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Entschieden nach Aktenlage:
„... und wissen nicht, wie wir hier länger überleben sollen.“
Mit freundlichen Grüßen, das Kieler Gesundheitsamt
„Ich erinnere mich, dass es zwischen 21:30 und 22:00 Uhr an der Tür geklingelt hat. Mein Vater guckte durch den Türspion und öffnete die Tür, weil er nichts sehen konnte und einen Freund aus dem Nachbarhaus vermutete. Sofort kamen 15 Polizisten in die Wohnung gestürmt. Die Polizisten trennten uns voneinander. Dabei wurden unsere Handys beschlagnahmt. Mein Vater, der nur Boxershort und T-Shirt anhat, wird von einigen Polizisten bei Minusgraden vor die Tür gebracht, ohne dass er etwas packen konnte. Meine Mutter hatte sich gerade vorher geduscht und dann auf die Couch gelegt. Sie schlief bereits, als die Polizei in das Zimmer stürmte.
Der Schock, den sie bekam, als sie von den eintretenden Polizisten geweckt wurde, führte sofort zum Versuch einer Flucht. Die Polizisten ergriffen daraufhin meine Mutter und fesselten sie an ihren Händen. Sie hatte auch keine Zeit etwas einzupacken. Ihr wurde über 20 Minuten Wasser verweigert. Die beiden anwesenden Frauen von der Ausländerbehörde sagten uns nichts zur Abschiebung. Es war auch kein Übersetzer dabei, so dass meine Eltern nichts verstanden. Der anwesende Amtsarzt hat meine Mutter nicht einmal untersucht, ob- wohl wir ein Attest hatten, das fest- gestellt hat, dass meine Mutter krank ist und in Serbien keine Therapie bekommen kann. Das Einzige, was ich in der kurzen Zeit mitnehmen konnte, waren ein paar Klamotten, die ich auf dem Flohmarkt gekauft hatte, die mir aber zu klein waren, oder nicht für den Winter geeignet. Meine Mutter musste ich anziehen, weil ihre Hände bereits gefesselt waren und die Polizei damit drohte sie im Morgenmantel abzuschieben, wenn ich nicht schnell machen würde. Noch nicht einmal ein Handyladekabel konnte ich mitnehmen, da wir nur maximal 15 Minuten Zeit hatten. Die Polizei hatte keine schriftliche Mitteilung o.ä., die die Abschiebung erklärte. Stattdessen wurde uns die Abschiebung münd- lich und auf deutsch von der Mitar- beiterin der Ausländerbehörde mitge- teilt. Wir hatten nur noch 50 Euro als wir in Belgrad am Flughafen ankamen und wissen nicht, wie wir hier länger überleben sollen.“
(Gedächtnisprotokoll der Tochter von Familie S. zur Abschiebung nach Serbien)
In der Nacht vom 21. auf den 22. Februar wurde die dreiköpfige Familie S. von Kiel aus nach Serbien abgeschoben. Die Familie wurde durch die Polizei von Kiel nach Boostedt und dann nach Düsseldorf gebracht. Am Düsseldorfer Flughafen wurde die Familie an die serbischen Behörden übergeben.
Die Familie hatte nicht mit einer Abschiebung gerechnet. Es gab verschiedene Gründe, die gegen eine Abschiebung sprachen: Die Mutter leidet unter physischen und psychischen Problemen, weshalb verschiedene Ärzte festgestellt hatten, dass sie „reiseunfähig“ ist und eine Abschiebung demnach nicht durchführbar wäre. Die Tochter besuchte eine Schule, um den Schulabschluss nachzuholen. Sie wollte im Herbst eine Ausbildung beginnen. Trotz einer sich verbessernden Lage und der vermeintlichen Rechtssicherheit durch die verschiedenen Atteste, wurde die Familie am späten Abend von Polizei und Ausländerbehörde zu Hause überfallen. Grundlage der Abschiebung war offenbar ein amtsärztliches Gutachten aus Kiel (von August 2017), wonach die Mutter als „reisefähig“ eingestuft war. Dieses Gutachten muss nach Aktenlage erstellt worden sein. Weder die Betroffene, noch deren Anwalt wussten etwas von diesem Papier.
Dass die betroffene Familie zur Minderheit der Roma gehört, dürfte auch den Amtsärzt*innen des Kieler Gesundheitsamtes bewusst gewesen sein, als sie das amtsärztliche Gutachten unterzeichneten. Dass die Mutter als Roma keine Chance auf eine Behandlung ihrer psychischen und physischen Leiden vor Ort hat, die Tochter keine Schule mehr von innen sehen wird, geschweige denn Chancen auf einen Ausbildungsplatz hat, scheint die Ärzt*innen des Kieler Gesundheitsamts weder in punkto Humanität noch im Sinne des hypokratischen Eides zu stören.
Die Familie ist nun für ein paar Tage in einer überfüllten, notdürftig zusammengezimmerten Hütte, bei Verwandten in einer Slum-Siedlung von Roma in Belgrad untergekommen. Lange können sie nicht bleiben. Zu groß ist die Angst in der Siedlung vor Übergriffen durch Polizei oder Nazis, wenn die Siedlung wächst. Roma werden in Serbien regelmäßig vertrieben, ihre Siedlungen durch Polizei und Nationalist_innen zerstört, sie haben keinen Zugang zum Arbeitsmarkt und kaum Hoffnung, einen Schulplatz zu bekommen.
Gleichzeitig gilt Serbien als ein sicheres Herkunftsland – Menschen aus Serbien, auch den Roma, ist daher der Zugang zum Asylverfahren de facto verwehrt, obwohl sie in den Ländern des West-Balkan als vogelfrei gelten.
Die abgeschobene Familie ist in einer desaströsen Situation, sie haben kaum Gepäck mitnehmen können und müssen zusehen, wie sie in Serbien überleben. Wir sind mit der Familie in Kontakt und versuchen sie, soweit möglich, zu unterstützen.
Neben einem Infoabend im nara-Cafe (siehe unten) und Spendensammlungen für die abgeschobene, mittellose Familie, gab es zwei Flyer-Verteilaktionen für das „Alarmphone Kiel: Abschiebungen stoppen“ als Reaktion auf die brutale Abschiebung vor der Kieler Ausländerbehörde. Die Flyer zum „Alarmphone“ geben Hinweise und Tipps, wie mit einer drohenden Abschiebung umgegangen und wo sich Unterstützung geholt werden kann. Kontakt „Kiel gegen Abschiebungen“: kielgegenabschiebungen@ riseup.net
Am 15. März fand außerdem ein Straßentheater vor dem Kieler Gesundheitsamt statt. Mit dieser Aktion wurde die Rolle des Kieler Gesundheitsamts skandalisiert, welches ein ärztliches Gutachten, mit fatalen Folgen nach Aktenlage aufsetzt und vorherige, ausführliche Stellungnahmen von langjährigen Therapeut*innen missachtete.
Wir werden keine Ruhe geben, so- lange aus deutschen Amtsstube Deportationen von Roma durchgeführt wer- den! Erinnern heißt kämpfen!
Es gibt keine sicheren Herkunftsländer für Roma! Wir fordern Bleiberecht für Alle! Abschiebung ist Mord!
Ela Hagen
für das netzwerk antirassistische aktion kiel [nara] | antira-kiel.blog@ autistici.org | fb: nara.kiel
Offenes antirassistisches Vernetzungstreffen: Jeden letzten Freitag im Monat um 18 Uhr im Infoladen der Hansastraße 48/Kiel
Aus "Gegenwind - Politik und Kultur in Schleswig-Holstein und Hamburg" April 2018