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Lehren aus der Geschichte:

Der 9. November

01. Dezember 2013 Am 75. Jahrestag der antisemitischen Pogrome in Deutschland – der „Reichspogromnacht“ – und wenige Tage nach dem 95. Jahrestag des Beginns der deutschen Novemberrevolution stehen wir an den Gräbern von Menschen, die in den Tagen der Revolution von 1918, zu Beginn des Jahres 1919 und bei der Abwehr des Kapp-Lüttwitz-Ludendorff-Putsches 1920 in Kiel gefallen sind.

Vom November 1918 zum November 1938 führt ein verschlungener, aber schon für die Zeitgenoss*innen und erst recht für uns heute in der Rückschau deutlich erkennbarer Weg. Die Judenpogrome waren das Werk derjenigen, die mit grenzenlosem Hass auf die Menschen, die mit ihrem Aufstand dem Krieg und der Hohenzollern-Herrschaft ein Ende gesetzt und die Ausrufung der ersten deutschen Republik ermöglicht haben, noch im Jahre 1918 ihren konterrevolutionären Feldzug begannen. Unsere Genossen, derer wir heute gedenken, waren für sie „Novemberverbrecher“, und jede durch die Revolution erreichte soziale und politische Errungenschaft – deren Verteidigung und natürlich deren Ausbau ein Lebensinteresse der Arbeiterklasse und aller Demokrat*innen war – , ja, die ganze Republik war ihnen ein Dorn im Auge.

Von Beginn an waren sie auch Sturmtrupp und Werkzeug der reaktionärsten Kreise des deutschen Monopolkapitals, dessen gesellschaftliche Stellung und Macht nach 1918 zwar zunächst geschwächt, aber nicht grundsätzlich angetastet und schon gar nicht gebrochen worden war. Diese hatten sich unter den Schutzschirm der „Arbeitsgemeinschaft“ mit den deutschen Gewerkschaften gestellt: „Als alle Autoritäten zusammenbrachen: Monarchie, Staat, Militär und Bürokratie, schuf sie (die Zentralarbeitsgemeinschaft – D.L.) durch den Zusammenschluß der Unternehmer mit den Gewerkschaften eine Macht, die die Wirtschaft und die Betriebe in Ordnung hielt. Der bei allen Revolutionen sonst zu beobachtende Vorgang, daß sich die Arbeiter gegen ihre Arbeitgeber wandten, wurde nicht ausgelöst, weil die Gewerkschaften fest zur Ordnung und zu ihrer Aufrechterhaltung mit den Unternehmern zusammenstanden.“ (Hans v. Raumer, Vorstandsmitglied des Zentralverbands der deutschen elektrotechnischen Industrie)

Und doch waren diese Herren entschlossen, dem ersten, misslungenen Griff nach der Vorherrschaft in der Welt so bald wie möglich den zweiten folgen zu lassen. Und wehe, es wollte sich ihnen jemand in den Weg stellen. Gegen die immerhin sehr vielen Arbeiterinnen und Arbeiter, die zum festen Schulterschluss mit „ihren Arbeitgebern“ denn doch nicht bereit waren, gab es besondere Mittel.

„Hakenkreuz am Stahlhelm, schwarz-weiß-rotes Band / die Brigade Ehrhardt werden wir genannt. / Die Brigade Ehrhardt schlägt alles kurz und klein / Wehe dir, wehe dir du Arbeiterschwein!“  Mit solchen Liedern auf den Lippen und in diesem Geist wüteten die Hakenkreuzler, die Sturmtruppen der Reaktion schon damals, 1919 und 1920, gegen die deutsche Arbeiterklasse; wer für die Vollendung der Revolution von 1918 kämpfte, sollte liquidiert werden. SA und SS, denen viele dieser Arbeitermörder später beitraten, setzten ihr Werk dann fort.

In Marsch gesetzt worden sind sie ausgerechnet von der deutschen Mehrheits-Sozialdemokratie. Friedrich Ebert sicherte im Abkommen mit General Gröner den Bestand der Reichswehr und die Kommandogewalt des alten Offizierskorps zur gemeinsamen Niederschlagung „bolschewistischer“ Bestrebungen; Gustav Noske organisierte die Bereitstellung der Freikorps. Zu den Mitgliedern der Brigade Ehrhardt zählte Hermann Wilhelm Souchon, einer der Mörder Rosa Luxemburgs und Neffe des Vizeadmirals Wilhelm Souchon, der als Gouverneur von Kiel am 3. November 1918 ans Reichsmarineamt in Berlin mit der telegrafisch vorgebrachten Bitte herangetreten war, „wenn irgend möglich, hervorragenden sozialdemokratischen Abgeordneten hierherzuschicken, um im Sinne der Vermeidung von Revolution und Revolte zu sprechen.“

Es kam Gustav Noske. Die aufständischen Soldaten stellten ihn an die Spitze des Kieler Soldatenrats und machten ihn kurz darauf zum Gouverneur. Am 9. November, als die Revolution in Berlin siegte, hatten die Ereignisse in Kiel ihren Höhepunkt bereits überschritten, den ArbeiterInnen und Soldaten entglitt die Macht, die sie nicht recht zu nutzen verstanden hatten.

Hier stellt sich die Frage nach der politischen Orientierung, nach der politischen Führung zwingend. Die Mehrheit des Vorstands der Partei, welcher der Großteil der klassenbewussten Arbeiterschaft immer noch anhing, hatte sie in den Krieg geschickt und mit der revolutionären Erhebung nichts zu tun, ebensowenig die Führung ihrer Gewerkschaften. Wo Teile der Arbeiterklasse während des Krieges in Streikaktionen ihre Kraft erprobt hatten, hatten sie dies ohne Unterstützung der Generalkommission der deutschen Gewerkschaften tun müssen, ohne Rückhalt der vertrauten Organisationsstrukturen – und sie hatten dabei neue Strukturen erprobt: die Räte. Arbeiterräte und Soldatenräte.

Bereits in den Jahren vor dem Krieg hatte es die Generalkommission unter Führung Carl Legiens verstanden, die Arbeiterschaft weitgehend von der Erprobung der Waffe des Massenstreiks abzuhalten. Legiens in Mannheim 1906 vorgebrachte Rechtfertigung für dieses Verhalten: „Kommt die Stunde, dann ist die Entscheidung schnell getroffen, dann werden die Massen, wenn konservative Leute an der Spitze stehen, einfach über die Köpfe der Führer hinweg entscheiden. Dann gibt es kein Beschließen über den politischen Massenstreik mehr, dann ist der politische Massenstreik da.“ Nun, im Jahr 1918, war es tatsächlich so gekommen, und zwar ganz anders, als Legien dies vorausgesehen hatte – die Massen hatten auch über seinen Kopf hinweg entschieden. Aber welche Opfer hatte der Weg dahin gekostet, und wie wenig waren die Massen in der Lage, die Führer, deren Weisungen sie nicht mehr folgen mochten, durch bessere zu ersetzen!

Die Notwendigkeit der Neugründung einer revolutionären Klassenpartei stand auf der Tagesordnung. Die Kommunistische Partei Deutschlands (Spartakusbund) wurde von Menschen geschaffen, die diese Notwendigkeit erkannt hatten. Ihre Führer*innen wurden mit Hilfe der SPD-Führung ermordet, die Mörder vergalten es der deutschen Sozialdemokratie mit permanenter Wühlarbeit gegen die Republik. Der Putsch im Jahr 1920 gehörte dazu.

Carl Legien hatte als Führer des ADGB zur Verteidigung der Republik gegen diesen Putsch den Generalstreik proklamiert und am 9. April 1920 im „Vorwärts“ geschrieben, ein „Ausgleich der Gegensätze in der Arbeiterklasse“ sei anzustreben. Und dann: „Aber, auch wenn diese Einigung nicht erreicht werden sollte, wissen wir nach den Märzwochen eines sicher: eine reaktionäre, eine militaristische Regierung kommt in Deutschland nicht wieder. Gegen diese wird die Arbeiterschaft sich immer so zusammenfinden, wie sie es in diesem Abwehrkampf getan hat.“

Doch diese Hoffnung, die ihm Gewissheit war, bewahrheitete sich nicht. Wir alle wissen zumindest in groben Zügen, wie es weiterging. Ich will hier nur noch auf zwei weitere Erinnerungstage hinweisen. Den einen haben wir auch in unseren Gewerkschaften in diesem Jahr begangen, für die Beschäftigung mit dem nächsten laufen hier und in zahlreichen anderen Organisationen schon die Vorbereitungen. Und beide haben mit dem Gedenken an die Toten, an deren Gräbern wir heute stehen, zu tun. Ich spreche vom 2. Mai 1933 und vom 4. August 1914, der Zerschlagung der Gewerkschaften und dem Beginn des 1. Weltkrieges.

Die genauen Bedingungen, unter denen die kampflose Kapitulation der freien Gewerkschaften vor dem Nazi-Regime erfolgte, sind an dieser Stelle nicht zu erörtern. Von Interesse sind die Begründungen, die die Ideologen dieser Kapitulation für ihren Schritt vorbrachten. Zitiert sei hier der Leitartikel des theoretischen Organs des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbunds (ADGB), „Die Arbeit“ 3/1933. Lothar Erdmann schrieb darin: „Die deutschen Gewerkschaften haben ihren Sozialismus von dem landläufigen Marxismus schon zu einer Zeit klar abgegrenzt, als der Glaube an den Sieg des Nationalsozialismus in Deutschland noch das historische Vorrecht seiner Führer war. Sie haben es getan, ohne ihre Vergangenheit zu verleugnen. Sie haben diesen Schritt tun müssen in folgerichtiger Anwendung ihrer großen geschichtlichen Entscheidung von 1914. (…) Die Gewerkschaften haben ihre Bereitschaft erklärt, auch im neuen Staate mitzuarbeiten. Sie brauchen, auch wenn sie manches aufgeben müssen, was ihrem geschichtlichen Wesen entsprach, ihre Devise: ‚Durch Sozialismus zur Nation’, nicht zu ändern, wenn die nationale Revolution ihrem Willen zum Sozialismus sozialistische Taten folgen lässt.“

Die wahrlich große geschichtliche Entscheidung von 1914, die so genannte „Politik des 4. August“, die bis heute nachwirkt, das war vor allem der Schulterschluss mit dem deutschen Großkapital im Kampf um die Vorherrschaft in der Welt, damals vor allem gegen England. Die „Zukunft des deutschen Handels und Verkehrs“ könne den deutschen Arbeitern nicht gleichgültig sein, schrieb etwa der Schifffahrts-Sekretär Paul Müller, und: „Hier gehen Unternehmer- und Arbeiterinteressen vollkommen konform, sich hier indifferent zu verhalten, hieße wirtschaftlichen Selbstmord begehen. Der tiefempfundene Selbsterhaltungstrieb läßt uns in diesem Falle deutlich die Gefährlichkeit wertloser theoretischer Spintisierereien erkennen; ein gesunder nationaler Egoismus dämpft den ungesunden internationalen Illusionismus, wo es sich um so reale Interessenfragen handelt.“ - Das klingt sehr modern, oder?

Damit sind wir in der Gegenwart angekommen. In den gewerkschaftlichen Debatten über den angeblich notwendigen „Erhalt der industriellen Kernfähigkeiten“ in der Rüstungsproduktion und beim Kieler Marinearsenal, in den Standortdebatten überall in Deutschland, sind beim Kampf der Bochumer Opel-Arbeiter gegen Lohnverzicht und Arbeitszeitverlängerung als Beitrag zum Niederkonkurrieren anderer Standorte, sind beim Bundeskongress der Gewerkschaftslinken, der just heute in Bochum stattfindet, und beim Widerstand gegen den Schulterschluss zwischen Michael Sommer und Thomas de Maiziere, beim Kampf um die Friedensfähigkeit unserer Gewerkschaften und ihre notwendige Stellung als zentraler Bestandteil der Friedensbewegung wie auch der antifaschistischen und antirassistischen Bewegung in unserem Land. Wie wenig gerade die Erinnerung an die „Pogromnacht“ reine Geschichtsarbeit ist, das müssen viele Menschen, Flüchtlinge, Sinti und Roma … in diesen Tagen hautnah erleben. Wir müssen mit ihnen zusammen ihren Schutz organisieren, dem Rassismus in den Parlamenten, in den Amtsstuben und auf der Straße eine Niederlage bereiten.

Revolutionäre Politik in nichtrevolutionären Zeiten… All das gehört dazu. Und Tage wie heute, an denen wir uns unserer Vorbilder und unserer sozialistischen Ziele vergewissern und uns gegenseitig versprechen, gemeinsam Ihr Vermächtnis wachzuhalten. Den Schulterschluss zu suchen mit allen Menschen, die unter den fatalen und immer wieder mörderischen Auswirkungen des kapitalistischen Systems leiden und Wege des Widerstands beschreiten, auf denen wir auch der Überwindung, dem Sturz dieses Systems näher kommen. Tage wie dieser müssen vor allem Tage der Besinnung auf die vor uns liegenden Aufgaben sein.


Erich Mühsam hatte es so ausgedrückt, als Appell eines gefallenen Kämpfers:


Menschen, laßt die Toten ruhn, / euer ist das Leben. / Jeder hat genug zu tun, / Arm und Blick heben.
Laßt die Toten! Sie sind frei / im durchnäßten Sande. / Euch entringt der Sklaverei! / Euch der Not und Schande!
War ein Kampf des Lebens wert, / spart dem Tod die Spende - / aber nehmt des Toten Schwert! / Führt den Kampf zu Ende! (…)
Wollt ihr denen Gutes tun, / die der Tod getroffen, / Menschen, laßt die Toten ruhn / und erfüllt ihr Hoffen!


In diesem Sinne!



                (Dietrich Lohse, DKP Kiel)