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Ein Verhältnis zwischen Solidarität und Hilflosigkeit:

Occupy und die Linke

01. 12. 2011  Nach der ersten Demonstration gegen die „Macht der Finanzmärkte“ in Kiel hat sich am Kleinen Kiel ein Occupy-Camp angesiedelt, das ständig wächst und das sich im Rahmen der bisherigen Proteste zu einem wichtigen Informations- und Kommunikationszentrum entwickelt hat. Während sich im Camp vorübergehende Passenten neugierig informieren und viele Kieler das Camp mit Sach- und Geldspenden tatkräftig unterstützen, verhält sich die organisierte Linke gegenüber den Occupies eher ratlos. Sie scheint nicht zu wissen, was sie mit diesem “bunten Haufen“ anfangen soll.
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Im Verlauf der Proteste gegen die Macht der Finanzmärkte schwappte die Occupy-Bewegung vom Rande der Wall Street über den Atlantik nach Europa – sogar bis Kiel. Diese spontane soziale Bewegung ist in ihren politischen Strömungen und Milieus breit gefächert und in ihrer Protestkultur zumindest für die traditionelle Linke ungewohnt bis irritierend. In diese Bewegung gehen sowohl bürgerliche als auch sozialistische und anarchistische Idealvorstellungen von einer gerechten Gesellschaft ein. Oft stehen sie unverbunden nebeneinander. Das scheint zu einer Kultur zu gehören, in der jede und jeder sagen kann, was er oder sie will, ohne Kontroversen auszutragen und sie zu einer gemeinsamen politischen Plattform auszuformen. Bei all diesen Unterschieden steht eine moralische Empörung über die “Gier“ von Konzernmanagern und Bankern sowie die Auflehnung gegen die fortschreitende politische Entmündigung als Gemeinsamkeit im Zentrum der Occupy-Bewegung. Basisdemokratische Zielvorstellungen und Umgangsformen haben dabei einen hohen Stellenwert.
Unter diesem “Zeltdach“ können sich viele versammeln. Darüber hinaus sind Parolen wie: “Entmachtet die Finanzmärkte – Die 99% sind wir!“ gesellschaftlich sehr anschlussfähig. So ist die Occupy-Bewegung zurzeit sehr populär. Meinungsumfragen attestieren ihr in Deutschland eine Zustimmung von über 70%. Die Camps werden nicht nur in Kiel aus breiten Teilen der Bevölkerung mit Geld- und Sachspenden unterstützt. Occupy scheint auf einer noch sehr allgemeinen Ebene das zum Ausdruck zu bringen, was viele Menschen nervt.  Sowohl angesichts der unbekümmerten Auseinandersetzung mit dem Finanzmarktkapitalismus als auch angesichts der Popularität der der Occupy-Bewegung reiben sich so manche Linke, die schon lange an diesem dicken Brett bohren, verwundert die Augen (der Autor eingeschlossen).

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Foto: uws
Die Linke, um die es mir hier geht, hat bei allen ideologischen und organisatorischen Unterschieden ein gemeinsames Grundverständnis bei der Analyse des bestehenden Systems. Dabei versteht sie, kurz gesagt, Kapitalismus als ein ökonomisches und politisches Herrschaftssystem, das strukturell dazu dient, optimale Verwertungsbedingungen für das Kapital zu sichern. Gerade in der derzeitigen Finanzkrise, in der die herrschende Politik mit immer neuen “Rettungspaketen“ versucht Kapitalanlagen auf den “Finanzmärkten“ zu retten, wird diese Herrschaftsstruktur besonders deutlich. Doch die meisten Menschen bewegt in dieser Krise das Symptom, nämlich die Macht der Finanzmärkte, und nicht die Struktur, der Kapitalismus. Das sollte aus linker Sicht nicht weiter problematisch sein. Denn auch vom Symptom ausgehend lassen sich die Mechanismen einer zugrunde liegenden “Krankheit“ erklären. Das ist meist sehr viel vermittelter als Menschen mit einer fertigen Systemanalyse zu erschlagen. Auch für die Occupy-Bewegung sind die Finanzmärkte der bestimmende Ausgangspunkt für ihren Protest. Dieser Ansatz wird aus den Reihen der organisierten Linken und hier besonders aus dem linksradikalen Spektrum als oberflächlich und naiv bezeichnet. “Die Krise heißt Kapitalismus!“ ist ihre Antwort. Das ist sicher richtig. Gut gebrüllt Löwen!

Im Rahmen einer Bündnisstrategie führt es aber nicht weiter, auf der Basis dieser nicht ganz neuen Erkenntnis oberlehrerhaft mit einer spontanen sozialen Bewegungen umzugehen, die noch nicht marxistisch “erleuchtet“ ist. Darin drückt sich eine “Avantgardehaltung“ aus, mit der sich die organisierte marxistische Linke in der bundesrepublikanischen Geschichte schon immer zielsicher ins gesellschaftliche Abseits befördert hat. Es geht weder darum, die Occupy-Bewegung von außen zu belehren oder sie gar zu unterwandern. Es geht darum, sie als eine basisdemokratische und in der Tendenz systemkritische Bewegung ernst zu nehmen und dabei zu berücksichtigen, dass sie gerade in den Anfängen zwangsläufig bunt und chaotisch sein muss. Natürlich docken sich in diesem Prozess auch Kräfte an, die aus linker Sicht inakzeptabel sind (z. B. Zeitgeistbewegung). Doch damit muss die Occupy-Bewegung selbst fertig werden. Und das wird sie auch.

Es ist arrogant, den Occupys von außen vorschreiben zu wollen, wie sie sich von wem zu distanzieren haben, um für Linke bündnisfähig zu sein. Das gilt natürlich nicht für Nazis und andere antisemitischen Strömungen. Die auszuschließen, sollte selbstverständlich sein. Dabei hat allerdings bei der Identifizierung antisemitischer Tendenzen die “antideutsche Fraktion“ innerhalb der radikalen Linken nicht die Deutungshoheit. Es ist anzunehmen, dass die Occupys in einem inneren Klärungsprozess mit der Zeit deutlichere Inhalte und Ziele herausarbeiten. Dabei sollten sie ihrerseits Berührungsängste zu linken Organisationen aufgeben. Denn gerade in einer offenen Debatte zur Einschätzung der bestehenden politischen und ökonomischen Verhältnisse und zur Entwicklung von Protest-Widerstandsformen können sowohl die Occupys als auch die organisierte Linke voneinander lernen. Insgesamt kann die Occupy-Bewegung nicht nur eine wichtige Bereicherung des systemkritischen Potenzials in diesem Land sein, sondern auch eine interessante Herausforderung für eine etwas in die Jahre gekommene marxistische Linke mit zum Teil sehr eingefahrenen Erklärungsmustern und Protestritualen. In diesem Sinne ist zu hoffen, dass die Occupy-Bewegung eine längerfristige Perspektive hat und nicht nur ein Hype ist, über den morgen schon niemand mehr spricht.

Andreas Meyer

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Das Protestcamp der Occupy-Bewegung zwischen Fördesparkasse und HSH Nordbank am Kleinen Kiel Ende November. Mehrere Ratschläge zur Unterstützung des Camps fanden in der PUMPE unter Beteiligung verschiedener Gruppen und Aktivisten z. B. aus Alte Meierei, Attac, Linken, Occupy-Kiel-Camp und vielen unorganisierten MitstreiterInnen statt. Eine zweite Demonstration am 12.11. mit ca. 300 Beteiligten fand in der Öffentlichkeit viel Zuspruch. Im Occupy-Camp gibt es an jedem Sonntag um 18 Uhr eine öffentliche inhaltliche Debatte z. B. über weitere Aktionen. Die Camp-Bewohner beabsichtigen auch über Winter durchzuhalten und brauchen weiterhin viel Unterstützung, siehe Internetseite des Kieler Camps: http://occupykiel.wordpress.com