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Protest und asoziale Politik in Schleswig-Holstein

Gerecht geht anders

01.02.2011 Im Dezember verabschiedete der Schleswig-Holsteinische Landtag mit den Stimmen der Abgeordneten von CDU und FDP den Haushalt für 2011 und 2012. Damit wurden brutalstmögliche Kürzungen durchgesetzt, die der Bevölkerung jährlich insgesamt 300 Millionen Euro an öffentlichen Mitteln entziehen.

Im Vorfeld wurden keine Gespräche mit Betroffenen geführt. Die Regierung kann so weder die sozialen noch die wirtschaftlichen Folgen dieser Politik abzuschätzen. Nicht mit den Betroffenen zu sprechen ist nichts anderes als Gewaltpolitik.

Angesichts der Breite und Tiefe der Kürzungen, die nicht wenige Bürger mit existentiellen Fragen konfrontiert war die Geste des Ministerpräsidenten Carstensen und des Sozialministers Garg nach der Abstimmung den „Erfolg“ abzuklatschen an Schäbigkeit nicht zu überbieten. Derartige Kürzungen lassen eine Geste der Entschuldigung bei den Kürzungsopfern als angemessen erscheinen. Das Abklatschen hat auch sichtbar gemacht, dass es der Regierung kaum darum geht das Land langfristig aus der finanziellen Not zu führen, den Haushalt in Ordnung zu bringen und „eine Wende zum Besseren herbei zu führen“.

Oberflächlich betrachtet geht es um den kurzfristigen Erfolg einer Abstimmung im Landtag, die gefeiert wird, als ob man ein Tor geschossen hätte. Dahinter verbirgt sich allerdings ein fundamentales Unverständnis der Staatsschuldenkrise, die nicht nur Schleswig-Holstein und Deutschland, sondern alle Industrienationen fest im Griff hält. Alleine in der Eurozone ist die Staatsverschuldung von 2006 bis Ende 2010 von 68,4 auf 79,2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes hochkatapultiert worden (Maastrichtgrenze 60%). Das jährliche Defizit ist im gleichen Zeitraum mehr als vervierfacht worden. Es ist von 1,4 auf 6,3 Prozent hochgeschnellt (Maastrichtgrenze 3%).

In Schleswig-Holstein verdreifachte sich die Nettokreditaufnahme von 515 Millionen in 2007 auf 1.583 Millionen 2010. Die Verschuldung stieg im Land von 2006 bis 2010 um über 10 Prozent und wenn man die implizite Staatschuld aus der HSH Rettung hinzurechnet sogar um rekordverdächtige 17 Prozent.

Der CDU-Fraktionsvorsitzenden Boetticher gab in seinen ersten Sätzen zur Haushaltsdebatte Folgendes zum Besten: „Ein historischer Tag für Schleswig-Holstein. 40 Jahre hemmungsloser Gang in immer höhere Verschuldung wird heute mit zwei großen Schritten für die Jahre 2011 und 2012 beendet.“ Genauer ist die Inkompetenz des Ministerpräsidentenkandidaten in spe nicht zu beschreiben.

Aus dem Unvermögen die Fakten zur Kenntnis zu nehmen wird dann eine liberal-konservative Politik abgeleitet, wie man sie schon immer machen wollte: Sozialstaat schrumpfen und Privatisierungen forcieren. Dabei ist die gegenwärtige Staatschuldenkrise von der Privatwirtschaft und hier insbesondere von Investmentbanken und Hedgefonds ausgegangen. Und es war nicht „die Politik“, die in Sachen Regulierung versagt hat, sondern wirtschaftsliberale Politik.

Im September 2008 konnte der Zusammenbruch der globalen, privaten Finanzwirtschaft dann nur dadurch abgewehrt werden, dass die Staaten als letzte Garanten eingesprungen sind. Die sichtbare Kraft der öffentlichen Hände hat die Apokalypse der Privatwirtschaft abgewendet. Daraus abzuleiten, die öffentlichen Hände zu schwächen ist verantwortungslos. Aber auf merkwürdige Art und Weise vollzieht sich in ganz Europa nach der Falsifizierung des Wirtschaftsliberalismus eine Beschleunigung desselben. Diese Politik scheut sich auch nicht mit dem Festhalten an höchst fragwürdigen Prinzipien den Euro aufs Spiel zu setzen. Das hat allerdings Tradition. Für den ersten Währungszusammenbruch 1923 in Deutschland war der erste Manager im Reichskanzleramt, der wirtschaftsliberale Wilhelm Cuno (vorher Direktor der HAPAG) verantwortlich. Gerettet wurde die Währung im November dann vom ersten marxistischen Finanzminister Deutschlands Rudolf Hilferding.

Die wirtschaftsliberale Lösung – in Europa, wenn nicht weltweit – läuft darauf hinaus, die öffentlichen Ausgaben rücksichtslos und nicht vorausschauend zurück zu führen, wohl immer mit Blick auf weitere Steuersenkungen für Vermögende. Dies ist der politische Hintergrund in den nächsten 10 Jahren. Und bedauerlicher Weise ist keine soziale Staatsräson neben der wirtschaftsliberalen zu erkennen. Es macht wenig Sinn politische Alternativen zu den Kürzungen zu formulieren, wenn es nicht gelingt zu einem neuen Verständnis des Verhältnisses von Politik und Wirtschaft vorzudringen und eine neue soziale Staatsräson zu formulieren, die als Lösung in die Phantasie der Menschen greift und materiell mehrheitsfähig wird. Das ist die politische Frage, die die Wirklichkeit stellt.

Protest und ….

Es ist richtig, dass von der Protestbewegung gegen die Kürzungspolitik starke Signale ausgegangen sind. Sie war auch nicht völlig erfolglos. So sind die Rücknahme der Schließung der Universität Lübeck, die wieder bessere Ausstattung des Landeslabors, das neue Gastschulabkommen, die teilweise Rücknahme der Kürzungen bei den dänischen Schulen, die Verlängerung der Schülerbeförderung zumindest für dieses Schuljahr und einige weitere kleine Korrekturen durchaus als Erfolg zu verbuchen. Es ist aber nicht gelungen, einen Druck aufzubauen, der die Regierung in noch größere Schwierigkeiten bringen konnte. Es wird trotzdem weiter ein großes Bündnis geben und mit dem Rücken an der Wand haben die Schleswig-Holsteiner angefangen für soziale Gerechtigkeit zu kämpfen. Dieser Kampf wird aber länger währen, weil das politische System in einem bisher ungeahnten Ausmaß korrumpiert ist. Man muss einfach sehen, dass es in den letzten dreißig Jahren keine politische Entscheidung zu Lasten der Vermögenden gegeben hat. Die jüngste Debatte in der Schleswig-Holsteinischen SPD hat gezeigt, dass auch diese Partei von Sozialkürzungen und Reichenschutz zerfressen ist. Von den schleswig-holsteinischen Grünen ganz zu schweigen. Das muss als unanständig und unfair bezeichnet werden.

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14.000 auf der Demonstration am 16.6.2010 in Kiel gegen die Sparpläne der schleswig-holsteinischen Landesregierung (Foto: uws)

… politische Themen

Steuersenkungen sind Verfassungsbruch. Es ist erforderlich argumentativ auf die Höhe der Kürzungspolitik zu kommen. Es gibt eine Schuldenbremse mit Verfassungsrang und diese wird als Knüppel verwendet werden, um jegliche Ansprüche der Arbeitenden und Armen nieder zu halten. Zugleich gibt es ab 2013 einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Kinderbetreuung. Es ist nicht schwer zu prognostizieren, dass das so nicht zu finanzieren sein wird. Dann hat man 2013 die Situation, dass zwei widersprüchliche Verfassungsgebote erscheinen. Es ist ein gangbarer Weg, politische Forderungen über den Verfassungszusammenhang zu formulieren. Wir brauchen teure Kontrollen im Lebensmittelsektor weil Art. 1 die auch die gesundheitliche Unversehrtheit der Menschen schützt. Starke Institutionalisierungen der Geschlechtergerechtigkeit sind ein Gebot des Art. 3. Solche Argumente werden dann in eine Situation führen, in der Einnahmeverbesserungen als der einzige Weg erscheinen, um die Schuldenbremse einzuhalten.

Privatisierung ist Ruinierung

Eine wichtige Auseinandersetzung wird im Politikfeld Privatisierung stattfinden. Die Landesregierung plant nicht nur die Privatisierung von UKSH und der Landeshäfen, sondern auch eine breite Kampagne zu „Öffentlich-Privaten-Partnerschaften“. Eine Ablehnung der Privatisierung der Daseinsvorsorge ist nach dem Bahn-Desaster nicht so schwer zu vermitteln. Andererseits sollte der Kritik an den öffentlichen Betrieben mit neuen Organisationsentwicklungskonzepten und einer Verbesserung der Ausbildung für öffentliche Managementfunktionen begegnet werden. Die ÖPPs sind als Verschiebestationen von expliziten Staatsschulden zu impliziten zu kennzeichnen.

Freiheit statt Kapitalismus

Es wird sichtbar werden, dass die Kürzungspolitik zu Einschränkungen der Möglichkeiten der Arbeitenden und Armen führt. Diese sind unmittelbar auch Freiheitsentzüge, weil eine geringere Verfügbarkeit von Geld die Freiheit einschränkt, aus verschieden Möglichkeiten auszuwählen. Es ist sinnvoll diesen Aspekt des Freiheitsabbaus für große Teile der Bevölkerung zu betonen und zugleich auf die verheerenden Folgen einer pervertierten Freiheit für Wenige hinzuweisen, die staatlich abgesichert ihre Vermögen mehren.

Wer von Schulden spricht darf über Vermögen nicht schweigen. Noch schneller als die Staatschulden sind die privaten Vermögen gestiegen. Zugleich sanken die Löhne. Die Vermögenden haben also nicht nur jeglichen Zuwachs der Wirtschaftskraft an sich gezogen, sondern erhebliche Summen aus der Substanz der Erwerbstätigen in ihre Taschen umleiten können. Der Einfluss der Spitzenverdiener reicht schon aus, um die primäre Einkommensverteilung anzupassen, wenn die Steuergesetzgebung die sekundäre Umverteilung zu ihren Ungunsten verändert. Wenn aber das Steuerrecht die Spitzenverdiener zusätzlich durch sekundäre Umverteilung entlastet, so findet ein derart rasantes Wachstum mit der entsprechenden Konzentration der Vermögen und damit eine rasende Zunahme sozialer Ungleichheit statt, wie in den letzten zehn Jahren statt. Bezahlt haben das die Arbeitenden und Armen mit dem Abschmelzen ihrer Einkünfte und dem Rückgang ihrer Sparguthaben. Die jetzt eingeleiteten Kürzungsrunden bringen diesen Gruppen zusätzlich höhere Ausgaben für die Betreuung und Beschulung ihrer Kinder sowie für die Lösung von Alltagsproblemen.

Und es ist kein Ende absehbar. Es ist erst ein Fünftel des in Schleswig-Holstein von der Schuldenbremse erzwungenen Kürzungsvolumens erreicht. Die Situation sieht also so aus, dass den Kindern heute das kostenfreie Kita-Jahr genommen wurde und die Eltern in den großen Kreisen mit beträchtlichen Summen für den Weg ihrer Kinder zur Schule belastet werden. Die Rede von der Generationengerechtigkeit ist schon deshalb unsinnig, weil es den Kindern in der nächsten Generation auch nicht besser gehen wird, weil ihre Eltern (die Kinder von heute) ebenfalls selbst für diese Kosten aufkommen werden müssen.

Thomas Herrmann

(Quelle: Schleswig-Holsteinischer Landtag Plenarprotokoll 17/35, S. 2926)

Weitere Artikel zu den Haushaltsbeschlüssen der Landesregierung und die Gegenvorschläge der Landtagsfraktion der LINKEN dazu, siehe in dieser Ausgabe des Gegenwind auf Seite 20-23.