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Interview:

Solidarität mit den Palästinenser:innen, was denn sonst?

Guten Tag. Ich teile folgende Überzeugung: Die Palästinenser:innen werden von Israel unterdrückt. Sie genießen nicht die gleichen Rechte, haben nicht die gleichen demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiten und sind ökonomisch benachteiligt.

Einige von ihnen leben im Gaza-Streifen in einer Art unterversorgtem Open-Air-Knast. In Israel wiederum regiert eine korrupte, rechte Clique, die zusammen mit faschistischen Siedlern daran arbeitet, auch noch die letzten palästinensischen Enklaven zu räumen und die keinerlei Interesse an Frieden hat. Ich denke, dass es legitim ist, dafür den Begriff Siedler-Kolonialismus und Apartheid zu gebrauchen. Und ich denke, dass es die Aufgabe von Internationalist:innen ist, sich mit den Palästinenser:innen zu solidarisieren. Ich denke dagegen nicht, dass es die Aufgabe von Linken ist, Bombardements von Wohngebieten, Schulen, Krankenhäusern oder Moscheen zu relativieren, rechte Hetzjagden auszublenden oder sich für die Propaganda der Netanjahu-Regierung einspannen zu lassen, indem man noch den letzten jüdischen Dissidenten als Antisemiten diffamiert. Ich denke auch nicht, dass es die Aufgabe von Linken ist, zusammen mit einer islamophoben Rechten die palästinensische und arabische Community als quasi von Natur her verdorbene, nach dem Blut von Juden gierenden Mob darzustellen.
Würde ich in irgendeinem anderen Land als Deutschland leben, wäre das eine ziemlich unkontroverse Meinung. Es wäre von Italien über das Baskenland bis Großbritannien, von Mexiko über Brasilien bis nach Argentinien, von der Türkei und Kurdistan bis nach Südafrika keine Position, für die mich irgendein anderer Linker, egal ob Anarchist, Sozialist, Kommunist ächten würde. Ich lebe aber in Deutschland, deshalb erzeugt eine solche Positionierung eine Reihe von Anfeindungen und Angriffen, die ich gerne durchspielen will, weil ich denke, dass viele Genoss:innen diesen Attacken ausgesetzt sind und auch viele eingeschüchtert sind.
Ich trete also in den Dialog mit einem fiktiven „israelsolidarischen Linken“ und wie könnte der anders eröffnet werden als mit?

Du bist also auf der Seite der Hamas und ihrer Angriffe auf jüdische Zivilist:innen?

Ich muss jetzt verneinen. Ich verneine nicht, weil ich Sympathien hegen würde und es mich nur nicht sagen traue. Ich verneine, weil ich alles, wofür Hamas und ähnliche Gruppierungen stehen, ablehne. Ich wünsche mir nicht heimlich, dass sie „gewinnen“, denn ich glaube nicht, dass Gruppen wie diese irgendjemandem eine politische Perspektive auf ein besseres Leben bieten, keinem Christen, keinem Juden, keinem Muslim, niemandem. Ich bin der festen Überzeugung, dass sie letztlich nicht gewinnen können, auch wenn sie in einem andauernden Belagerungszustand eine zeitweilige Hegemonie aufbauen können, ganz so wie sich auch die israelische extreme Rechte durch den Krieg und das damit aufrechterhaltene Szenario der andauernden Bedrohung durch die zu Monstern verklärten Palästinenser:innen an der Macht halten kann.
Daraus aber ergibt sich auch schon eine Aufgabe für Linke. Die Verankerung einer politischen Perspektive. Und meiner Überzeugung nach ist es die nach einem säkularen, demokratischen, gemeinsamen – wenns nach meinen Wünschen ginge: sozialistischen – Staat aller in dieser Region lebenden Menschen from the river to the sea, wenn man so will. Wie der dann heisst, es ist mir egal.

Aha, jetzt hab ich dich, du bist also gegen das Existenzrecht Israels!

wird unser linker „israelsolidarischer“ Freund jetzt sagen. Meistens hat er diese Phrase irgendwo aufgeschnappt, weil diejenigen, die noch eine Theorie zu dieser Phrase hatten, sind heute längst nicht einmal mehr in ihrer Eigenwahrnehmung „links“, sondern sitzen irgendwo neben den Don Alphonsos dieser Republik. Die Phrase selbst ist ein Trick, denn sie vermischt Dinge mit ganz unterschiedlichem Inhalt.
Bin ich als Kommunist der Überzeugung, dass irgendein kapitalistischer Staat ein „Existenzrecht“ hat? Nein. Bin ich überzeugt, dass Israel genauso, wie es heute ist, immer weiter sein sollte? Nein. Und man muss dazu sagen, wer sich das wünscht, sagt nicht nur zugleich, dass ihm palästinensisches Leben ziemlich egal ist, er ist auch ein sehr schlechter Freund Israels. Wer könnte der Bevölkerung dieses Staats wünschen für ewig und bis in alle Zeit in diesem Ausnahmezustand ständiger Kriegführung zu existieren? Dystopisch.
In der Frage nach dem „Existenzrecht“ steckt aber ein rationaler Punkt. Die Frage nach dem Recht von Jüdinnen und Juden in Sicherheit zu leben. Und dieser Punkt ist tatsächlich eine unhintergehbare Demarkationslinie für linke Positionen zu diesem Konflikt. Nur wie dieser Zustand herzustellen ist, darüber muss eine Debatte möglich sein. Und sie kann nicht von der Frage nach dem Existenzrecht der Palästinenser:innen getrennt werden.
Und in dieser hat der „israelsolidarische“ Opponent stets eine unausgesprochene Voraussetzung im Hirn, die – zu Ende gedacht – seine offene Flanke zur rassistischen Rechten ist. Er denkt: Es braucht genau diesen militarisierten Staat, denn mit den Arabern kann man nicht koexistieren, lässt man die Zügel los, sticht er zu. Der Palästinenser braucht den Merkava, das denken diese Leute, auch die, die es sich nicht eingestehen.
Er denkt auch: Der Antisemitismus hat nichts mit der Besatzung zu tun, er ist dem Araber quasi natürlich. Vielleicht nicht genetisch, aber kulturell. Jedenfalls aber darf man auf keinen Fall fragen, ob es andere Politikansätze gäbe, als ihn zu räumen oder wegzubomben, die vielleicht eine Versöhnungsperspektive eröffnen, weil das wäre seinerseits wieder antisemitisch. Das mag jetzt polemisch erscheinen, aber politisch und konsequent weiter gedacht lässt diese Auffassung nur zwei Perspektiven zu: Den Status Quo oder den Genozid.

Sieh dir doch an, wie zerfressen vom Judenhass sie sind! Wie können Linke sich bloß mit denen gemein machen?

wird unser „israelsolidarischer“ Gesprächspartner jetzt einwenden und seine breite Sammlung an Bildern antisemitischer Demo-Schilder und Facebook-Postings hervorkramen. Es gibt hier zweierlei Probleme. Zum einen ist es halt so, dass es nahezu keine Kritik am Staatshandeln Israels gibt, die dem „Israelfreund“ nicht als antisemitisch gilt. Warum? Weil er schlichtweg die von Israel und seinen westlichen Alliierten präferierte Antisemitismus-Definition zugrunde legt, anstatt sich etwa an der Jeruslam Declaration (1) zu orientieren oder gar im Rahmen der eigenen Weltanschauung begrifflich zu entwickeln, was Antisemitismus ist. Antisemitisch ist es dann wahlweise von „Kolonialismus“ oder „Apartheid“ zu sprechen, findet man gar kein anderes Argument mehr, muss man den palästinasolidarischen Gegner daraufhin befragen, ob er diese Woche auch schon Kritisches zu Äthiopien, Myanmar, Indien oder Kanada gesagt hat, weil wenn nicht handelt es sich um einen sogenannten Doppelstandard, also Antisemitismus. Es geht hier um Diffamierung, was man schon daran erkennen kann, dass diverse Urkartoffeln im Zweifelsfall keine Scham haben, linke Jüd:innen zu glühenden Antisemiten zu erklären.
Nun ist das aber nur eine Seite der Medaille, denn die andere ist: Auch ohne unseren „israelsolidarischen“ Kumpel wird uns ja nicht entgehen, dass in der Soli-Bewegung unverhohlener Antisemitismus vorkommt. Er kommt in seiner organisierten Form vor: als rechte Gruppen von Hamas-Fans bis Graue Wölfe. Und er kommt in seiner „alltäglichen“ Form als Ressentiment von Einzelpersonen vor.

Ja genau und ihr Antiimperialisten verleiht genau dem noch einen humanitären Anstrich!

meint jetzt unser „israelsolidarischer“ Gesprächspartner. Aber das Gegenteil ist der Fall. Es gibt einen objektiven Grund für die Wut der Palästinenser:innen. Die Unterdrückung durch Israel verschwindet nicht, wenn wir wegschauen oder uns ducken. Das macht es nur reaktionären Kräften leichter, ihre Hegemonie fortzuschreiben und auszubauen. Kräften, die allerdings niemals für irgendeine Lösung des Konflikts stehen können. Die Aufgabe von Linken ist es dagegen, mit denjenigen, die auf einer progressiven Grundlage Solidarität mit den Palästinenser:innen entwickeln, zusammen zu stehen. Diese Bündnisse gibt es auch in Deutschland, sie haben – von Migrantifa (2) über „Palästina spricht“ (3) bis zum linken jüdischen Organisationen (4) – ohnehin schon ihre Stimme erhoben, anstatt zu versuchen, sie mundtot zu machen, sollten wir ihnen Gehör verschaffen. Die Bekämpfung des Antisemitismus und die Entwicklung einer politischen Perspektive in der palästinensischen Solidaritätsbewegung gehören zu ein und demselben Projekt.
Was hat die Gegenseite anzubieten? Staatstreue. Nicht nur zum israelischen. Ob sie wollen oder nicht, auch zur deutschen Staatsräson. Zwischen unseren „israelsolidarischen“ Freund, Cem Özdemir, Springer, das Außenamt oder die Werteunion passt da im Konkreten kein Blatt Papier. Der „israelsolidarische“ Linke wird zwar betonen, er sei ja nicht für Netanjahu, sondern für irgendeine abstrakte Idee des israelischen Staats, aber er wird genauso unter jedes Video eines Bombardements in Gaza „aber die Hamas!“ kommentieren wie sein Pendant aus FDP oder Junge Union. Das wiederum drängt keinen Antisemitismus zurück. Es dient einzig zur moralischen Selbstüberhöhung.

Man könnte diesen fiktiven Dialog jetzt endlos so weiter schreiben. Die Debatte ist uralt. Ich glaube aber, sie kippt gerade ein wenig. Zu verdanken ist das meiner Meinung nach dem Umstand, dass sich im Zuge von Migrantifa und Black Lives Matters migrantische Linke viel sichtbarer in Deutschland organisiert haben. Sie sind auch und gerade vielen dieser Angriffe ausgesetzt. Aber sie sind auch viel weniger dazu bereit, sich wegzuducken.

Peter Schaber
Übernommen aus dem Lower Class Magazine
(https://lowerclassmag.com/)
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion

1 The Jerusalem Declaration on Antisemitism, https://jerusalemdeclaration.org/
2 https://migrantifaberlin.wordpress.com/
3 https://www.palaestinaspricht.de/
4 https://www.juedische-stimme.de/, https://jewishbund.de/, https://www.facebook.com/salaam.schalom.initiative