Daten/Fakten  

   

Beiträge

Gedenkfeier in Flensburg-Mürwik:

Von Kämpfern und Kriegern und der Rattenlinie Nord

In Schleswig-Holstein kündigt sich vor dem „Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus“ ein Eklat an. Am 27. Januar 1945, vor 80 Jahren, hatte die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Im Jahr 1996 bestimmte der damalige Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar als nationalen Gedenktag.

Die diesjährige Gedenkveranstaltung der Landesregierung sorgt im Vorfeld für Wirbel. Anlass ist der Ort der Gedenkfeier, die Marineschule in Flensburg-Mürwik. Eben dort residierte Karl Dönitz noch bis zum 23. Mai 1945 als Hitler-Nachfolger und selbsternannter Regierungschef des „Deutschen Reiches“ über den Tag der Kapitulation (8. Mai) hinaus.

Die SPD-Fraktion im Kieler Landtag warf Landtagspräsidentin Kristina Herbst (CDU) „mangelndes Taktgefühl“ vor – in Mürwik hätten sich „Massenmörder und Manager des Holocaust verschanzt“. Auch die Vorsitzenden mehrerer Gedenkstätten im Land übten scharfe Kritik. „Es ist für uns nicht nachvollziehbar, das Gedenken an die Opfer des NS-Regimes – zentrale Aufgabe des 27. Januar – am ausgewiesenen Täterort Mürwik zu praktizieren“, heißt es in einem offenen Brief an den Kieler Landtag.

Bild: Marineschule Mürwik

Der Schoß war fruchtbar...

Ein kurzer Blick auf Schleswig-Holstein aus Anlass des 80. Jahrestages der Befreiung: Bereits bei den Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932 – ein halbes Jahr vor der Machtübertragung an die Nazis – entschieden sich mehr als die Hälfte aller schleswig-holsteinischen Wähler für die NSDAP, während es im Reichsdurchschnitt deutlich unter 40 Prozent waren. Und: Die Schleswig-Holsteiner wussten genau, was sie mit dem „Nationalsozialismus“ erwartete.

„Mitten in ihrem Land, in dem zu Oldenburg gehörenden ‚Landesteil Lübeck‘ mit dem ‚Regierungssitz‘ Eutin, konnten sie schon seit Mai 1932 miterleben, was nationalsozialistische Machtübernahme konkret bedeutete. Sie konnten mit eigenen Augen sehen, wie aus prügelnden SA-Männern urplötzlich offiziell prügelnde Hilfspolizisten wurden, die sich sofort an die Verfolgung von Sozialisten und Kommunisten, aber auch an die Entmachtung konservativer Honoratioren machten. Sie wünschten ihn sich offenbar genau so, wie er sich ihnen darstellte. Diese Vermutung wird durch die hohe Zahl nationalsozialistischer Parteimitglieder bestätigt: In keiner anderen Region Deutschlands war die Mitgliederdichte im Jahre 1935 so hoch wie in Schleswig-Holstein.“

1945 wurde der Norden als letzter Teil des Reiches von den Alliierten befreit. Im äußersten Norden, in Flensburg, führte der Hitler-Nachfolger Dönitz samt seinem Stab ungerührt die Regierungsgeschäfte weiter – bis über den letzten Tag hinaus, nämlich bis zum 23. Mai. In seinem Tross befand sich die geschäftsführende Reichsregierung mit allen Hilfskräften, dazu das Oberkommando der Wehrmacht, insgesamt weit mehr als 1.500 Personen.

Hier bildete sich daher relativ schnell und wirkungsvoll ein neues altes Nazi-Netzwerk (die sog. „Rattenlinie Nord“).
„Dieses umfasste, um nur einen Teil zu nennen, das Landessozialministerium, die Spitze der Landespolizei, wesentliche Teile der Landesjustiz und sogar den Chef der schleswig-holsteinischen Staatskanzlei, der für Personalfragen zuständig war. Ergebnis: Im Oktober 1947 waren in der britischen Zone bereits 70-80 Prozent der Richterstellen mit ehemaligen NSDAP-Mitgliedern besetzt.“

Bild: Verhaftung Dönitz am 23.5.1945

Neitzel: „Wir brauchen Soldaten als Kämpfer und Krieger“

Zur Feier in Flensburg-Mürwik soll als Redner der Militärhistoriker Sönke Neitzel auftreten, Professor für Militärgeschichte an der Uni Potsdam und medienpräsent in der Sendung „zdf-History“. 2020 legte er mit „Deutsche Krieger: Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte“ sein Standartwerk vor und begründete damit die militärpolitische „Zeitenwende.“

Für den Historiker Wolfram Wette bedient der „Bellizist“ und „Revisionist“ Neitzel mit einer „wissenschaftlich eingefärbten Krieger-Nostalgie“, darin die Rede vom „Ernstfall Krieg“. Und in einer Radio-Sendung des WDR wird Neitzel mit dem bemerkenswerten Satz wahrgenommen: „Wir brauchen Soldaten als Kämpfer und Krieger, müssen das Kriegshandwerk wieder lernen.“

Zu dieser Gedenkveranstaltung der CDU/Grünen-Landesregierung fällt mir nur das Zitat des Malers Max Liebermann anlässlich der Machtübertragung an Hitler ein: „Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte.“

Zum Trost abschließend noch einen Musik-Tipp: Von der Husum-Flensburger Punkband „Turbostaat“ gibt es einen treffenden Song mit dem Titel „Rattenlinie Nord“, den man/frau auf YouTube anhören kann. (gst)