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Schleswig-Holstein:
Versammlungsfreiheit wieder herstellen!
01. November 2016 Die Versammlungsfreiheit ist neben der Meinungsfreiheit eines der grundlegenden demokratischen Freiheitsrechte, die dem Bürger für die politische Meinungsäußerung und -bildung zustehen. In früheren Zeiten wurden Versammlungen oft nicht gerne gesehen und unterbunden. Teilnehmer wurden verfolgt, registriert und beobachtet, teilweise auch hart bestraft. Dementsprechend entstand die Idee der freien Versammlungen mit dem immer weiter wachsenden Freiheitsbewusstsein im 19. Jahrhundert.
Das Grundrecht des Art. 8 GG geht im Ursprung auf § 161 der Paulskirchenverfassung von 1848 zurück. Diese Norm entstand unter dem Eindruck staatlicher Versuche, Versammlungen einzuschränken, etwa durch die Karlsbader Beschlüsse von 1819 oder durch die Repressionen in Folge des Hambacher Fests von 1832. Nach der Auflösung der Frankfurter Nationalversammlung wurde der Paragraph in einige Landesverfassungen integriert, jedoch mit Einschränkungen.
Erst in der Weimarer Republik wurde mit Art. 123 WRV eine Versammlungsfreiheit gewährt, deren Gewährleistung dem früheren § 161 entsprach. Dieser Artikel wurde jedoch im Rahmen der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat wieder außer Kraft gesetzt. Unter dem nachwirkenden Eindruck der Herrschaft des nationalsozialistischen Terrorregimes wurde die Versammlungsfreiheit nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich in das Grundgesetz aufgenommen und mit Grundrechtsstatus ausgestattet.
Die Einzelheiten der Ausgestaltung und vor allem der Möglichkeiten von Eingriffen in dieses Grundrecht durch die Polizei und die Ordnungsbehörden wurden gesetzlich geregelt. Die Gesetzgebungskompetenz dafür stand dem Bund zu, der ein Versammlungsgesetz erließ. Dieses Gesetz gilt grundsätzlich heute noch in der Fassung der Änderung vom 8. Dezember 2008. Im Zuge der Föderalismusreform im Jahre 2006 wurde die Gesetzgebungskompetenz für das Versammlungsrecht jedoch auf die Länder übertragen. Gemäß Art. 125a GG gilt das Bundesrecht in den Bundesländern fort, bis die Länder eigene Versammlungsgesetze erlassen.
Einige Bundesländer haben von dieser Möglichkeit bereits Gebrauch gemacht. Auch Schleswig-Holstein gehört dazu. Die FDP-Fraktion hatte hierzu im Jahr 2012 einen Gesetzantrag eingebracht, der durch weitere Änderungsanträge modifiziert wurde. Auch die PIRATEN-Fraktion hatte hierzu einen Antrag gestellt, der inhaltlich dem Abbau von Beschränkungen der Versammlungsfreiheit in den vorgelegten Entwürfen der anderen Fraktionen dienen sollte.
Die vorgelegten Entwürfe wurden im Plenum des Schleswig-Holsteinischen Landtages und im Innen- und Rechtsausschuss lange und kontrovers diskutiert. Wir PIRATEN hatten uns – gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Organisationen in einem „Bündnis für Versammlungsfreiheit Schleswig-Holstein“ (www.versammlungsfreiheit.info) – bis zum Schluss des Gesetzgebungsverfahrens gegen Einschränkungen der Versammlungsfreiheit eingesetzt.
In einer Vielzahl schriftlicher Stellungnahmen und in einer umfassenden mündlichen Anhörung wurden die Vorschläge kritisch beleuchtet. Die Kritik konzentrierte sich insbesondere auf die Vorstellungen der Landtagsmehrheit, die daraufhin mehrfach Änderungen vornahm. Mit den Stimmen von SPD, Grünen und SSW wurde am 22. Mai 2015 ein Schleswig-Holsteinisches Versammlungsgesetz beschlossen, das die Versammlungsfreiheit im Vergleich zum Bundesversammlungsgesetz in vielen Punkten noch weiter einschränkt. Die Regierungskoalition hat offensichtlich den Begriff der Versammlungsfreiheit dahingehend falsch verstanden, dass ein Schleswig-Holstein „frei von Versammlungen“ entstehen soll.
II. Einzelne Kritikpunkte
Zu kritisieren ist bereits, dass Schleswig-Holstein überhaupt vom Bundesversammlungsgesetz abweicht und ein eigenes Versammlungsgesetz einführt. Ohne Notwendigkeit führt dies zu einem zunehmenden Flickenteppich an Versammlungsgesetzen. Auch am Musterentwurf des „Arbeitskreises Versammlungsrecht“ hat man sich allenfalls grob orientiert. Werden Beamte aus anderen Ländern eingesetzt, ist deshalb fraglich, ob diese die Besonderheiten des hiesigen Rechts in der notwendigen Tiefe kennen können.
Inhaltlich enthält das jetzt für Schleswig-Holstein beschlossene und in Geltung gesetzte Gesetz Eingriffsmöglichkeiten, die über den bundesrechtlichen Rahmen weit hinausgehen und nach Auffassung der PIRATEN teilweise nicht mehr als verhältnismäßig angesehen werden können. Dies atmet den Geist der Repression und schreckt von der Teilnahme an Demonstrationen ab.
Dass dieses Gift für die Versammlungsfreiheit in Schleswig-Holstein mit dem Zucker einzelner Verbesserungen versüßt wurde, ändert nichts daran, dass der Cocktail dieses Gesetzes insgesamt lähmend wirkt. Infolge der breiten Kritik von Anwaltsvereinen, Bürgerrechtsorganisationen und Gewerkschaftsjugend haben SPD, Grüne und SSW ihren Plänen nur in einzelnen Punkten die Spitze genommen. In der Summe drohen die Einschüchterungen Menschen davon abzuhalten, ihr Demonstrationsrecht wahrzunehmen.
1. Videoüberwachung friedlicher Demonstrationen
Nach § 16 (2) VersFG SH dürfen alle Teilnehmer an größeren Demonstrationen künftig per Hubschrauber, Mini-Drohne oder Kamerawagen videoüberwacht werden, selbst wenn nur bei einzelnen Teilnehmern Anhaltspunkte für Rechtsverletzungen vorliegen. Zur Begründung muss die Behörde nur darlegen, dass die Versammlung groß und/oder unübersichtlich war und Anhaltspunkte dafür vorlagen, dass von einzelnen Teilnehmern oder Teilnehmerinnen erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit ausgingen.
Erstmals in Schleswig-Holstein wird der Polizei also erlaubt, alle Teilnehmer an größeren Demos videozuüberwachen, selbst wenn nur bei Einzelnen von ihnen vermutet wird, dass von ihnen eine erhebliche Gefahr ausgehen könnte. Überwacht werden dürfen somit auch friedliche Teilnehmer an friedlichen Demonstrationen aufgrund einer im Einzelfall nicht dargelegten Vermutung. Anders als nach dem Bundesversammlungsgesetz dürfen im Rahmen der „Überblicksaufnahmen“ nicht mehr nur Personen gefilmt werden, von denen mutmaßlich erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen, sondern unterschiedslos sämtliche Versammlungsteilnehmer.
Ob eine polizeiliche Videokamera gerade eingeschaltet ist, ob eine Aufzeichnung erfolgt und was mit den Aufnahmen geschieht, ist für die Versammlungsteilnehmer nicht erkennbar. Der Abschreckungseffekt ist identisch. Ein prinzipieller Unterschied zwischen Übersichtsaufnahmen und personenbezogenen Aufnahmen besteht nach dem Stand der heutigen Technik nicht. Wer damit rechnen muss, dass die Teilnahme an einer Versammlung behördlich registriert wird und dass ihm dadurch persönliche Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf die Ausübung seines Grundrechts verzichten. Polizeitaktisch ist im Übrigen nicht nachzuweisen, dass es auf überwachten Versammlungen zu weniger Störungen käme.
Die Zulassung solcher Totalüberwachung ist dementsprechend inakzeptabel. Die Videoüberwachung von Demonstrationen zu gestatten, schüchtert ein und hält Menschen vom Demonstrieren und der Teilnahme an Versammlungen ab. Wir Piraten lehnen eine Videoüberwachung von Versammlungen komplett ab. Nach der Strafprozessordnung darf im Einzelfall bei Verdacht einer Straftat zu deren Aufklärung eine Beweissicherung per Foto oder Video erfolgen, das genügt vollkommen.
2. Teilnahmeverbote
Es ist nach dem Schleswig-Holsteinischen Versammlungsfreiheitsgesetz möglich, Personen präventiv die Teilnahme an einer Demonstration zu verbieten. Das Versammlungsfreiheitsgesetz ermöglicht die Verhängung von Demonstrationsverboten gegen Personen, von denen „unmittelbar vor“ Beginn der Versammlung eine „unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht“ (§ 14). Wer trotzdem mitdemonstriert, soll bis zu 500 Euro zahlen müssen (§ 24).
Nach der Rechtsprechung dürfte zumindest unverhältnismäßig sein, dass keine qualifizierte Gefahr zur Voraussetzung eines Teilnahmeverbots gemacht wird, sondern beispielsweise bereits die drohende Begehung einer Ordnungswidrigkeit genügen soll. Wir Piraten lehnen es insgesamt ab, dass Personen von vornherein von der Teilnahme an einer Versammlung ausgeschlossen werden können, nur weil von ihnen theoretisch eine Gefahr ausgehen könnte. Jeder hat das Recht und muss die Chance bekommen, friedlich an einer Versammlung teilzunehmen. Wem das Recht, an Versammlungen nicht teilnehmen zu dürfen, versagt werden kann, war und ist im Bundesgesetz in § 1 (2) VersammlG hinreichend geregelt. Dort wird insbesondere auf die Verwirkung des Grundrechtes der Versammlungsfreiheit abgestellt. So steht es auch in § 1 (2) VersFG SH. Schleswig-Holstein geht mit seiner weiten Regelung viel zu weit darüber hinaus.
Zum Schutz der öffentlichen Sicherheit genügt es, dass Personen ausgeschlossen werden können, bei denen im Vorfeld die Voraussetzungen nach § 1 (2) VersammlG gegeben waren oder anlässlich einer Kontrolle oder während der Versammlung eine tatsächliche Störung festgestellt wird, die einen Ausschluss erfordert.
3. Personendurchsuchungen und höhere Strafen bei Vermummungsgegenständen
In § 17 VersFG SH ist das „Vermummungsverbot“ geregelt. Schon bei Anhaltspunkten für den Einsatz solcher verbotener Sichtschutzgegenstände, die für eine Vermummung geeignet wären, ist die Durchsuchung sämtlicher Versammlungsteilnehmer zugelassen. Wenn verbotene Gegenstände vermutet werden, sollen also sämtliche Personen durchsucht werden dürfen, auch wenn gegen sie kein konkreter Verdacht vorliegt. Die fehlende Gefahrennähe der Betroffenen dürfte zur Unverhältnismäßigkeit dieser Ermächtigung führen. Nichts rechtfertigt die Durchsuchung beliebiger friedlicher Demonstrationsteilnehmer. Nur diejenigen Personen sollten durchsucht werden dürfen, bei denen Anhaltspunkte für das Mitführen verbotener Gegenstände bestehen.
Wer entgegen einer polizeilichen Anordnung im Sinne von § 17 (2) VersFG SH verbotene Sichtschutzgegenstände wie Masken oder andere Gegenstände, die dem „Vermummungsverbot“ zuwiderlaufen könnten, mit sich führt, muss künftig bis zu 1.500 Euro zahlen (bisher: 500 Euro).
4. Bürokratische Anzeigepflichten
Nach dem Bundesgesetz war zur Anzeige einer Versammlung unter freiem Himmel nur der Umstand anzugeben, dass sie stattfindet und der Name des oder der Verantwortlichen zu nennen, auf Anforderung auch die Zahl der Ordner.
Nach dem Schleswig-Holsteinischen Versammlungsfreiheitsgesetz muss nunmehr zusätzlich angegeben werden
•der geplante Ablauf der Versammlung nach Ort, Zeit und Thema,
•bei Aufzügen auch der beabsichtigte Streckenverlauf
•Name und Anschrift der anzeigenden Person und der Person, die sie leiten soll, sofern eine solche bestimmt ist,
•die Zahl der einzusetzenden Ordner.
Ändert sich die Planung oder wird die Versammlung nicht durchgeführt, ist das unverzüglich mitzuteilen. Eine unterbliebene oder „in wesentlicher Hinsicht unrichtige“ Anzeige kostet den Versammlungsleiter und Veranstalter bis zu 500 Euro, jede „wesentliche“ Abweichung von der Anzeige bis zu 1.500 Euro. Da all die genannten Angaben schon zu machen sind, bevor eine Versammlung überhaupt angekündigt werden darf, wird die Freiheit der Gestaltung der Versammlung gehemmt und diese in erheblichem Umfang bürokratisiert, ohne dass ein wirklicher Nutzen dafür erkennbar ist. Das schreckt von der Organisation von Versammlungen ab. Eine übermäßige Bürokratisierung kann auch dazu führen, dass Versammlungen schlichtweg nicht mehr angezeigt oder als „Spontanversammlungen“ veranstaltet werden, was die Informationsmöglichkeiten der Versammlungsbehörde und damit den Schutz der öffentlichen Sicherheit beeinträchtigt.
Wir Piraten lehnen die Erweiterung der Anzeigepflichten ab. Es reicht aus, dass Einzelheiten der geplanten Versammlung im Zuge auf die Anzeige folgender Kooperationsgespräche geklärt werden können, zumal diese Details im Zeitpunkt der Anzeige oftmals noch nicht feststehen oder sich kurzfristig ändern können.
5. Verbot von „Ersatzversammlungen“
Wird eine Demonstration aufgelöst, so sind „Ersatzversammlungen“ am selben Ort nach dem VersFG SH pauschal verboten, selbst wenn sie vollkommen friedlich verlaufen und Verbotsgründe nicht vorliegen. Im Bundesversammlungsgesetz ist kein Verbot von „Ersatzversammlungen“ vorgesehen. Wir Piraten lehnen ein solches Pauschalverbot ab. Ist eine Nachfolgeversammlung mit der aufgelösten tatsächlich identisch, kann die Auflösung auch ohne gesetzliche Regelung durchgesetzt werden, da die Gründe für die Auflösung der ersten Versammlung in der Regel fort wirken.
III. Verpasste Chancen
Verschiedenen Mängeln des Bundesversammlungsgesetzes wurde nicht abgeholfen. So wird weiterhin kein Demonstrationsrecht auf öffentlich zugänglichem Privatgelände gewährt. Dabei waren sich alle Sachverständigen – vom ehemaligen Verfassungsrichter Prof. Dr. Hoffmann-Riem bis zur Gewerkschaft der Polizei – einig, dass Demonstrationen wegen der zunehmenden Privatisierung des öffentlichen Raums künftig auch vor Einkaufszentren und auf sonstigen öffentlich zugänglichen Privatgrundstücken zugelassen werden sollten. Eine gesetzliche Kennzeichnungspflicht, die auch für Polizeibeamte aus anderen Bundesländern gegolten hätte, fehlt im Gesetz. Dies erschwert die Verfolgung mutmaßlicher Straftaten im Amt, wie sie auch in Schleswig-Holstein in der Vergangenheit aufgetreten sind.
Das umstrittene Vermummungsverbot wird im Kern beibehalten. Und die Anzeigepflicht bleibt auch für Kleinstversammlungen bestehen.
IV. Fazit
Carsten Gericke vom Republikanischen Anwaltsverein (RAV) äußerte sich erschüttert über das in Schleswig-Holstein beschlossene Ver-sammlungsfreiheitsgesetz: „Es ist ein repressives Versammlungsgesetz geworden“. In der Tat: Ein derartiges Gesetz haben die vielen Menschen in Schleswig-Holstein, die friedlich demonstrieren wollen, nicht verdient. In der Summe drohen die Einschüchterungen Menschen davon abzuhalten, ihr Demonstrationsrecht wahrzunehmen. Wir PIRATEN protestieren gegen diese Verschärfungen entschieden und fordern, die Versammlungsfreiheit wieder herzustellen. Das letzte Wort kann hier nicht gesprochen sein.
Patrick Breyer, Mitglied des Schleswig-Holsteinischen Landtags, Piratenfraktion