Daten/Fakten  

   

Bericht von unserer griechischen Kollegin, Eyridice Bersi

Ein vereintes Volk kann nicht besiegt werden.

Athen, Montag, der 12.11.2012  Hallo deutsche Freunde und ein Dankeschön dafür, dass ihr erkennt, dass es sich um einen gemeinsamen Kampf handelt. Ich will mit einer guten Nachricht beginnen. Auf der riesigen Demo am verregneten Mittwochabend, den 6.11., gerade als das Parlament den letzten Teil der verfassungswidrigen Memorandum-Gesetzgebung debattierte, passierte etwas noch nie Dagewesenes in der Amalia Avenue. Demonstranten mit Transparenten von PAME, der Gewerkschaft der kommunistischen Partei (KKE), vereinigten sich mit anderen Demonstranten, die Transparente von SYRIZA (Linke) und ANTARSYA (kleine antikapitalistische Partei), vor dem Parlament. Es gab heftigen Tränengaseinsatz, andere Demonstranten warfen Mollis auf die Polizei-Sondereinheiten, doch dies hielt, wenigstens dieses eine Mal, einen Teil von PAME nicht davon ab sich mit allen anderen zusammenzuschließen (der Rest von PAME, eine Gewerkschaft, die immer getrennte, friedliche Proteste organisiert, hatte den Platz bereits verlassen).

Die Mauern, die die verschiedenen Richtungen der Bewegung trennen, sind jetzt niedriger denn je, die Parole: „Ein vereintes Volk wird niemals besiegt“, fühlt sich wahrer an als zu jedem anderem Zeitpunkt.  Das bedeutet natürlich nicht, dass es eine Chance gibt auf eine reine Linksregierung, falls die Regierung stürzt, was bald der Fall sein wird. Die KKE weigert sich weiterhin in eine Regierung einzutreten, die nicht mit dem Kapitalismus bricht, und die wahrscheinlichen Koalitionspartner von Syriza (DIMAR, Unabhängige Griechen) sind alle rechts von SYRIZA. Trotzdem, die große rote Linie, die die Griechen in ein Pro- und Anti-Rettungspaket-Lager aufteilt, kann schließlich dazu führen, dass sich im Anti-Rettungs-Paket-Lager eine verstärkte Zusammenarbeit auf Basisebene entwickelt. Noch eine gute Nachricht. Überall, in jeder Ecke des Landes macht die Selbstorganisierung große Fortschritte. Ich lebe in einem relativ wohlhabenden Viertel in Athen, aber selbst hier hat sich eine Volksversammlung vor zwei Monaten gebildet. Bewohner des Viertels treffen sich regelmäßig und organisieren die Verteilung von Lebensmitteln an örtliche Familien, den Verkauf von billigen landwirtschaftlichen Produkten, die direkt vom Erzeuger stammen (ohne Zwischenhändler) usw.

Nun zur allgemeinen Situation. Die politische Entwicklung verläuft so rasend, dass ich mich gar nicht traue, den andauernden Zerfall der PASOK zu beschreiben, der so genannten „sozialistischen“ Partei, die vor drei Jahren noch 44% der Stimmen bekam, weil ich fürchte, dass zu dem zeitpunkt, da ihr diesen Bericht hören werdet, es schon keine PASOK mehr gibt! Und das ist nur halb im Scherz gesprochen. Die Drei-Parteien-Koalition aus ND, PASOK und DIMAR fühlt sich auch nicht besonders wohl. Es legte alles Gewicht auf diese ungeheuerliche Gesetzesvorlage (das dritte Memorandum), blutete heftig bei der Abstimmung (nur 153 ihrer 179 Abgeordneten stimmten dafür, gerade zwei mehr als die absolute Mehrheit von 151), und was passiert? Das Geld aus dem Rettungspaket kommt gar nicht!

Viele von uns wissen mittlerweile sehr gut, dass das Geld aus den Rettungspaketen direkt an unsere Gläubiger geht und überhaupt nichts dazu beiträgt, die griechische Wirtschaft aus der unglaublich tiefen Rezession herauszuführen, in der sie sich gerade befindet. Aber die Regierung hat all ihr politisches Kapital auf die Ankündigung verwettet, dass das Geld kommt, und jetzt steht sie nackter da als der Kaiser aus dem Märchen. Und warum nehmen wir, das Volk, nicht endlich die Dinge in unsere eigene Hand? Die erste Antwort lautet, dass wir es ja versuchen, obwohl der Prozess jeden hart trifft. Athen hatte keinen Metro-Verkehr in der ganzen letzten Woche mit der Ausnahme vom 6. November, wo es um die Unterstützung der Protestkundgebung ging. Als Ergebnis haben wir den Stau aller Verkehrsstaus. Der Abfall häuft sich auf den Straßen wegen des Streiks der Gemeindebeschäftigten, die sehr aktiv versuchen ihre Jobs zu verteidigen und die Zerschlagung der städtischen Versorgungsbetriebe zu verhindern- Die Richter haben begonnen ihre Arbeit zu verlassen in der Woche, als die Soli-Reisenden hier waren, und jetzt, zwei Monate später, dauert ihr Streik an, was ein ungeheures Durcheinander im Justizsystem zur Folge hat. Die Anwälte waren von den Verzögerungen frustriert, aber seit gestern befinden sie sich auch in einem fünftägigen Streik. Der zweitägige Streik letzte Woche war sehr erfolgreich, trotz der Tatsache, dass viele aus der Mittelschicht einen Streik sich nicht mehr leisten können (die Armen können im Allgemeinen nicht streiken, da sie arbeitslos sind).

Ich brauche nicht zu sagen, dass es keine Streikunterstützung oder andere finanzielle Hilfe von den Gewerkschaften gibt. Im Privatsektor wird Streik oft mit Entlassung bestraft, aber selbst die Beamten, Lehrer usw. die keine Angst um ihren Arbeitsplatz haben, haben Angst vor ihren Rechnungen, da jedermanns finanzielle Situation schlimmer und schlimmer wird, ohne dass ein Ende in Sicht wäre. Nichtsdestotrotz kommt das, was wir gerade durchleben, einem allgemeinen Dichtmachen am nächsten, einem Generalstreik, der das wirtschaftliche Leben lahmlegt. Natürlich ist in dieser tiefen Depression sowieso nicht besonders viel wirtschaftliche Tätigkeit zu beobachten. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt mittlerweile 58%. Das ist schon für uns, die wir das erleben, einfach unfassbar, erst recht für euch, die ihr unsere Lage aus der Ferne zu erfassen versucht.

Also nochmal, was hindert uns, diesen Felsen von unserer Brust abzuwerfen? Was hindert uns eine Richtungsänderung durchzusetzen? Ich will mit meiner eigenen Vorhersage anfangen: Ich denke, wir werden es schließlich tun. Es kann so einfach nicht mehr lange weitergehen. Aber bis dahin gibt es mindestens zwei Hindernisse. Das erste ist, dass einige Menschen, die schnelle Ergebnisse erwarteten, demoralisiert werden und dazu neigen während der Proteste zu Hause zu bleiben. Sie haben das gefühl, dass der Staat so autoritär geworden ist, dass es keinen Sinn macht zu protestieren. Da ist was Wahres dran, denn der normale demokratische Prozess ist vollständig unterbrochen. Aber natürlich ist Resignation keine Lösung. Wenn sich an den größeren Protesten, an denen sich zurzeit Hunderttausende in Athen beteiligen, stattdessen Millionen beteiligen würden, dann würden sich die Spielregeln ändern. In den letzten zweieinhalb Jahren hat sich der Widerstand im Kreis bewegt, also ein starkes Anschwellen der Massenproteste/Unruhen, unterbrochen von mehr oder weniger ruhigen Unterbrechungen. Das letzte Anschwellen war am letzten Mittwoch, das Mal davor war am 12. Februar.

Das zweite Hindernis ist die Furcht vor der Alternative, was die Furcht vor einem Leben außerhalb des Euro einschließt, Das half Ministerpräsident Samaras die Wahlen im Juni zu gewinnen, obwohl jetzt, nach den Meinungsumfragen, SYRIZA klar vorne liegt. Wir alle wissen, dass wir nicht einfach den Fels abwerfen können und danach glücklich weiter leben können bis ans Lebensende. Bei all unseren Kämpfen können wir den Fels gerade soweit anheben, dass wir uns zur Seite rollen können und in den Abgrund stürzen. Keiner bestreitet, dass der Abgrund da ist (wie man so schön sagt: „Wenn du glaubst, du könntest Schäuble widersprechen, dann hast du Schäuble nicht aus der Nähe gesehen“). Der Streitpunkt ist vielmehr, ob wir den Sturz überleben und schließlich wieder atmen können, ob also unser Nein zu dieser Politik uns schließlich befähigen wird auf unseren eigenen Füßen zu stehen und stärker zu sein (wie die Linke und die Unabhängigen Griechen sagen) oder ob der Sturz uns einfach umbringen wird, wie die deutsche und griechische Regierung uns glauben machen wollen.

Hier kommt die Hilfe unserer deutschen Freunde ins Spiel. Die Tiefe des Abgrunds, die Größe der Probleme, vor denen Griechenland steht, nachdem es sich frei gemacht hat von diesem tödlichen Unsinn ist nicht festgelegt. Ob wir innerhalb oder außerhalb des Euro sein werden, wir brauchen eine Basisbewegung zur Unterstützung in Deutschland und anderen Ländern. Lasst mich euch mitteilen, was der angesehene Beobachter Ambrose-Evan Pritchard vom „Telegraph“ am letzten Donnerstag geschrieben hat: „ Es gibt keinen notwenigen Grund, warum Griechenland außerhalb der Währungsunion in eine Zusammenbruchsspirale geraten sollte oder warum die Drache auf Dritte-Welt-Niveau abstürzen sollte. Das würde nur passieren, wenn die EU beschließen würde, dass es passieren solle.“ SYRIZA sagt, dass wir zur Austeritätspolitik nein sagen und trotzdem im Euro bleiben können, weil die Konsequenz eines Rauswurfs das ende der Währungsunion bedeuten würde. Radikalere Strömungen innerhalb der griechischen Linken glauben, wir sollten unsere eigene Währung bekommen und die Wirtschaft jetzt wieder aufbauen, bevor es nichts mehr gibt, was man wieder aufbauen könnte.

Auf jeden Fall brauchen wir die Unterstützung nicht nur der deutschen Linken, nicht nur von den wunderbaren Menschen, die an der Soli-Reise teilnahmen, obwohl diese Hilfe natürlich sehr willkommen und akzeptiert ist. Sondern von allen, die jemals in diesem Land waren, die die entspannte Atmosphäre einer griechischen Insel genossen haben, von allen, die nicht wollen, dass aus dem unbeschwerten Griechenland eines dieser armseligen, von Armut und Kriminalität geplagten Ferienziele wird.

Und wir brauchen natürlich die Unterstützung von jedem in Deutschland, der sich kümmert um …. die Menschen in Deutschland.

Die Krise ist ganz offensichtlich eine Gelegenheit zur Umverteilung von unten nach oben, und es ist absurd anzunehmen dass der Angriff auf die breite Bevölkerung in Griechenland halt machen wird oder in Spanien oder in Portugal. Einige von euch waren schon davon betroffen, als unter Kanzler Schröder die Löhne stagnierten und euch Minijobs angeboten wurden, um die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu verbessern. Bald werden viel mehr Deutsche an die Reihe kommen, wenn die Rettungsprogramme explodieren und die Kredite nicht zurückbezahlt werden können. Dann wird es ein Loch im deutschen Haushalt geben und ihr dürft mal raten, was geopfert werden soll um es zu stopfen: eure Renten, eure Sozialleistungen, eure Erziehung, eure Gesundheitsversorgung.

Das ist es, worum es in den letzten zweieinhalb Jahren ging. Als die Schuldenkrise begann, wurde ein Großteil der griechischen Schulden von Nichtgriechen gehalten, vor allem von französischen und deutschen Banken (141,5 Milliarden Euro im Dezember 2009). Gierige und rücksichtslose Banken waren schuld an der Finanzkrise, und es wäre nur recht und billig gewesen, wenn sie auch die Konsequenzen hätten tragen müssen, als sich die Finanzkrise in eine Schuldenkrise verwandelte. Natürlich passierte das nicht. Während die deutsche Gesellschaft schlief, wurden die griechischen Schulden erfolgreich auf die Schultern des sogenannten „amtlichen Sektors“ abgeladen, also auf die europäischen Steuerzahler (im Dezember 2011 waren nur noch 35 Milliarden Euro Schulden im Besitz nichtgriechischer Banken, vermutlich sind es jetzt noch weniger).

Es wird der Zeitpunkt kommen, da eure Regierung die Sparpolitik auf euch anwendet, wobei sie die Schuld wieder auf die Griechen schieben wird. Die Bühne wird bereitet für eine tiefe Spaltung zwischen uns, während die tatsächlich Verantwortlichen weiterhin business as usual machen werden [so tun, als ob nichts gewesen wäre]. Deshalb ein abschließender Vorschlag: Diejenigen unter euch, die verstehen, was tatsächlich vorgeht, könnten wenigstens versuchen, die andern zu warnen.

Noch einmal: Ein vereintes Volk kann nicht besiegt werden.

Eyridice Bersi