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Krise in Griechenland

Versuchslabor des Neoliberalismus


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Straßenbahner: „So geht es nicht weiter – Gewerkschaft der Straßenbahner“ Bei der Athener Metro und Straßenbahn sollen die Gehälter noch einmal um 12 Prozent gekürzt werden, nach dem es seit 2010 bereits Kürzungen um 38 Prozent gegeben hatte. (Fotos wop)

 01.10.2012 In Griechenland wird seit Mitte September über das dritte Kürzungspaket der sogenannten Troika verhandelt. EU-Kommission, Europäische Zentral Bank (EZB) und Internationaler Währungsfonds verlangen von der Regierung Einschnitte in die öffentlichen Haushalte in von Höhe 11,5 Milliarden Euro. Im Gegenzug soll es weitere Kredite geben.

Effektiv handelt es sich bei diesen, anders als in der deutschen Öffentlichkeit meist dargestellt, nicht um Hilfsgelder, sondern um Umschuldungsmaßnahmen. Das neue Geld geht nahezu ausschließlich in den Schuldendienst, das heißt, es geht an die Gläubiger Griechenlands und keineswegs an die griechische Bevölkerung. Sofern diese über Pensionsfonds u.ä. im Besitz von griechischen Staatsanleihen war, wurde sie beim Schuldenschnitt im Frühjahr bereits reichlich geschröpft. Die EZB hatte sich hingegen geweigert, auf Schuldforderungen zu verzichten, und während sie inzwischen spanische, portugiesische und die Anleihen anderer Euroländer aufkauft, um deren Zinsen niedrig zu halten, kommt Griechenland nicht in den Genuss dieser Maßnahme.

In der Berichterstattung der englischsprachigen Presse wird übrigens keinen Hehl daraus gemacht, dass die Troika die Interessen der Gläubiger vertritt. Hierzulande wird hingegen gern so getan, als handele es sich um ein neutrales Hilfsangebot, über das verhandelt wird.

Bei Redaktionsschluss waren die Verhandlungen festgefahren. Während die Regierung versucht, vor allem die geforderten Einschnitte bei der Rente und die Entlassungen im öffentlichen Dienst abzuwehren, bewegen sich die Vertreter der Troika keinen Millimeter. Gegenüber der griechischen Presse lassen sie keinen Zweifel daran, dass es ihnen auch ums Prinzip geht. Zum Beispiel solle das „Tabu“ der Arbeitsplatzgarantie im öffentlichen Dienst gebrochen werden, heißt es in einem Bericht der englischsprachigen Wochenzeitung „Athens News“.

Strangulierte Wirtschaft
 
Alexis Tsipras, Fraktionsvorsitzender des linken Parteienbündnis Syriza, wies Mitte September in einem Interview in „Athens News“ daraufhin, dass unter den gegebenen Bedingungen Griechenland seine Schulden nie wird zurückzahlen können. Der Grund ist einfach: Durch die Auflagen der Troika wird die griechische Ökonomie stranguliert. Die Wirtschaft schrumpft und damit auch die Steuereinnahmen des Staates und das Loch im öffentlichen Budget. Die Katze beißt sich in den Schwanz. Die griechische Wirtschaft befindet sich nunmehr im fünften Jahr in einer tiefen Rezession. Insgesamt ist die Wirtschaftsleistung bisher um rund 20 Prozent zurückgegangen. Die Folgen für die Bevölkerung sind dramatisch. Offiziell ist die Arbeitslosenrate inzwischen bei knapp 25 Prozent angekommen; zum Ende des Jahres könnten es schon 29 Prozent sein, schätzt Costas Isychos, Mitglied im Politischen Sekretariat von Synaspismos, der mit Abstand größten Partei in Syriza.

nein zur privatisierung

"Nein zur Privatisierung des öffentlichen Personennahverkehrs" Gewerkschafter der Athener Metro und Tram streikten am 20.09. gegen Lohnraub und Privatisierung. Streikend Stahlarbeiter schlossen sich ihrer Kundgebung in der Athener Innenstadt an.

Besonders hart ist die Jugend betroffen, so Iyschos gegenüber der LinX. Seit letztem Jahr bekommen die Kinder in den Schulen keine Bücher mehr sondern nur noch Kopien. In der Altersgruppe zwischen 18 und 35 sind 48 Prozent ohne Einkommen. 75.000 kleine und mittlere Unternehmen hätten in den letzten zweieinhalb Jahren geschlossen. Anders als in Deutschland bekommen Arbeitslose nur für maximal acht Monate Unterstützung, wobei diese Zeit weit gekürzt werden soll. Danach sind sie vollkommen sich selbst überlassen, was unter anderem dazu führt, dass sie nicht mehr in die Krankenkassen einzahlen können. Hinzu kommt, dass ein rundes Drittel der Krankenhäuser geschlossen werden sollen. Zahlreiche Initiativen von Ärzten und anderen sind dabei, soziale Gesundheitszentren für kostenlose Versorgung aufzubauen, um das Schlimmste zu verhindern.

Neue soziale Netzwerke
 
Derlei Initiativen entstehen im ganzen Land. Ärzte arbeiten in ihrer Freizeit, Arbeitslose helfen bei der Verwaltung, lokale Behörden stellen Räume zur Verfügung. Manchmal werden diese auch besetzt. Andere Initiativen organisieren den Vertrieb von Lebensmitteln direkt von den Bauern, gemeinsame Kinderbetreuung, Tauschbörsen für Kinderkleidung oder auch eine Musikschule. Derzeit laufen im ganzen Land regionale Versammlungen, auf denen diese Initiativen koordiniert werden sollen; für Ende Oktober ist ein nationales Treffen geplant. Auf der anderen Seite spitzt sich die soziale Situation weiter zu. Isychos berichtet von einer Selbstmordwelle bisher ungekannten Ausmaßes. 110.000 Menschen seien allein in den letzten sieben Monaten ausgewandert. (Griechenland hat eine Bevölkerung von rund 9,9 Millionen Menschen.) Etwa zwei Drittel der Auswanderer seien Akademiker. Das Land erleidet also einen enormen Verlust an Fachkräften. 22.000 Ärzte seien bereits nach Deutschland gegangen oder werden es demnächst tun.

Sündenböcke
 
Christos Giovanopoulos von Dikaioma (Du hast Rechte), einem Netzwerk prekär Beschäftigter und Arbeitsloser, berichtet einerseits von der wachsenden Solidarität, die sich in Nachbarschaftshilfe und den großen Protesten gegen das Spardiktat der Troika vom letzten Jahr ausdrückt. Andererseits werde aber auch das Gewebe der Gesellschaft zerstört. Es gebe zahlreiche Spannungen, die von den Eliten und den dominierenden Medien geschürt würden. Griechenland werde zum Laboratorium des Neoliberalismus meint Costas Isychos, das Lohnniveau solle auf das Niveau Bulgariens abgesenkt werden. Da braucht es Sündenböcke, die derzeit vor allem in den Einwanderern gesucht werden, dem schwächsten Glied der Kette. Keine Nacht, so Isychos, vergehe ohne gewalttätige Überfälle. Offiziell streitet die Nazipartei „Goldenen Morgendämmerung“ (Chrysi Avgi) die Verantwortung ab, aber der Zusammenhang mit ihrem Aufstieg (jeweils knapp sieben Prozent bei den letzten beiden Wahlen) ist unübersehbar.

Staat und Polizei – fast 50 Prozent der Polizisten sollen die Nazis gewählt haben – tragen das ihre zur Hetze bei. Viele der in den letzten Jahren eingereisten Einwanderer wollen eigentlich in andere EU-Staaten weiterreisen, werden aber von regiden Grenzkontrollen und dem EU-Recht davon abgehalten. Als Flüchtlinge sind sie gezwungen im Land der Einreise Asyl zu beantragen.

Razzien gegen Einwanderer
 
Doch das griechische Asylsystem ist desolat. In Athen hat die Behörde, wo die Anträge gestellt werden müssen, nur einmal die Woche geöffnet. Das Ergebnis: Viele sind ohne jede offizielle dazu gezwungen, ein Leben auf der Straße zu führen. Oft haben sie nicht einmal einen legalen Aufenthaltsstatus, weil ihre Fälle nicht bearbeitet werden oder sie noch nicht mal einen formalen Antrag stellen konnten. In dieser Situation hat die Regierung begonnen, auf die aggressive Propaganda der Chrysi Avgi mit Razzien gegen Einwanderer zu antworten. Die meisten der Kontrollierten hat zwar durchaus eine Aufenthaltserlaubnis, aber nach den Aussagen verschiedener Beobachter wird durch die Polizeirazzien, eine aggressive Stimmung gegen alle mit dunkler Hautfarbe erzeugt. Wer keine Papiere hat wird interniert. Mindestens zwei Abschiebelager sind bereits entstanden und weitere in Planung.

Diese Politik findet in der Bevölkerung offensichtlich große Zustimmung, auch wenn es jüngst griechischen Einwanderern in Australien ganz ähnlich erging, die dort auf Touristenvisum illegal arbeiten und nun abgeschoben werden sollen. Andererseits gibt es aber auch zahlreiche Initiativen, die dem rechten Terror entgegentreten. Dies Nazis, so Costas Isychos, machen keinen Hehl daraus, dass nach dem Einwanderern und Flüchtlinge andere dran kommen werden. Erst die Schwulenszene des Landes, und dann die Linken und Gewerkschafter.

Christos Giovanopoulos warnt unterdessen davor, sich zu sehr auf den rassistischen Diskurs von Nazis und Establishment einzulassen. Wenn sich die Linke nur mit ihrer Bekämpfung befassen würde, hätten sie bereits die kulturelle Hegemonie gewonnen, würden sie den öffentlichen Diskurs bestimmen. Der Widerstand gegen das Spardiktat und der Aufbau von Solidaritätsnetzwerke, Gesundheitszentren etc. sei daher besonders wichtig. Damit könne den Nazis zugleich das Wasser abgegraben werden.

(wop)

Mitte September war eine Gruppe von Basisgewerkschafter aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Serbien und Spanien in Griechenland, der auch der Autor dieser Zeilen angehörte, unterwegs um sich ein Bild von der Lage zu verschaffen. Auf Labournet.de (http://www.labournet.de/diskussion/arbeit/aktionen/2012/griechenreisetagebuch.html) wurde ein Reisetagebuch veröffentlicht. Die Teilnehmer stehen für Veranstaltungen zur Verfügung. Kontakt kann über die Redaktion hergestellt werden.
(wop)
 

Die von der Troika verlangten Maßnahmen (in Auszügen), im Klammern die erwarteten jährlichen Einsparungen in Milliarden Euro:

•    Anhebung des Renteneintrittalters von 65 auf 67 Jahre (0,9)
•    Tiefere Einschnitte bei den Pensionen über 1000 Euro (0,64)
•    Drastische Einschnitte bei den einmaligen Zahlungen an Rentner (0,63)
•    Kürzungen bei den Pensionen spezieller öffentlicher Beschäftigter (0,4)
•    Verbot von Boni auf Renten aller Art (0,4)
•    Kürzungen von Pensionen und Beförderungsprämien für Polizeibeamte und Soldaten (0,3)
•    Kürzungen der Versehrtengelder (0,272)
•    Kürzungen in Zuschüssen an Familien (0,352)
•    Medizinische Überprüfung der Empfänger von Berufsunfähigkeitsrenten (0.094)
•    Abschaffung von besonderer Unterstützung für saisonbedingt Arbeitslose (0,08)
•    Reduktion der Bezüge nichtversicherter Rentner (0,026)

stahlarbeiter

Stahlarbeiter: „Wir machen weiter – Kampf für das Recht auf Arbeit“ Die Troika fordert in einer neuen Riunde unter anderem Aufhebung Flächentarifverträgen, weniger Abfindungen bei Entlassungen, Absenkung des Mindestlohns, weniger Urlaub und den Samstag als Regelarbeitstag.