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Rostok-Lichtenhagen 1992:

Ein Zeitzeugenbericht zum 20. Jahrestag des Pogroms

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Fotos: www.umbruch-bildarchiv.de

01.08. 2012 Beim Erzählen über das Pogrom von Lichtenhagen oder beim Zeigen des Films „The Truth lies in Rostock“ kommt oft die Frage auf, wie die Stimmung damals in der Stadt gewesen wäre, ob man habe merken können, dass sich was zusammenbrauen würde, ob das damals wirklich so krass war mit den Nazis in Rostock, ob Rostock eine Nazi-Hochburg gewesen sei.
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Mit einer schnellen Antwort ist es dann nicht getan. Gerade gegenüber Leuten, die diese Zeit damals nicht erlebt haben – sei es weil sie zu jung waren, sei es, weil sie zu weit weg waren – ist es schwer zu vermitteln, welche Atmosphäre in einer ostdeutschen „Regiopole“ drei Jahre nach der Wende und zwei Jahre nach der Wiedervereinigung herrschte.
 
Der folgende Artikel wird daher nicht nur die Tage Ende August 1992 aus einer persönlichen Sicht eines damals in der linken Szene Rostock Aktiven darstellen, sondern auch die politische, soziale und wirtschaftliche Situation Anfang der Neunziger Jahre beleuchten, um die Zusammenhänge deutlich zu machen.
 
Aufbruch und Ernüchterung
 
Von der Anfangseuphorie und Aufbruchstimmung der Wendejahre war 1992 nicht mehr viel zu spüren, sie war aber auch nicht weg. Rostock, zu DDR-Zeiten das „Tor zur Welt“, lebte vor allem vom Schiffbau auf der Neptun- und der Warnowwerft und vom Überseehafen. Der mit der durch die Treuhandanstalt forcierten Zerschlagung und Privatisierung der Rostocker Großbetriebe einhergehende massive Arbeitsplatzabbau führte noch 1991 zu großen und starken Protesten. Im März 1991 waren 35.000 ArbeiterInnen in Rostock auf der Straße, Blockaden des Werft-Dreiecks mit schweren Schiffsschrauben gehörten fast zum Rostocker Alltag. Die Anti-Treuhand-Proteste ebbten aber – wie überall in Ostdeutschland – nach dem Rohwedder-Attentat am 1. April 1991 wieder ab. Noch 1991 wurde auf der Neptun-Werft der Schiffsneubau eingestellt, 1992 war der Großteil der Beschäftigten bereits entlassen. Die Proteste im Frühjahr 1992 im Rahmen der Privatisierungsverhandlungen konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Wesentlichen die „Messen schon gesungen“ waren. Von den 55.000, die vor der Wende in den maritimen Großkombinaten beschäftigt waren, blieben Anfang 1992 noch 22.000, Ende 1992 nur noch 17.000 übrig. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen in Rostock lag Anfang 1992 bei über 53.000, die Arbeitslosenquote damit bei fast 20%. Die damit einhergehende Stimmung war 1992 überall zu spüren.
 
Daneben gab es in Rostock im Verhältnis zur Größe dieser Sadt eine außerordentlich vitale Kultur- und Polit-Szene. Die Bevölkerung Rostocks, hatte den ostdeutschen Trend, mehrheitlich konservativ zu wählen, nicht mitgemacht. Galt in den Wendemonaten die Bezeichnung „Roter Norden“ noch als Schimpfwort für die Bezirke Rostock, Schwerin und Neubrandenburg, weil dort die Wende-Proteste angeblich erst so spät angefangen hätten, konnte diese Zuschreibung nach 1990 auch positiv umgedeutet werden. Rostock war ab den ersten freien Wahlen SPD-regiert, die PDS war fast durchgängig die stärkste oder zumindest zweitstärkste Partei; selbst Bündnis 90/Die Grünen kamen Anfang der 1990er Jahre auf für Ostdeutschland sensationelle 10%. Während Dresden und Leipzig in einem Deutschland-Fahnen-Meer und Rufen wie „Helmut, nimm uns an die Hand und führ´uns in das Wirtschaftswunderland“ untergingen, war in Rostock während des Wahlkampfes zur letzten Volkskammerwahl bei der Kundgebung der Allianz für Deutschland die Anzahl der Gegendemonstranten mindestens genauso hoch, wie die der „Helmut-Helmut-RuferInnen.
 
Die alternative Subkultur und Politszene hatte sich etabliert. Die Freiräume waren enorm; die Staatsmacht hatte ihre Niederlage vom Herbst 1989 noch nicht verkraftet, die neuen Strukturen befanden sich noch im Aufbau, der kurze Herbst der Anarchie war auch 1992 noch nicht ganz vorbei. Im November 1989 wurde das Haus in der Doberaner Straße 6 besetzt und als „Tante Trude“ als erster Anlaufpunkt der linken Szene bekannt. Das Mau war schon vor 1989 Treffpunkt der alternativen Subkultur, neben einer Vielzahl von besetzten Häusern eröffnete 1991 das Jugend-Alternativ-Zentrum am Rosengarten. Schulbesetzungen waren an der Tagesordnung. Als am 31. Dezember 1991 der NDR den Jugendsender DT64 abschaltete, gingen über mehrere Wochen jeweils bis zu 5.000 Leute in Rostock auf die Straße, um für den Erhalt des explizit linken Radiosendes zu demonstrieren. Das NDR-Rundfunkgebäude wurde besetzt, die Staatskanzlei massiv mit Farbeiern verschönert.
 
Nazi-Angriffe und Gegenwehr
 
Daneben häuften sich die Angriffe von Neonazis auf Flüchtlingsunterkünfte, besetzte Häuser und alle anderen, die nicht in ihr Weltbild passten. Von organisierten (Partei)Strukturen weit entfernt, entfaltete die rechtsextremistische Szene – wie überall in Ostdeutschland – ein krasses Bedrohungspotenzial, das sich in fast täglichen Übergriffen manifestierte. So löste damals jedes Heimspiel des FC Hansa Großalarm bei allen linken Projekten in der Stadt aus, da im Anschluss an das Spiel mit größeren Ansammlungen von rechten Hools und Neonazis in der Stadt zu rechnen war, die regelmäßig alle, die nicht in ihr Weltbild passten, angriffen. Die „Tante Trude“ wurde gleich nach ihrer Eröffnung attackiert, den ersten heftigeren – aber auch erfolglosen – Angriff erlebte die „Trude“ in der Sylvesternacht 1989.
 
Diese Übergriffe fanden statt vor dem Hintergrund einer massiven rassistischen Hetze seitens der politischen Eliten und der Medienöffentlichkeit, die sich vor allem gegen die Einreise von MigrantInnen richtete und auf die Abschaffung des Grundrechtes auf Asyl ausgerichtet war. So titelte DER SPIEGEL in seiner Ausgabe vom 9.9.2011 mit einem überfüllten schwarz-rot-gold-gestreiften Boot und dem Schriftzug „Flüchtlinge Ausländer Asylanten – der Ansturm der Armen“; die FAZ sprach in ihrer Ausgabe vom 8.11.1991 von Asyl-Touristen; die BILD-Zeitung dramatisierte mit „Fast jede Minute ein neuer Asylant – die Flut steigt, wann sinkt das Boot?“ (2.4.1992), um nur einige Beispiele zu nennen. Diese Hetze stieß bei der Bevölkerung auf einen viel zu großen Resonanzboden. Spätenstens nach dem Pogrom von Hoyerswerda im September 1991 eskalierten im gesamten Osten die Angriffe auf MigrantInnen und ihre Unterkünfte, auch in Rostock.
 
Darauf musste reagiert werden. Antifaschistisches Engagement war nicht nur Ausdruck eines linken politischen Selbstverständnisses vieler Jugendlicher, sondern pure Notwendigkeit. Eine „Das-interessiert-mich-nicht“-Haltung konnte man sich als jemand, der äußerlich als migrantisch und/oder nicht-rechts erkennbar war, nicht erlauben. Zu alltäglich und zu brutal waren die Überfälle von Faschisten und rechten Jugendlichen, zu oft wurden der Vernichtungswillen und die Vernichtungsbereitschaft der Neonazis manifestiert. Die Erfahrung, sich in Unterzahl gegen Nazis zur Wehr setzen zu müssen, teilten Rostocker AntifaschistInnen mit vielen anderen in Ostdeutschland. Militante antifaschistische Gegenwehr wurde – wie überall in Ostdeutschland nach 1989 – zum Grundrepertoire linker AktivistInnen. In Rostock haben wir Kontakt zu MigrantInnen-Communities aufgebaut und Unterstützungsarbeit in vielerlei Hinsicht geleistet, Schutzwachen vor Flüchtlings- oder VertragsarbeiterInnenwohnheimen eingerichtet, wenn mal wieder ein Angriff angekündigt wurde, die besetzten Häuser gesichert, Patrouillen aufgestellt, Gegenangriffe gestartet. Die erste reine Antifa-Demo nach bzw. in der Wende in Rostock fand bereits im Dezember 1989 statt.
 
Die Staatsmacht in Gestalt der Polizei hielt sich in dieser Zeit zurück. Entweder kam sie gar nicht, zu spät oder wurde erst gar nicht gerufen. Das lag zum einen an dem enormen Legitimationsverlust, den die Staatsmacht nach 1989 erlitt und der zu einer großen Verunsicherung bei den Ex-Volkspolizisten geführt hatte. Zum anderen gab es aber auch eine weit verbreitete Unfähigkeit bei der Polizei, mit solchen Situationen umzugehen. Dass es auch anders geht, mussten AntifaschistInnen im Frühjahr 1992 erfahren, als die DVU im ehemaligen Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft ihren Gründungsparteitag abhalten wollte. Als mehrere hundert Antifas den Tagungsort blockierten, starteten in der Nähe geparkte SEK´s und Bereitschaftspolizisten einen Überraschungsangriff, der zu mehreren Verletzten und zu einer Hetzjagd von AntifaschistInnen führte. Die Polizei hat damit deutlich gemacht, dass sie auch entschlossen durchgreifen kann, wenn sie will und wenn sie soll. Diese Erfahrung sollten wir Ende August wieder machen.
 
Organisierungsversuche seitens der Nazis wurden vor allem von Hamburg aus gestartet. FAP, NPD, Worch und Co. – alle wollten in Rostock Fuß fassen, so richtig hat es aber nicht geklappt, zu diffus und organisationsfeindlich war die Rostocker Nazi-Szene. Die „Hamburger Liste Ausländerstopp“ versuchte im Frühsommer 1992 massiv in Rostock an Einfluss zu gewinnen; Ziel war die Gründung eines Rostocker Ablegers, der sich an den Kommunalwahlen beteiligen sollte. Organisatorisch schlug aber auch dieser Versuch fehl.
 
Die ZAST
 
In Rostock gab es verschiedene – meist zentralisierte – Unterkünfte für MigrantInnen. Dazu gehörten die Wohnheime für die VertragsarbeiterInnen, vorwiegend aus Vietnam, aber auch aus Kuba, Angola und Mosambique und die Unterkünfte für AsylbewerberInnen. Im Sonnenblumenhaus in der Mecklenburger Allee 18 und 19 fand sich beides nebeneinander. Während die vietnamesischen VertragsarbeiterInnen dort schon zu DDR-Zeiten wohnten und auch nach der Wende dort wohnen bleiben konnten, mussten die kubanischen VertragsarbeiterInnen raus; deren Wohnheim wurde 1990 zur Zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber (ZAST). Die ZAST war eigentlich für 250 Leute ausgelegt, tatsächlich haben in bzw. vor dem Wohnheim mehr als 600 Flüchtlinge gelebt. Diese Zustände wurden zwar immer wieder kritisiert, die Stadt weigerte sich aber trotzdem, wenigstens mobile Toiletten aufzustellen. Der Umzug der ZAST, der schon am 1. Juni 1992 erfolgen sollte, war letztendlich für den 1. September 1992 geplant.
 
Die Vorbereitungen
 
Die ersten Vorboten der Ereignisse im August tauchten im Frühsommer auf. Unter dem Motto „Rostock bleibt deutsch“ wurden ca. 100.000 Flugblätter in Rostock verteilt, mit denen massiv gegen MigrantInnen gehetzt wurde. In der Woche vor Beginn des Pogroms tauchten die ersten Meldungen, u.a. von einer „Interessengemeinschaft Lichtenhagen“, in der Ostseezeitung und der NNN auf, die einen gewalttätigen „Protest“ vor dem Sonnenblumenhaus ankündigten. Obwohl dies nicht die ersten Ankündigungen und massive Angriffe gegen Flüchtlingsunterkünfte waren, nahmen wir die Ankündigungen ernst und trafen die ersten Vorbereitungen. Wir nahmen Kontakt zu den VietnamesInnen auf und schickten zusammen mit dem Ausländerbeauftragten von Rostock und einer Vertreterin der Initiative für Frieden und Menschenrechte einen Vertreter von uns in das Haus. Gleichzeitig sagten wir befreundeten Antifagruppen in Ostdeutschland und Hamburg, mit denen wir gut vernetzt waren, Bescheid, dass wir ihre Unterstützung in Rostock brauchen würden. Leute von uns sind nach Hamburg und Berlin gefahren, um dort die Leute nach Rostock zu mobilisieren. Schon am Freitagabend/ Samstagvormittag trafen die ersten Auswärtigen ein. So richtig vorstellen, was dann passiert ist, konnte sich aber zu dem Zeitpunkt noch keiner.

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 Fotos: www.umbruch-bildarchiv.de

Samstag, 22. August 1992
 
Am Samstag sind das erste Mal Leute von uns gegen Mittag/ frühen Nachmittag raus nach Lichtenhagen gefahren und trafen auf einen schon massiv aggressiven, mehrere hundert Menschen starken Mob. Die Antifas wurden sofort erkannt und mussten sich erstmal zurückziehen. Von da an war klar, dass sich das, was sich da vor dem Sonnenblumenhaus abzeichnete, zu einem größeren Angriff auswachsen würde. Das JAZ wurde nun zum Informations-, Koordinierungs- und Mobilisierungszentrum für alle, die aktiv etwas gegen die sich abzeichnenden rassistischen Angriffe tun wollten. Alle linken Orte und Gruppen aus anderen Städten, deren Telefonnummern bekannt waren, haben wir angerufen und aufgefordert, nach Rostock zu kommen, um das beginnende Pogrom zu stoppen. Internet, E-Mails, Handys – das alles gab es damals noch nicht. Alles lief über persönliche Kontakte oder über Festnetz. Ständig kamen Leute an, aus Rostock, Umgebung und aus anderen Städten, um sich zu informieren und aktiv zu werden. Permanent fanden Treffen statt, die Lage wurde diskutiert, Entscheidungen getroffen. Permanent waren Kleinguppen von AntifaschistInnen im Nordwesten aktiv, die erfolgreich und unter hohem persönlichen Einsatz zumindest einzelne Neonazis und RassistInnen am weiteren Ausleben ihrer Vernichtungsideologie gehindert haben. Wir wollten aber auch durch eine größere Mobilisierung nach Lichtenhagen das Pogrom stoppen, zumindest in einer größeren Aktion ihnen etwas entgegensetzen. Allerdings war die Zusammensetzung der Leute, die bereit waren, rauszufahren, sehr heterogen. Die Erfahrungen mit Nazi-Gewalt und militanter antifaschistischer Gegenwehr waren sehr unterschiedlich ausgeprägt. Dazu kam das Tansportproblem: Lichtenhagen war von der Innenstadt aus in einer größeren Gruppe nur mit der S-Bahn oder in einem Auto-Konvoi erreichbar. Die S-Bahn kam nicht in Betracht, da ständig Berichte über die Einstellung des Bahnverkehrs auftauchten. Außerdem war der S-Bahnhof Lichtenhagen einer der Hauptaktionsorte der Nazis gewesen. Kam also nur ein Auto-Konvoi in Frage, dessen Organisation auch kein unwesentliches logistisches Problem war. Schließlich war die Informationslage immer unklar. Wo waren überall Nazis, hat die Polizei Absperrungen errichtet etc. pp. Einen Ticker oder twitter gab es damals nicht. Am Samstagabend waren wir zumindest soweit handlungsfähig, dass wir eine erste größere Gruppe nach Lichtenhagen schicken konnten, die aber aufgrund der zahlenmäßigen Unterlegenheit nichts ausrichten konnte, da zu diesem Zeitpunkt gerade die Angriffe eskalierten.
 
Parallel wurde eine für die Umstände erstaunlich gut funktionierende Infrastruktur aufgebaut. Schlafplätze wurden organisiert, Essen gekocht, Informationen gesammelt und verteilt. Gleichzeitig haben wir versucht, Druck auf die Verantwortlichen und die Zivilgesellschaft aufzubauen, um die zum Handeln zu bringen, leider meist erfolglos.
 
Sonntag, 23. August 1992
 
Ab dem Nachmittag war klar, dass es weitergehen, vielleicht schlimmer werden wird. Ständig haben wir versucht, wieder eine größere, diesmal handlungsfähigere Gruppe zusammenzustellen, die nach Lichtenhagen rausfährt. Die Diskussionen über das Ziel und den Sinn einer solchen Aktion waren zermürbend und zeitraubend, aber in dieser von der Größenordnung her für fast alle neuen Situation wohl unausweichlich. Zwar war ein nicht unwesentlicher Teil der Antifas erfahren mit Situationen, in denen man einer Überzahl an gewaltbereiten Neonazis gegenüberstand, doch die Zusammensetzung der AktivistInnen war sehr heterogen, das Geschehen zu unübersichtlich, die Erfahrungen zu unterschiedlich. Viele kannten sich nicht. Schließlich ging es im Endeffekt um die Frage, ob man bereit ist, das Sonnenblumenhaus auf offener Wiese militant gegen einen rassistischen Mob von 2000 Schaulustigen und 500 gewalttätigen Neonazis zu verteidigen.
 
Am frühen Abend fuhren ca. 150 bis 200 AntifaschistInnen nach Lichtenhagen und sammelten sich auf der Nordseite des Sonnenblumenhauses. Da sie sich vor Ort nicht schnell genug über das weitere Vorgehen einigen konnten und sie auch relativ schnell von Nazis entdeckt wurden, entschloss man sich zunächst, wieder zurückzufahren.
 
Als in den Abendstunden die Angriffe eskalierten, fuhren wir noch mal raus, diesmal in einer Gruppe von ca. 300 Leuten und entschlossen, die Nazis zu vertreiben. Es war so gegen Mitternacht. Vorangegangen waren langwierige Plenas im JAZ-Garten: Fahren wir raus? Wie fahren wir raus? Was machen wir dort? Wozu sind die Leute bereit? Die Diskussion zog sich eine gefühlte Ewigkeit hin. Endlich sind wir dann rausgefahren, ca. 300 Leute, im Autokonvoi, ausgerüstet für jeden Notfall, voller Wut und Hass. Geparkt hatten wir bei den Neckermann-Häusern zwischen Lichtenhagen und Lütten Klein. Von dort aus sind wir dann zu Fuß durch Lichtenhagen, immer in der Deckung von Hauswänden, ohne einen Laut von uns zu geben, über uns kreiste der Hubschrauber. Es war stockfinster. Keine/r von uns wußte, was uns vor dem Sonnenblumenhaus erwarten würde. Dann, angekommen auf dem großen langen Parkplatz neben der Stadtautobahn, haben wir einen Demonstrationszug gebildet, alle liefen in Ketten. Es ging zügig in Richtung Sonnenblumenhaus, voller Hass und Wut riefen wir „Nazis raus! Hier kommt die Antifa!“. Umso näher wir kamen, desto schneller wurden wir. Die Nazis und der rassistische Bürgermob stoben auseinander, flüchteten in den Stadtteil hinein oder über die S-Bahn-Brücke. Wir liefen hinterher und vertrieben sie.
 
Das Überraschungsmoment war auf unserer Seite. Auf einmal standen wir vor dem Sonnenblumenhaus, die ganze Wiese voll mit Pflastersteinen, beißender Geruch von brennenden Autos und Mülltonnen in der Luft, Bürgerkriegsatmosphäre. Die Situation war extrem unübersichtlich. Wir wußten nicht, wie viele Nazis und RassistInnen noch da waren und wo sie sich aufhielten. Wie weiter? Was jetzt? Was machen wir jetzt hier vor dem Sonnenblumenhaus? Bleiben wir? Und wenn ja, was sind die Konsequenzen? Können wir die alle tragen? Die entscheidenden Fragen konnten wir so schnell nicht beantworten. Die Alternative war, vor dem Haus zu bleiben und weitere Angriffe der Nazis abzuwehren oder eine Demo zu machen und danach weiter zu entscheiden. Nicht verhandelbar war, dass wir uns trennten. Dazu waren wir zu wenige. Wir zögerten, waren unentschlossen. Unser Fehler. Die Nazis und die RassistInnen merkten das und kamen langsam wieder. Einige Gruppen sagten, dass sie auf keinen Fall bleiben wollten, bleiben konnten. Wir entschlossen uns dann dazu, in Bewegung, dynamisch zu bleiben, die Demonstration weiterzuführen und nicht vor dem Sonnenblumenhaus stehen zu bleiben. Wir zogen dann durch Lichtenhagen, kraftvoll und lautstark. Auf der Sternberger Straße kam uns schließlich eine Hamburger Hundertschaft entgegen, die zunächst an uns vorbeifuhr. Wir dachten uns nichts dabei, die Polizei war in den Tagen kein relevanter Faktor.
 
Als wir gerade an unseren Autos ankamen, kehrte die Hundertschaft zurück und kesselte uns ein. Ein Großteil von uns konnte entwischen, ich und mit mir ca. 60 andere blieben hängen und wurden in die Gefangenensammelstelle (Gesa) in die Ulmenstraße verbracht. Dort wurden wir zunächst in die Turnhalle gesperrt zu den paar Nazis, die ebenfalls in Gewahrsam genommen worden waren. Sie bekamen dann unsere ganze Wut und unseren Hass ab. Als die Polizisten merkten, wen sie da zusammengesperrt hatten, wurden wir getrennt. Wir bekamen dann den Hof. Mehr und mehr gelang es uns, unsere Fesseln zu lösen. Wir eroberten uns immer mehr Freiraum in der Gesa. Bald konnten wir uns frei bewegen, die Polizei hatte kaum noch Einfluss auf die Situation. In den Vormittagsstunden kamen dann auch UnterstützerInnen von draußen, die Essen, Trinken und Tabak über die Mauer warfen. Einigen von uns gelang auch mit Hilfe von außen die Flucht über die Mauer. Die PolizeibeamtInnen waren völlig überfordert.
 
Montag, 24. August 1992
 
Wir wurden so gegen 17.00 Uhr entlassen. Wir gingen dann erst einmal wieder zum JAZ. Mittlerweile waren noch mehr Leute aus anderen Städten gekommen. Abends erreichte uns die Nachricht, dass die Polizei abgezogen sei und sich die Angriffe auf das Haus verstärkten. Die ZAST war schon im Laufe des Tages unter dem johlenden Beifall der RassistInnen geräumt worden, die VietnamesInnen waren aber noch da. Die Plenas zogen sich wieder in die Länge, eine Entscheidung fiel nicht. Zwei von uns sind dann mit der Videokamera raus und haben von der Wiese vor dem Sonnenblumenhaus Aufnahmen gemacht, wie die Nazis das Wohnheim in Brand stecken. Als sie wieder zurückkamen und das Video zeigten, eskalierte die Diskussion. Wir standen dann wieder bei den Autos, wollten nach Lichtenhagen fahren, aber aus irgendeinem Grund nicht als Großgruppe. Gerüchte kursierten, die Verunsicherung war zu spüren, aber auch der Wille, die Nazis zu vertreiben. Ich weiß nicht mehr, was der ausschlaggebende Grund war, aber wir sind dann nicht gefahren.
 
Was in der Nacht passierte, ist bekannt. Die Polizei war abgezogen worden, die Nazis konnten unbehelligt das Wohnheim in Brand setzen. Sämtliche BewohnerInnen und UnterstützerInnen, die sich im Haus aufgehalten haben, konnten sich nur mit Mühe und viel Glück über das Dach retten. Der damalige Innenminister Kupfer kommentierte dies mit menschenverachtendem Zynismus: Es hätte offensichtlich keine Lebensgefahr bestanden, da keiner der VietnamesInnen nach der Rettung ärztliche Hilfe in Anspruch genommen hätte. Noch in derselben Nacht wurden die VietnamesInnen evakuiert.
 
Die Tage danach
 
Die Auseinandersetzungen in Lichtenhagen gingen weiter. Die Nazis und „erlebnisorientierte Jugendliche“ lieferten sich mangels MigrantInnen bis Mittwoch oder Donnerstag Straßenschlachten mit der Polizei, zündeten Autos an und randalierten. Jetzt fingen auch BewohnerInnen Lichtenhagens an, zu den Ausschreitungen auf Distanz zu gehen. Schließlich ging es diesmal um ihr Eigentum. Gleichzeitig fand Dienstagabend in der Rostocker Innenstadt eine vom DGB organisierte Solidaritätsdemo mit ca. 800 TeilnehmerInnen statt. Wir sind zwar hingegangen, aber unsere Enttäuschung, dass die „Zivilgesellschaft“ erst jetzt reagiete, konnten wir nicht verbergen. Dienstagnacht brannte in Groß Klein das „Max“, Treffpunkt der Rostocker Nazi-Szene.
 
Die Situation entspannte sich keineswegs. Für den darauffolgenden Samstag haben wir eine Großdemonstration unter dem Motto „Stoppt die Pogrome. Solidarität mit den Flüchtlingen. Bleiberecht für alle“ in Lichtenhagen organisiert, für deren Vorbereitung uns nur wenige Tage blieben. Gleichzeitig waren überall in der Stadt größere Nazi-Gruppen unterwegs. Ständig wurde, nachdem die Flüchtlinge und VietnamesInnen erfolgreich vertrieben worden sind, mit Angriffen auf linke Zentren und Häuser gerechnet. Zu Auseinandersetzungen mit Nazi-Gruppen kam es überall in der Stadt. Zum Ende der Woche hat sich dann die Stadtverwaltung positioniert und Flyer verteilt, mit denen die Rostocker Bevölkerung dazu aufgefordert wurde, Menschenansammlungen am Wochenende fern zu bleiben und sich nicht in Gefahr zu begeben. Solche Flyer hatten wir eine Woche vorher, als die Aufrufe zu dem rassistischen Pogrom veröffentlicht wurden, vermisst.

Die Großdemonstration

Am Samstag, den 29. August 1992, befand sich Rostock in einem Belagerungszustand. Tausende Polizeibeamte aus dem gesamten Bundesgebiet waren auf einmal verfügbar, schweres Gerät wurde angefahren. Der Hamburger Bus-Konvoi wurde in Bad Doberan von einem massiven Polizeiaufgebot aufgehalten. Erst nachdem die DemonstrantInnen den Molli besetzt hatten, wurde ihnen die Weiterfahrt „gestattet“. Es waren am Ende 20.000 AntifaschistInnen, die durch Lichtenhagen und Lütten Klein kraftvoll und entschlossen demonstriert haben – ein politischer Erfolg.

Die Folgen

Auf der politischen Bühne wurde das Pogrom von Lichtenhagen als Begründung für die Abschaffung des Asylrechts missbraucht. In Rostock und überall in Ostdeutschland und partiell auch im Westen eskalierten die Angriffe auf MigrantInnen und Flüchtlingsunterkünfte im Herbst 1992. In Rostock kam es jetzt fast täglich zu Auseinandersetzungen mit Nazis. Im Oktober 1992 verübten Nazis einen Brandanschlag auf das JAZ. Für uns war klar, dass an der Situation nur durch eine Dreifach-Strategie etwas geändert werden konnte. In Rostock musste durch eine breite und effektive Bündnisarbeit ein Anti-Nazi-Konsens geschaffen werden. Rostock musste sich eindeutig zu seinen migrantischen BürgerInnen bekennen und vor allem an der Unterbringung von Flüchtlingen etwas ändern – Stichwort dezentrale Unterbringung. Und der Nazi-Terror auf der Straße konnte nur durch militante antifaschistische Gegenwehr gestoppt werden.

Die Strategie ist weitgehend aufgegangen. In der Stadtverwaltung, in den Parteien und in der Zivilgesellschaft gab es viele, die ernsthaft und nicht nur aus Imagegründen gegen das Nazi-Problem vorgehen wollten und mit denen wir über Jahre erfolgreiche Bündnisarbeit betreiben konnten. Die Unterbringung der Flüchtlinge hat sich verbessert. Rostock war eine der ersten Kommunen in Mecklenburg-Vorpommern, die sich zur dezentralen und innenstadtnahen Unterbringung bekannt hat. Auch konnte zumindest für einen Teil der VietnamesInnen gegen den Widerstand der CDU-geführten Landesregierung ein Bleiberecht durchgesetzt werden. Schließlich konnte durch militante Antifa-Arbeit bis Mitte der Neunziger Jahre erreicht werden, dass zumindest die Innenstadtbezirke weitgehend sicher vor Nazi-Terror waren. Nazis haben sich in der Zeit nur noch in größeren Gruppen in die Innenstadt getraut. Später hat sich auch die Situation in den Neubauvierteln verbessert.

Die Frage, ob die Geschichte anders hätte verlaufen können, wenn wir damals noch mehr riskiert hätten, ist aber bis heute unbeantwortet und wird es wohl auch bleiben.

Der Zeitzeuge war damals 19 Jahre alt und in der linken Szene in Rostock aktiv. Quelle: http://lichtenhagen.blogsport.de, VVN-BdA  – Der Artikel erschien in der Zeitschrift „Stadtgespräche Rostock“ www.stadtgespraeche-rostock.de

Filme und Diskussion:  www.lichtenhagen-2012.de

Aufruf:

Demonstration 20 Jahre nach dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen unter dem Motto „Grenzenlose Solidarität“:
Sie startet am Sa., 25. August 2012 um 14 Uhr in Rostock am S-Bahnhof Lütten Klein.

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