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Europa, der Brexit und die Linken
01. September 2016 Krisen der Real- und Finanzwirtschaft, Brexit in Großbritannien und die parlamentarische und außerparlamentarische Linke haben kein Programm (Plan) um einen „linken“ Ausweg aus den Krisen aufzuzeigen. Der Brexit war und ist auch von einem Grundton von Nationalismus und Ausländerfeindlichkeit getragen. In England selbst hat er die Büchse der Pandora des Rassismus und britischen Chauvinismus geöffnet. Polnische Kulturzentren und Moscheen wurden mit rassistischen Parolen beschmiert. Kinder, die für MigrantInnenkinder gehalten werden, wurden auf Schulhöfen beschimpft oder misshandelt, Erwachsene auf der Straße angegriffen. Die Polizei berichtet von einem alarmierenden Anstieg von Hassverbrechen. Außerdem will die „neue Regierung“ die Aufenthaltsgenehmigungen europäischer „Gastarbeiter“ nicht verlängern.
Bei dem Referendum und dem abgestimmten Brexit handelte es sich weder um einen Volksaufstand, noch um einen „Klassenkonflikt“, wie es Teile der Linken meinen. Die inhaltlichen Auseinandersetzungen spiegelten die Spaltung der britischen KapitalistInnenklasse, zwischen jenen, die groß und konkurrenzfähig genug sind um international zu operieren, und den kleineren, national orientierten (Fischfang, Bauern, kleinen Handwerkern usw.), die das nicht können, wieder. Hauptsächlich verliefen die Auseinandersetzungen zwischen den bürgerlichen Projekten innerhalb der Torries und nicht zwischen links und rechts. Den Brexitbefürwortern war es allerdings gelungen einen Teil der lohnabhängigen Bevölkerung, hauptsächlich wegen der „Flüchtlingsströme“ und GastarbeiterInnen, hinter sich zu scharen und zu instrumentalisieren. Eine Minderheit der Torries, Boris Johnson und Michael Gov stellten sich auf die Seite der Brexit-BefürworterInnen um den völlig unfähigen und überforderten Cameron abzulösen. Auch sie glaubten, dass die sicher erscheinenden Prognosen, das Remain Lager würde gewinnen, erfüllen würde, das Britannien in der EU bliebe mit Johnson als Premierminister. Diese Fehlkalkulation hat nicht nur Großbritannien und sondern auch der EU eine weitere tiefe politische Krise beschert. Die Sache wird noch schlimmer, weil dass ungewollte Resultat nicht nur den fragilen Zusammenhalt der EU auf die Probe stellt, sondern auch das Auseinanderfallen Großbritanniens selbst, da sowohl in Schottland wie auch in Nordirland eine große Mehrheit gegen den Brexit stimmte.
Die Kommunistische Partei Britanniens (CPB) ihre Tageszeitung, der „Morning Star“, der Socialist Workers Party (SWP, Schwesterorganisation von Marx21), der Socialist Party (Sozialistische Partei, Schwesterorganisation der SAV) und ihren jeweiligen Wochenzeitungen wollten den Brexitbefürwortern einen „linken“ Anstrich gegeben. Sie traten für einen „linken“ Austritt, den Lexit, ein und argumentierten, dass dieser die Pläne der herrschenden Klasse durchkreuzen könnte. Was das für die ArbeitnehmerInnen, RentnerInnen und ihren Familien gebracht hätte, teilten sie „ihrer“ Arbeiterklasse jedoch nicht mit.
Die LabourParteiRechte nutzte die Gunst der Stunde, um einen wohl lange geplanten Coup gegen den „linken“ Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn zu initiieren. Den Dichtungen von UKIP und der Boulevardpresse folgend, stellen sie das Ergebnis als Rebellion der „Kernregionen von Labour“ gegen die hauptstädtische Mittelklasselinke Londons und der großen Städte dar. Das ist eine ungeheuerliche Entstellung der Realität: Rund zwei Drittel der WählerInnen der Labour Party haben für den Verbleib in der EU gestimmt, während nur 40 Prozent der WählerInnen der Konservativen der offiziellen Politik ihrer Partei folgten, für den Verbleib zu stimmen.
Was nun ?
Mit Großbritannien geht nicht nur eine der kapitalistischen Führungsmächte, die zweitgrößte Volkswirtschaft des Binnenmarktes (BIP 2015: 2,56894 Billionen EURO) sondern auch eine der militärischen Führungsmächte. Wahrscheinlich will Großbritannien im EU-Binnenmarkt bleiben. Das heißt Großbritannien müsste auch das gesamte Regelwerk des EU-Binnenmarktes übernehmen. Gerade die Vorschriften der EU-Handelspolitik machten den Lohnabhängigen, Fischern, kleinen Landwirten und auf den heimischen Markt orientierten Kleinunternehmen das Leben schwer. Damit wäre für diese Bevölkerungsschichten und ihren Familien nichts gewonnen. Außerdem ist es nicht sicher wie sich die EU verhält. Eine „ Bestrafung“ Großbritanniens halte ich für nicht ausgeschlossen. Der endgültige Austritt kann sich nach letzten Meldungen der Profitpresse noch bis 2019 verzögern. Alternativ ist ein reines Freihandelsabkommen mit der EU und evtl. der USA möglich. Die Erfahrungen (siehe TTIP und CETA) mit entsprechenden Freihandelsabkommen haben allerdings gezeigt, dass hier hauptsächlich die Interessen der Konzerne bedient werden. Was auch immer passiert, für die werktätige Bevölkerung, Fischern, kleinen Handwerkern und Bauern wird sich nichts Wesentliches verändern. Ihre Lage wird sich wahrscheinlich eher verschlechtern.
Die City of London kann u.U. ihre Funktion als finanzielles Drehkreuz für Europa verlieren. Die Folge wäre eine Kapitalflucht Richtung Dublin oder Frankfurt, was zur massiven Abwertung des Pfund führen würde, wobei allerdings dabei die Exportwirtschaft gestärkt würde. Davon könnte u.a. die englische Automobilwirtschaft profitieren.
Großer Verlierer ist Deutschland, verliert es doch einen wichtigen Partner im Hinblick auf die Liberalisierung der Wirtschaft und der Austeritätspolitik. Der ehemalige Chef des IFO Instituts, Sinn, warnt: „Mit einem Austritt Großbritanniens sei die bislang geltende Sperrminorität der freihandelsorientierten Länder dahin. Das ist nicht mehr das Europa, mit dem Deutschland groß geworden ist, das können wir nicht akzeptieren“, die südeuropäischen Länder, die Interesse an einer Vergemeinschaftung von Schulden haben, seien dann in der Mehrheit.“
Die EU, das Monster ?
Für viele Menschen in der EU ist diese ein bürokratisches Monster, das für De-Industrialisierung, Produktionsverlagerungen, Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge, Flüchtlingspolitik, Lohn- und Sozialdumping und der damit einhergehenden Verarmung und zunehmenden sozialen Ungleichheit verantwortlich ist. Es existiert aber keine geheimnisvolle Macht in Brüssel, die der europäischen Bevölkerung übergestülpt wurde. In Brüssel wird nur das, bis auf wenige Ausnahmen umgesetzt, was die europäischen Nationalstaaten, die sich ja gerne hinter der EU-Bürokratie verstecken, beschließen.
Übrigens ist der oft zitierte polnische, rumänische, bulgarische Gastarbeiter nur der Prellbock, der für die Probleme der kapitalistischen Globalisierung herhalten muss. Die nationalen Kapitalisten haben die bestehende Lohnkonkurrenz vertieft und zu einer rassistischen, politischen Spaltung der Lohnabhängigen beigetragen. Die Gewerkschaften, nicht nur in Großbritannien, haben dem nichts entgegengesetzt. In ihrer tagtäglichen Praxis orientieren sie sich, mit Ausnahmen der französischen Gewerkschaften, auf Standortpolitik, auf die Protektion «nationaler Arbeitsplätze», auf die Verteidigung der Besitzstände der Besserverdienenden unter den lohnabhängigen KollegInnen. Der Aufschwung der extremen Rechten in Europa hat auch viel damit zu tun, dass die Gewerkschaftspolitik daran gescheitert ist, ihre jetzigen und ehemaligen Mitglieder sozial zu schützen, denn nicht nur Labour und SPD haben an vorderster Front beim Abbau des Sozialstaats mitgewirkt.
„Für mich ist das auch ein Beweis dafür, dass die EU nie auf einer demokratischen Idee fußte, sondern eine reine neoliberale Zweckgemeinschaft ist. Aber wir haben noch eine Chance. Ich bin gerade unterwegs mit einem Programm, das den Titel »Revolution« trägt. Und ich sage immer, dass uns klarwerden muss, wenn wir keine Revolution machen, dann putschen die Rechten. „ Constantin Wecker.
Was tun ?
Ein Teil der antikapitalistischen Linke sieht in dem Brexit einen Volksaufstand und/oder Klassenkonflikt den sie auf ihre eigene Habenseite verbuchen. Auf Deutschland übertragen wären die hohen Wahlerfolge der AfD in verschiedenen Arbeiterhochburgen bei den letzten und wohl leider auch bei den zukünftigen Landtags- und Bundestagswahlen als Zeichen des Fortschritts im Kampf gegen das „System“ zu sehen. Der Brexit und dieses Wählerverhalten liegen ähnliche „ Antisystemhaltungen“ zugrunde und leider schlägt nur die extreme, rassistische Rechte, nicht nur in Deutschland Kapital aus den Krisen und nicht die Linke. Die europäische Linke wird auch nichts gewinnen, wenn sie jetzt am Vertrag über eine Verfassung für Europa herumdoktert, ihn reformiert, um sie demokratischer zu machen, aber den Grundcharakter als Staatenbündnis zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit und Profitmaximierung des Kapitals nicht antastet. Der gesamte Vertrag muss gekündigt werden.
Eine Neugestaltung der EU, eine EU der Bürger und nicht des Kapitals, kann deshalb nur über die Durchsetzung linker, sozialistischer Politik und Regierungen in den europäischen Nationalstaaten, und nicht umgekehrt, erfolgen. Was sie braucht ist eine fundierte Antwort auf die kapitalistische Globalisierung, den technologischen Fortschritt, die industrielle Revolution 4.0. Außerdem muss die Linke tagespolitische Vorstellungen entwickeln wie eine europäische Sozialordnung und sozial und ökologisch verträgliche Wirtschaftsordnung, die eine Angleichung der Lebensverhältnisse nach oben, in ganz Europa entspricht und die Frage beantworten wie Personenfreizügigkeit und die Flüchtlingsproblematik in Europa zukünftig gestaltet werden kann. Das heißt auch die Frage der Arbeitszeitverkürzung und Arbeitsumverteilung (Aufteilung der vorhandenen Arbeit) muss wieder auf den Tisch. Um eine sozialistische Perspektive für Europa zu entwerfen ist allerdings mehr nötig, als nur ein soziales und demokratisches Europa zu fordern. Dafür ist u.a. auch die Frage der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und der qualifizierten ArbeitnehmerInnenkontrolle zu stellen.
Die Ausbreitung der NATO Richtung Osten, die zunehmende Aufrüstung und Militarisierung der EU bringt notwendigerweise die Friedensfrage wieder verstärkt auf die Tagesordnung. „Die Zielstellung linker Politik ist die alte: Entmilitarisierung internationaler Konflikte, Rüstungsbegrenzung und Abrüstung, Schaffung von internationalen Regimen gemeinsamer Sicherheit sowie die Stärkung der Organisation der Vereinten Nationen und der Durchsetzung der UNO-Charta. Im Kern geht es um die „Herrschaft des Rechts“ in Gestalt des Völkerrechts gegen ein „Recht des Stärkeren“ in der internationalen Politik.“ (Thesen der marxistischen Linken)
Es bedarf klarer Analysen, Programme und Antworten für die wichtigsten Fragen (u. a. soziale Fragen, Kampf gegen Rassismus und Faschismus; wie gehen wir mit besorgten BürgerInnen um; Fragen der Flüchtlingspolitik; schaffen wir es wirklich, gibt es keine Grenzen der Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft; wie gehen wir mit den Religionen um; (der Friedensfrage) Fragen, die die Linke beantworten muss. Sollten sie es nicht schaffen, ihre Positionen als Lösung aus den Krisen, der Bevölkerung zu vermitteln, bleibt sie Teil des Problems und nicht der Lösung.
Aktionsfähig sind zur Zeit glücklicherweise weitgehend nur Bürgerbewegungen vor Ort, Blockupy und Attac, sowie Teile der Friedensbewegung. Da sich die meisten linken außerparlamentarischen Organisationen auf die Arbeiterklasse berufen, darf doch die Frage erlaubt sein, wo war die Arbeiterklasse, als z.B. das Rentenniveau gekürzt wurde, als die Nokia- und Opel-Kolleginnen entlassen wurden; wo war die Arbeiterklasse als unserer KollegInnen der Schlecker Drogerien entlassen wurden; wo blieben die Solidaritätsbekundungen gegenüber der griechischen Bevölkerung und wo blieb die Solidarität mit den französischen ArbeiterInnen, SchülerInnen und Studentinnen im Kampf gegen den geplanten Sozialabbau in Frankreich ?
(hg)
Auf der Internetseite der LinX haben wir Stellungnahmen verschiedener Gruppen und Organisationen zum Brexit veröffentlicht.