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Krisenlabor Griechenland:

„Experiment eines permanenten Ausnahmezustandes“

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01. Mai 2014 „Ich würde mir eine Allianz des Widerstandes europaweit wünschen!” so das Fazit von Dierk Hirschel auf einer gemeinsamen Veranstaltung von ver.di Kiel-Plön und dem Kieler Griechenland-Solidaritätskomitee am 10. April 2014 im Gewerkschaftshaus. ”Krisenlabor Griechenland – Was haben wir damit zu tun?” lautete das Motto der Veranstaltung, auf dem neben dem beim ver.di-Bundesvorstand für Wirtschaftspolitik zuständigen Kollegen Hirschel der Genosse Dimitris Belantis (Mitglied im Zentralkomitee von SYRIZA und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Parlamentsfraktion) mit gut 70 Besuchern debattierten. Ziel der Veranstaltung war es, vor der anstehenden Europawahl am Beispiel Griechenlands über die sozialen und ökonomischen Auswirkungen der Politik der EU zu diskutieren und dabei auch den Blick auf Zusammenhänge und Rückwirkungen auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen in unserem Land nicht aus den Augen zu verlieren.

 

 

Dimitris Belantis berichtete darüber, dass zwei Tage vor dem Besuch von Angela Merkel in Athen ein neuerlicher Generalstreik Griechenland weitgehend lahmgelegt hatte. Aufgerufen hatten dazu die Gewerkschaftsdachverbände der privaten Wirtschaft und des öffentlichen Dienstes. Protestiert wurde gegen die Senkung der Mindestlöhne auf 486 Euro und der Mindestrenten auf 368 Euro, die Aushebelung landesweit geltender Tarifverträge zu Gunsten von erpresserischen Individualabkommen und die Entlassung tausender staatlicher Angestellten. Ziel der Gläubigertroika sei von Anfang an nicht die Rettung des überschuldeten Staates, sondern vielmehr die Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone am Rande der EU gewesen, ein „Experiment eines permanenten Ausnahmezustandes, den man parlamentarische Diktatur nennen könnte.” Einig waren sich beide Referenten darin, dass Griechenland westeuropaweit ein historisch einmaliges Beispiel darstellt für die radikale Umsetzung eines sozialen Kahlschlagprogramms in Form „einer neoliberale Schocktherapie”, in der Tarifverträge und soziale Sicherungssysteme auf breiter Front geschliffen werden.

Dierk Hirschel ging auf die auch für die deutschen Gewerkschaften wichtige Frage ein, warum eine Politik, wie sie die Bundesregierung seit Jahren betreibt und damit an den sozialen Verwerfungen in den südlichen EU-Ländern maßgeblich beteiligt ist, unter der Bevölkerung seit Jahren mehrheitsfähig ist. Und nicht nur das: Jetzt findet diese Politik offensichtlich auch in Frankreich und Italien Nachahmer. Der Gewerkschafter führte dies darauf zurück, dass es die herrschenden Medien gut verständen, die Tatsachen über die Krisenursachen dreist zu verdrehen. So wüssten nach wie vor viele Bürger nicht, dass die Kredite und sog. Hilfspakete ausschließlich dazu dienten, Schulden und Zinsen bei den internationalen Finanzkonzernen zu begleichen. Ebenfalls eine Lüge ist die Behauptung, die griechischen Arbeiter wären selber Schuld, weil sie zu wenig arbeiten und über ihre Verhältnisse leben. So arbeiteten „die Griechen” durchschnittlich 1.816 Stunden im Jahr und damit deutlich mehr als die Deutschen, die auf 1.655 Stunden kommen. Ziel sei es offensichtlich, zwischen den lohnabhängigen Menschen in den Ländern der EU einen Keil zu treiben. Gegenseitige Unterstützung und EU-weite Solidarität gegen die verordneten Kürzungsdiktate sollen verhindert werden. „Denn Griechenland ist das europäische Versuchslabor für die Abwälzung der Krisenlasten auf die Bevölkerung”, so Hirschel. „Aber auch den Gewerkschaften sei es bisher leider nicht gelungen, einen wirkungsvollen europaweiten Widerstand zu entwickeln.”

Einig waren sich beide Referentenn darin, dass die Lösung der griechischen Probleme nicht allein mit ökonomischen Maßnahmen zu erreichen ist, sondern hier sei in erster Linie politisches Handeln vonnöten. Dierk Hirschel schlug vor, mit Hilfe eines Investitionsprogramms – finanziert in erster Linie über eine EU-weite Reichensteuer – z. B. die Umstellung der Energieversorgung in Griechenland weg vom Erdöl hin zu einer breiter Nutzung der Solarenergie in die Wege zu leiten und damit einen nachhaltigen Impuls für Beschäftigung und Binnennachfrage zu schaffen. In einem Austritt Griechenlands aus dem Euro sieht er kein geeignetes Mittel für eine wirtschaftliche Gesundung des Landes. Eine mit dem Ausscheiden einhergehende Abwertung der nationalen Währung würde nur dann positive Impulse geben, wenn die griechische Wirtschaft wesentlich exportorientiert wäre. Da er dies so nicht sehe, würde ein Raus aus dem Euro keine Probleme lösen können sondern wäre politisch ein gewagtes Spiel mit dem Feuer.

Zum Widerstand der griechischen Bevölkerung und möglichen Perspektiven führte Dimitris Belantis aus: Seit dem Anfang der katastrophalen Memorandenpolitik gab es in Griechenland breiten Widerstand. Nicht nur in den klassischen, bekannten Formen (Streiks in allen Größenordnungen, Besetzungen von Frabriken und Plätzen usw.), sondern auch in neuen, zum Teil sehr erfinderischen Formen (nicht Zahlung der horrenden Zusatzsteuern auf Immobilien, die „wir zahlen nicht“-Bewegung gegen Preissteigerung im öffentlichen Nahverkehr u.v.a.). Gegenwärtig mache er eine gewisse Ermüdung der außerparlamentarischen Aktionen aus. Er führe dies zurück auf die Resignation vieler Langzeitarbeitslose, auf eine beispiellos brutale und für einen Rechtsstaat beschämende Gewalt der Polizei (oft begleitet und in enger Zusammenarbeit mit faschistischen Schlägertrupps) während der Demonstrationen oder anderen Protestaktionen. Hinzu komme, dass die Linkskräfte nicht an einem Strang zögen und dieses Bild der Zerstrittenheit zusätzlich lähmend wirke. Trotzdem sieht Belantis gute Möglichkeiten, dass es bei den kommenden Wahlen zu einer Linksregierung kommen könne. Zentrale Punkte eines Regierungsprogramms von SYRIZA wären: Ein Sofortprogramm zur Linderung der sozialen Katastrophe (Erhöhung des Mindestlohns, Gesundheitsvorsorge für alle, Schutz vor Zwangsräumungen) und die Beendigung der Privatisierung öffentlichen Eigentums. Gleichzeitug müsse mit einer Überprüfung und Streichung illigitimer Schulden begonnen werden. Die Banken, die sich weiter mehrheitlich in Privatbesitz befinden, müssten schnell öffentlich kontrolliert und vergesellschaftet werden. „Kein Opfer für den Euro” laute die zentrale Losung. Aber: Inwieweit eine derartige Politik innerhalb der EU-Institutionen und innerhalb des Euro überhaupt Realisierungschancen habe, werde sowohl innerhalb von SYRIZA als auch in der griechischen Linken kontrovers diskutiert. Die Mehrheit in SYRIZA sehe in der Austrittsoption mehr Gefahren – hin zu einer europäischen Isolation und die Gefahr eines weiteren Anwachsens nationalistischer Tendenzen, die rechten Kräften in die Hände spielen würde.

Zum Abschluss der Veranstaltung wurden die Teilnehmer zu zweierlei ermuntert: Dierk Hirschel und Dimitris Belantis riefen zur verstärkten europäischen Zusammenarbeit von gewerkschaftlichen, sozialen und politischen Bewegungen auf:

„Nutzen wir die Europawahl, um am Aufbau des europäischen Widerstands gegen die Austeritätspolitik zu arbeiten.”

Thrassyvoulos Papadopoulos vom Kieler Solidaritäts-Komitee rief zur weiteren praktischen Solidarität mit der griechischen Bevölkerung auf. Bisher wurden 1.000 Euro an das Soliprojekt (Die Ameise) übergeben. Dieses Projekt untertützt zur Zeit rund 450 bedürftige Familien (etwa 1.000 Personen); darunter ist ein hoher Anteil von Migrantinnen und Migranten. Das Projekt ist eine der zahlreichen Solidaritätsinitiativen, die seit Ausbruch der Krise in Griechenland entstanden sind.

Spendenkonto: Andreas Meyer Stichwort:

Solidarität mit Griechenland.

Förde Sparkasse BLZ: 21050170 Kt.Nr. 1002121042

IBAN: DE91210501701002121042

 

text: gst / foto: u.stephan / r-mediabase. eu