf gegen die mutierte Virusvariante nicht zu gewinnen – erst recht nicht, wenn die Pandemiebekämpfung weiter aus aktionistischen Einschränkungen der Freizeit ohne Shutdown der Wirtschaft besteht. Wir setzen uns dafür ein, dass die Sars-CoV-2-Infektionen sofort so weit verringert werden, dass jede einzelne Ansteckung wieder nachvollziehbar ist. Das entschlossene Handeln etlicher Länder hat gezeigt, dass es möglich ist, die Verbreitung des Virus zu beenden.

Wir orientieren uns am internationalen Aufruf für die konsequente Eindämmung der Covid-19 Pandemie in Europa, den Wissenschaftler*innen am 19. Dezember 2020 initiiert haben.(1) Wir sind allerdings überzeugt, dass die Eindämmung des Sars-CoV-2 Virus nur gelingen kann, wenn alle Maßnahmen gesellschaftlich solidarisch gestaltet werden. Darum fordern wir diese unerlässlichen gesellschaftlichen Maßnahmen:


1. Gemeinsam runter auf Null:

Das erste Ziel ist, die Ansteckungen auf Null zu reduzieren. Um einen Ping-Pong-Effekt zwischen den Ländern und Regionen zu vermeiden, muss in allen europäischen Ländern schnell und gleichzeitig gehandelt werden. Wenn dieses Ziel erreicht ist, können in einem zweiten Schritt die Einschränkungen vorsichtig gelockert werden. Die niedrigen Fallzahlen müssen mit einer Kontrollstrategie stabil gehalten und lokale Ausbrüche sofort energisch eingedämmt werden. Wir brauchen drittens auch eine gemeinsame langfristige Vision – und auf deren Basis regionale und nationale Aktionspläne. Diese beinhalten Screening- und Impfstrategien, Schutz von Risikogruppen und Unterstützung der Menschen, die besonders stark von der Pandemie betroffen sind.
Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir eine solidarische Pause von einigen Wochen. Shutdown heißt: Wir schränken unsere direkten Kontakte auf ein Minimum ein – und zwar auch am Arbeitsplatz! Maßnahmen können nicht erfolgreich sein, wenn sie nur auf die Freizeit konzentriert sind, aber die Arbeitszeit ausnehmen. Wir müssen die gesellschaftlich nicht dringend erforderlichen Bereiche der Wirtschaft für eine kurze Zeit stilllegen. Fabriken, Büros, Betriebe, Baustellen, Schulen müssen geschlossen und die Arbeitspflicht ausgesetzt werden. Diese Pause muss so lange dauern, bis die oben genannten Ziele erreicht sind. Wichtig ist, dass die Beschäftigten die Maßnahmen in den Betrieben selber gestalten und gemeinsam durchsetzen. Mit diesem Aufruf fordern wir auch die Gewerkschaften auf, sich entschlossen für die Gesundheit der Beschäftigten einzusetzen, den Einsatz von Beschäftigten für ihre Gesundheit zu unterstützen und die erforderliche große und gemeinsame Pause zu organisieren.

2. Niemand darf zurückgelassen werden:

Menschen können nur zu Hause bleiben, wenn sie finanziell abgesichert sind. Deshalb ist ein umfassendes Rettungspaket für alle nötig. Die Menschen, die von den Auswirkungen des Shutdowns besonders hart betroffen sind, werden besonders unterstützt – wie Menschen mit niedrigen Einkommen, in beengten Wohnverhältnissen, in einem gewalttätigen Umfeld, Obdachlose. Sammelunterkünfte müssen aufgelöst, geflüchtete Menschen dezentral untergebracht werden. Menschen, die im Shutdown besonders viel Betreuungs- und Sorgearbeit leisten, sollen durch gemeinschaftliche Einrichtungen entlastet werden. Kinder erhalten Unterricht online, notfalls in Kleingruppen.

3. Ausbau der sozialen Gesundheitsinfrastruktur:

Der gesamte Gesundheits- und Pflegebereich muss sofort und nachhaltig ausgebaut werden. Dies gilt auch für Gesundheitsämter und Behörden, die für das Verfolgen der Infektionsketten zuständig sind. Das Personal muss in diesem Bereich aufgestockt werden. Die Löhne sind deutlich anzuheben. Das Profitstreben im Gesundheits- und Pflegebereich gefährdet die kollektive Gesundheit. Wir verlangen die Rücknahme bisheriger Privatisierungen und Schließungen. Die Finanzierung von Krankenhäusern über Fallpauschalen sollte durch eine solidarische Finanzierung des Bedarfs ersetzt werden.

4. Impfstoffe sind globales Gemeingut:

Eine globale Pandemie lässt sich nur global besiegen. Öffentliche und private Unternehmen müssen umgehend die erforderliche Produktion von Impfstoffen vorbereiten und durchführen. Impfstoffe sollten der privaten Profiterzielung entzogen werden. Sie sind ein Ergebnis der kreativen Zusammenarbeit vieler Menschen, sie müssen der gesamten Menschheit gehören.

5. Solidarische Finanzierung:

Die notwendigen Maßnahmen kosten viel Geld. Die Gesellschaften in Europa haben enormen Reichtum angehäuft, den sich allerdings einige wenige Vermögende angeeignet haben. Mit diesem Reichtum sind die umfassende Arbeitspause und alle solidarischen Maßnahmen problemlos finanzierbar. Darum verlangen wir die Einführung einer europaweiten Covid-Solidaritätsabgabe auf hohe Vermögen, Unternehmensgewinne, Finanztransaktionen und die höchsten Einkommen.
Wir wollen die politische Lähmung in Bezug auf Corona überwinden. Wir wollen uns auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz für den nötigen solidarischen ZeroCovid-Strategiewechsel sammeln. Wie unsere Mitstreiter*innen in Großbritannien (https://zerocovid.uk) wissen wir, dass wir den Schutz unserer Gesundheit gegen kurzfristige Profitinteressen und große Teile der Politik erkämpfen müssen.
Es gibt keinen Gegensatz zwischen Gesundheitsschutz und Pandemiebekämpfung einerseits und der Verteidigung demokratischer Rechte und des Rechtsstaats andererseits. Demokratie ohne Gesundheitsschutz ist sinnlos und zynisch. Gesundheitsschutz ohne Demokratie führt in den autoritären Staat. Die Einheit von beidem ist der entscheidende Schlüssel zu einer solidarischen ZeroCovid-Strategie.

(Quelle: https://zero-covid.org - 12. Januar 2021)

(1) 1. WissenschaftlerInnen fordern eine europäische Strategie zur raschen und nachhaltigen Reduktion der COVID-19-Fallzahlen. https://www.containcovid-pan.eu/ Siehe auch: Priesemann, Viola; et.al. (2020): Calling for pan-European commitment for rapid and sustained reduction in SARS-CoV-2 infections. The Lancet. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)32625-8

 

#WirhabenPlatz:

Erschütternde Situation von Schutzsuchenden vor EU-Grenze in Bosnien

Die Situation der Schutzsuchenden vor der EU-Grenze in Bosnien ist erschütternd. Menschen irren rechtelos in eisiger Kälte umher, ohne Perspektive auf Zugang zu einem Asyl- und Rechtesystem. Dieser Zustand ist unmittelbar Folge der europäischen Abschottungspolitik, die sich illegaler Mittel wie systematische Push-Backs an der kroatischen Grenze bedient!

Der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein hatte sich schon zu Silvester 2020 an Ministerpräsident Günther und Innenministerin Sütterlin-Waack mit einem Appell auf Aufnahme der Geflüchteten aus dem verbrannten Lager Lipa bei Bihac gewendet. Eine Rückmeldung seitens der Landesregierung steht bis dato noch aus.
Doch die einzigen Maßnahmen, die derzeitig in der bundespolitischen Diskussion sind, zielen auf Notunterkünfte und dauerhafte Elendslager in Bosnien ab. Sie beheben aber nicht das Problem an der Wurzel und verstetigen einen menschenrechtlich unhaltbaren Zustand.
Aus diesem Grund haben Balkanbrücke, Seebrücke, PRO ASYL und Landesflüchtlingsräte beiliegenden Aufruf „Lipa: grausame Folge der europäischen Abschottungspolitik. Evakuierung und Aufnahme jetzt!“ verfasst. Der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e. V. ist einer der Erstunterzeichnenden des Aufrufs.

AUFRUF
Lipa: Grausame Folge der europäischen Abschottungspolitik.

Evakuierung und Aufnahme jetzt!

Die Bilder aus Lipa sind erschütternd. Die katastrophale Notlage für die Schutzsuchenden in Bosnien-Herzegowinaist die Folge der europäischen Abschottungspolitik. Deutschland und die EU tragen unmittelbare Verantwortung für die systematische Verletzung der Rechte von Menschen auf der Flucht an den europäischen Außengrenzen.
Mit den systematischen Pushbacks aus Kroatien hat die EU die humanitäre Notlage in Bosnien überhaupt erst geschaffen. Die Pushbacks müssen unverzüglich gestoppt werden.
Die Bundesregierung muss jetzt handeln: Die Schutzsuchenden in Bosnien-Herzegowina müssen umgehend evakuiert und ihre Einreise in die EU ermöglicht werden. In Deutschland stehen Länder und Kommunen zur Aufnahme bereit.
Am 23.12.2020 brannte das Camp Lipa im Nordwesten Bosnien-Herzegowinas nahe der kroatischen Grenze fast vollständig ab. In dem zu keinem Zeitpunkt winterfesten Campmussten über 1.000 Menschen leben. Selbst wenn nun Wochen später ein Camp notdürftig wieder aufgebaut wird, stellt das keine Lösung für die Geflüchteten dar. Weiterhin müssen mehrere tausend Schutzsuchende in Bosnien außerhalb von Lagern ausharren. Statt Verantwortung zu übernehmen, verspricht die EU nur weitere finanzielle Unterstützung und schiebt die Verantwortung an die Behörden in Bosnien ab.
Die EU und Deutschland nehmen diese Verhältnisse nicht nur in Kauf, sondern haben sie bewusst herbeigeführt. Schutzsuchenden wird die Ankunft in der EU systematisch verweigert. Anstelle eines Asylverfahrens erwartet die Menschen in Kroatien eine gewalttätige Grenzpolizei, die sie mit brutalen Methoden zurück nach Bosnien-Herzegowina drängt. Die Bundesregierung unterstützt dieses Vorgehen: Erst im Dezember 2020 schenkte das Deutsche Innenministerium der kroatischen Grenzpolizei 20 Fahrzeuge.
Diese Finanzierung des Grenzschutzes ist eine Finanzierung der Gewalt, die von Amnesty International als Folter eingestuft wird. Dieser systematische Bruch nationalen, europäischen und internationalen Rechts ist der Grund, weshalb Menschen in Bosnien-Herzegowina festsitzen. Insgesamt sind aufgrund der EU-Abschottungspolitik etwa 10.000 Menschen in Bosnien gestrandet. Sie alle benötigen Schutz und eine Perspektive. Die humanitäre Notlage im Norden Bosniens kam keineswegs überraschend. Seit der Schließung der sogenannten Balkanroute und dem EU-Türkei-Deal 2016 sind Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen an der Tagesordnung. Im Westbalkan kommt es jeden Winter zu humanitären Notsituationen, so auch im Winter 2019 im Camp Vucjak. Erst Vucjak, dann Lipa –die Namen der Camps wechseln, doch was sie zeigen bleibt gleich: Die EU setzt auf Abschottung um jeden Preis! Die Lage an den europäischen Außengrenzen ist lebensbedrohlich. Deutschland kann und muss handeln schon allein, um geltendes Recht einzuhalten.

Wir fordern deswegen:
• Stopp der gewaltsamen illegalen Pushbacks an den europäischen Außengrenzen. Das Recht aller Menschen auf Zugang zu einem fairen Asylverfahren in der EU muss endlich eingehalten werden.
• Stopp der bundesdeutschen Unterstützung für die kroatische Grenzpolizei!
• Die Bundesregierung muss sofort handeln. Die Schutzsuchenden in Bosnien-Herzegowina müssen evakuiert werden. In Deutschland stehen Länder und Kommunen zur Aufnahme bereit.

#WirhabenPlatz

Antikriegstag – 1. September 2020Attac D Logo

Stellungnahme der Attac-AG Globalisierung und Krieg und der Projektgruppe Europa

 

Spannungen, Konflikte, neue Kriegsgefahren

Gegenwärtig erleben wir, wie sich in atemberaubendem Tempo ein neuer Kalter Krieg anbahnt. Fast täglich eskaliert die Trump-Administration mit Sanktionen, Verboten und Drohungen die Spannungen mit China. Auch mit Russland, das schon mit der Ostererweiterung der NATO in den 90er Jahren wieder zum Feind gemacht wurde, wird eine Konfrontationspolitik verfolgt, an der sich auch Deutschland und die EU mit Eifer beteiligen. Dabei ist Deutschland aktuell u.a. wegen der geplanten neuen Gaspipeline aus Russland selbst Gegenstand von US-Sanktionsdrohungen. Die Gefahr eines Krieges zwischen den Großmächten, die seit den 1990er Jahren gebannt schien, ist zurück. Aber auch „nur“ ein kalter Krieg, mit Wettrüsten, hemmungsloser Feinbildproduktion und permanentem Alarm- und Krisenzustand wäre fatal.

Auch regionale Konflikte mit internationalen Dimensionen – Ukraine, östliches Mittelmeer, Nahostregion, koreanischen Halbinsel u.a. – gefährden die internationale Sicherheit.

Dabei steckt die Menschheit in einer Zivilisationskrise, die globale Kooperation bei der Bekämpfung von Klima- und Umweltkrisen, Corona-Pandemie und globaler Armut zwingender macht als je zuvor.

USA klammern sich an ihre Vormachtstellung

Im Zentrum der neuen Entwicklung steht der Umbruch der internationalen Ordnung. Die USA waren nach Ende des Kalten Krieges die einzige Supermacht und dominierten unangefochten das internationale System. Mit dem Aufstieg Chinas, der Renaissance Russlands als Großmacht und perspektivisch dem Aufstieg weiterer Länder wie Indien, kommt das unipolare System und damit die Vormachtstellung der USA an ihr Ende. Solche Umbrüche bergen ein hohes Konfliktpotential und führten in der Vergangenheit immer wieder zu Kriegen. Die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs ist ein spektakuläres Beispiel dafür. Im Atomzeitalter bedeutet dies jedoch auch das Risiko der Vernichtung der Menschheit.

Bereits unter Obama stemmten sich die USA mit aller Macht gegen den Verlust des US-Führungsmonopols und starteten deswegen u.a. ein nukleares Modernisierungs- und Aufrüstungsprogramm über eine Billion Dollar. Zudem kündigten die USA nach und nach alle Rüstungskontrollabkommen, so bereits von der Bush-Administration 2002 den ABM-Vertrag (1) und jetzt den INF-Vertrag über Mittelstreckenraketen und das Open-Sky-Abkommen, das Transparenz und Vertrauensbildung dient. Gleichzeitig wurde das Weltraumkommando zu gleichberechtigten Waffengattung neben Army, Navy und Air Force erhoben, sowie die Miniaturisierung von Atomwaffen geplant, mit der der Atomkrieg führbar werden soll.

Im Verein mit rücksichtslosen Unilateralismus - selbst gegenüber Verbündeten - und der aggressiv-nationalistischen Rhetorik von „to make America great again“ führt all das dazu, dass in Peking und Moskau die Befürchtung entsteht - verständlicherweise - die USA könnten atomare Überlegenheit anstreben und damit das strategische Gleichgewicht untergraben, das bisher einen Atomkrieg bei Strafe des eigenen Untergangs verhindert hat.

Zudem findet eine massive militärische Nutzung von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz statt. Das heizt das Wettrüsten an und erhöht das Risiko eines Kriegsausbruchs wegen technischer Pannen. Außerdem versprechen die technologischen Innovationen saftige Profite für die traditionelle Rüstungsindustrie ebenso wie für die Konzerne der Digitalwirtschaft.

Militarisierung der EU

In der US-dominierten Weltordnung war die EU als Juniorpartner Washingtons fest in das eingebunden, was gemeinhin „der Westen“ genannt wird. Die EU war dabei eine Art zivil-ökonomische Ergänzung der NATO. Der rabiate Unilateralismus der USA führt jetzt allerdings zu einer Erosion des transatlantischen Verhältnisses. Einflussreiche Kreise in der EU reagieren darauf mit dem Ruf nach „strategischer Souveränität“ (Macron) und wollen „die Sprache der Macht lernen.“

Zwar spricht die EU diese Sprache schon immer dort, wo sie bereits über Macht verfügt, nämlich auf wirtschaftlichem Gebiet, wie die unfairen Handelsabkommen mit Entwicklungsländern und Sanktionen gegenüber fast zwei Dutzend Ländern zeigen. Jetzt geht es aber auch darum, politisch und militärisch in die Liga der Großmächte aufzusteigen. Dafür werden Instrumente eingesetzt, wie:

• der sog. „Europäische Verteidigungsfonds“ der im neuen Haushalt mit 7,014 Mrd. Euro ausgestattet ist. 1,5 Mrd. davon fließen in „militärische Mobilität“, d.h. panzerkompatiblen Straßen- und Brückenbau in den östlichen Mitgliedsländern, der auch von der NATO als Infrastruktur für einen Aufmarsch gegen Russland genutzt werden kann, oder

•  die sog. „Permanente Strukturierte Zusammenarbeit“ (PESCO), in der Mitgliedsländer und ihre Rüstungskonzerne gemeinsame Großprojekte durchführen, wie die Entwicklung eines Kampfflugzeugs der nächsten Generation, Kampfdrohnen oder einen Euro-Panzer.

Die Militarisierung der EU zeigt, dass die EU heute alles andere als ein Friedensprojekt und die Überwindung des Nationalismus und dessen übelsten Auswüchsen - Militarismus und Krieg – ist. Das zeigt sich nicht nur an der militärischen Hardware. Komplementär dazu werden klassische Instrumente nationalistischer Ideologie eingesetzt, wie:

• Feindbildproduktion - seit Jahren und lange vor der Ukraine-Krise gegen Russland, jetzt auch mit wachsender Intensität gegen China. Dabei sind Demokratie und Menschenrechte nur vorgeschoben, denn bei Saudi-Arabien, Ägypten u.ä. ist das nicht nur kein Thema, sondern Rüstungsexporte, Wirtschafts- und andere Beziehungen mit solchen Regimenblühen ungestört;

• passend dazu macht sich Geschichtsrevisionismus breit. So relativiert z.B. das EU-Parlament in einer Resolution zum Zweiten Weltkrieg die Verantwortung des deutschen Faschismus. Sie unterschlägt die Appeasementpolitik Frankreichs und Englands sowie die Annexion von Teilen der Tschechoslowakei durch Polen und Ungarn im Windschatten des Münchener Abkommens, und fälscht den Krieg zum joint venture von Hitler und Stalin um. (2)

Prompt fordert der deutsche Außenminister dann auch einen „europäischen Patriotismus“ und der Bundestag beschließt ein Gesetz, wonach die Beleidigung der EU-Flagge strafbar werden soll. An die Stelle des deutschen, französischen, italienischen etc. Patriotismus soll jetzt Euro-Patriotismus treten. Wir kämen vom Regen in die Traufe!

Deutscher Führungsanspruch

Führenden deutschen Außen- und Militärpolitikern ist das nicht unrecht. Spätestens seit der Eurokrise ist deutlich geworden, dass die ökonomische Stärke, die Bevölkerungszahl und die Lage im geographische Zentrum der EU Machtressourcen sind, die sich unter dem Etikett „europäisch“ in politischen Einfluss ummünzen lassen, ohne dass dabei das lästige furchteinflößende Image aus der deutschen Vergangenheit stört. Unter diesen Umständen ist es wohlfeil, von der Überwindung des Nationalstaates zu reden, wenn die informellen Mechanismen der Macht letztlich garantieren, dass der deutsche Nationalstaat prägenden Einfluss auf die EU hat.

Gleichzeitig werden damit die Erhöhung des Rüstungsetats, die Akzeptanz des 2%-Prozent-Ziels der NATO, die „nukleare Teilhabe“, der rasante Anstieg von Rüstungsexporten auch an autoritäre Regime und in Krisengebiete sowie - unter der verharmlosenden Phrase „Übernahme von Verantwortung“ - zukünftige Kriegseinsätze der Bundeswehr gerechtfertigt. Deutschland möchte wieder Großmacht sein, wenn auch dieses Mal unter „europäischer“ Flagge, als Führungsmacht der EU.

Emanzipatorischer Internationalismus in der neuen Welt(un)ordnung

Die internationalen Umbrüche und ihre Wechselwirkung mit den planetarischen Krisen verändern auch die Rahmenbedingungen emanzipatorischer Politik. Das hat bisher jedoch kaum Eingang in deren Agenda gefunden. Darum muss ein friedenspolitische Strategie her, die den Herausforderungen unserer Zeit gerecht wird. Eckpunkte einer solchen Strategie wären eine neue Politik der Koexistenz, Respekt für die verbindlichen Normen des Völkerrechts. Initiativen zur Vertrauensbildung und Entspannung mit China und Russland, Abrüstungsinitiativen, Auflösung der Militärbündnisse, Schluss mit dem Kampf gegen Geflüchtete, Stärkung der UNO und des Multilateralismus und regionaler Institutionen, Umlenkung von Ressourcen zur Finanzierung globaler öffentlicher Güter sowie faire Handelsabkommen anstelle aufgezwungener Freihandelsverträge und Ressourcenraub.

Frieden ist zwar nicht alles, aber ohne Frieden ist alles andere nichts!

(1) ABM=Anti-Ballistic Missile. Raketenabwehrsystem. Der Vertrag verbot die Installation solcher Systeme, weil sie die Zweitschlagskapazität des Gegners neutralisieren können und damit die grundlegende Logik der Abschreckung „Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter“ außer Kraft setzen, und einen erfolgreichen Erstschlag ermöglichen können.

(2) Entschließung des Europäischen Parlaments zur Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft Europas

SEEBRÜCKE:

Entkriminalisierung von Seenotrettung und Flucht!

Am 1. August 2020 demonstrierten 300 Kieler*innen vom Vinetaplatz in Gaarden startend, über Bahnhof zum Rathausplatz um gegen die inhumane Abschottungspolitik von EU und Bundesinnenministerium (BMI) zu protestieren. Seehofer (CSU) und das BMI blockieren die kommunale Aufnahme von Flüchtlingen und kriminalisieren zivile Seenotrettung weiterhin massiv. Sie propagieren eine Politik, die auf Rassismen und Diskriminierung basiert.

Die Forderungen von Seebrücke auf der Demo:
• Ein schleswig-holsteinisches Landesaufnahmeprogramm für Geflüchtete aus
griechischen Lagern
• Entkriminalisierung von Seenotrettung und Flucht!
• Ein Ende der Repressionen gegen zivile Seenotrettung
• Das Ende der rassistischen Abschottungspolitik

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Vor genau zwei Jahren gründete sich die Seebrücke-Bewegung auf Grund eines Stand-Offs der Lifeline vor Italien und Malta. Zu der Zeit gab es oft wochenlange Stand-offs der Seenotrettungsschiffe, wenn Menschen aus Seenot gerettet wurden. Sie mussten oft wochenlang auf dem Meer warten, bis ihnen ein Sicherer Hafen gewährt wurde. Der Grund dafür war damals und ist bis heute ein fehlender Verteilungsschlüssel.

Doch statt der Erarbeitung einer solchen Lösung, ist es noch schlimmer gekommen: Heute müssen wir immer öfter zusehen, wie Boote zurück nach Libyen oder in die Türkei gebracht werden. Die Zahl der illegalen Rückführungen durch die libysche Küstenwache mit finanzieller Unterstützung der EU sind gestiegen. Allein im Jahr 2020 wurden bisher ca. 6.000 Menschen an den Ort zurückgebracht von dem sie fliehen wollen. Bei diesen Rückführungen hilft oft ein Aufklärungsflugzeug von Frontex, der Europäischen Agentur für die Grenzschutz und Küstenwache. Das politische Kalkül, Schutzsuchende aktiv daran zu hindern, nach Europa zu gelangen oder wenigstens einen Sicheren Hafen zu erreichen, hat sich in den letzten Jahren eher verschärft als vermindert. (...)

Zugleich hat sich unser Fokus in den letzten zwei Jahren auch auf die Lager an den europäischen Außengrenzen wie in Griechenland gerichtet. Dort leben fliehende Menschen auf engstem Raum unter dürftigen hygienischen Bedingungen, sind medizinisch unterversorgt und schutzlos vor jeglichen Übergriffen. Während der Corona-Krise sind diese Bedingungen noch einmal gefährlicher geworden, ohne dass Hilfe geleistet wurde.

Es haben sich in Deutschland über 160 Gemeinden, Kommunen und Städte zu Sicheren Häfen erklärt, allein in Schleswig-Holstein möchten 15 Kommunen und Städte schutzsuchenden Menschen ein Sicherer Hafen sein.

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Schleswig-Holstein hat angeboten, 35 Personen aus Griechischen Lagern aufzunehmen. Doch es kann und muss noch mehr aufnehmen! Nicht nur das Land Schleswig-Holstein weigert sich bisher ein Landesaufnahmeprogramm für Menschen aus griechischen Lagern umzusetzen. Horst Seehofer und das BMI blockieren zivilgesellschaftliches Engagement massiv, in dem sie monatelang ausgearbeitete Aufnahmeprogramme nicht akzeptieren.

(Aus der Presseerklärung der SEEBRÜCKE)

WER RETTET WEN? RELOADED

Ein Film von unten von Leslie Franke und Herdolor Lorenz, 2020, 79 Minuten
Freitag, den 18.09.2020 um 19.30 Uhr, Hansa48
Veranstalter: griechenlandsolidaritätskomitee kiel

Siehe auch den Kommentar auch der LinX

WerRettetWen Reloaded Plakat web