Rede von Sahra Wagenknecht (Die Linke)
„Was wir zur Zeit erleben, ist eklatantes Staatsversagen“
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin! Es gibt Werte, die man mit Blick auf die großen Traditionen von der Antike bis zur Aufklärung mit gutem Grund und im besten Sinne als europäische Werte bezeichnen kann. Demokratie, Solidarität und auch Gerechtigkeit gehören dazu. Wie wenig die Europäische Union mit solchen Werten zu tun hat, zeigt sich in der Flüchtlingskrise besonders krass. Europäische Einigkeit besteht gegenwärtig eigentlich nur darin, mehr in die Abschottung der EU-Außengrenzen zu investieren - ein Konjunkturprogramm für die Stacheldrahthersteller und für die Schleusermaffia statt einer verantwortungsvollen europäischen Flüchtlingspolitik. Ich finde, das ist ein Armutszeugnis für Europa.
Natürlich weiß jeder, dass die Lösung nicht darin liegt, die vielen Millionen verzweifelten Menschen, die weltweit auf der Flucht vor Krieg, vor Bürgerkrieg und vor Terror sind, in die EU oder gar nach Deutschland zu holen. Aber gerade deshalb wäre es endlich an der Zeit, über die Beseitigung von Fluchtursachen nicht nur zu reden, sondern endlich auch real etwas dafür zu tun, dass es auf dieser Welt weniger Krieg, weniger Bürgerkrieg und weniger Terror gibt.
Sagen Sie jetzt nicht, das läge nicht in Ihrer Macht. Die Vereinigten Staaten haben ihre Öl- und Gaskriege immer mit Beteiligung europäischer Länder geführt. US-Drohnen morden mit logistischer Unterstützung aus Deutschland. Die Saudis führen ihren Krieg im Jemen unter anderem mit deutschen Waffen. Es ist doch zutiefst verlogen, über die Beseitigung von Fluchtursachen zu reden und gleichzeitig die Waffenexporte ausgerechnet nach Saudi-Arabien zu verdreifachen. So bekämpft man Fluchtursachen nicht, sondern so macht man glänzende Geschäfte mit ihnen.
Deshalb muss ich Ihnen sagen: Solange Sie Waffenexporte in Spannungsgebiete nicht endlich verbieten, ist das ganze Gerede über die Bekämpfung von Fluchtursachen vollkommen unglaubwürdig.
Darüber hinaus brauchen wir endlich eine eigenständige europäische Politik gegenüber den Vereinigten Staaten, gerade wenn sie sich als oberster Feldwebel dieser Welt aufspielen und bomben und töten, wo immer es ihnen passt. Ohne den Irakkrieg gäbe es den „Islamischen Staat“ nicht, der heute in Syrien wütet. Das jüngste Kriegsverbrechen in Kunduz mit 22 zivilen Toten, Ärzten und Patienten, zeigt erneut den ganzen Zynismus dieser angeblichen Antiterrorkriege. Genau diese Kriege mit ihren Tausenden zivilen Opfern sind es doch, die den Hass säen, auf dem der islamistische Terror gedeiht.
Deshalb unterstützen wir es durchaus, dass Sie, Frau Merkel, eben noch einmal für eine politische Lösung für Syrien plädiert haben. Ich denke, es gibt keinen anderen Weg. Auch der IS, der sich in Städten mit Tausenden zivilen Einwohnern versteckt, lässt sich nicht mit Bomben stoppen, und zwar weder mit amerikanischen noch mit russischen.
Wenn man den IS stoppen will, dann muss man ihn von Waffenlieferungen und Finanzen abschneiden. Eines der Länder, die in der Vergangenheit genau das Gegenteil getan haben und immer noch tun, die den IS also direkt und indirekt unterstützt haben, ist allerdings die Türkei, und ausgerechnet die soll jetzt unser großer Partner in der Flüchtlingskrise werden, ausgerechnet Erdogan, der sein eigenes Land durch die Aufkündigung des Friedensprozesses mit den Kurden an den Rand eines Bürgerkrieges führt.
Wie gut die Türkei zum sicheren Drittstaat taugt, hat der furchtbare Anschlag mit über 100 Toten am letzten Wochenende gezeigt. Ich finde, es ist eine humanitäre Bankrotterklärung, mit einem Regime zu paktieren, das Journalisten, Kurden und Gewerkschafter verfolgt.
Frau Merkel, sagen Sie deshalb Ihre Türkeireise ab. So kurz vor den Wahlen ist sie nichts anderes als direkte Wahlkampfhilfe für Erdogan.
Natürlich ist es wichtig, dass die Lager vor Ort, in denen sich ungleich mehr Flüchtlinge aufhalten als in der gesamten EU, besser ausgestattet werden. Das erreichen wir aber doch nicht dadurch, dass wir uns für Erdogans Machtpolitik einspannen lassen, sondern indem wir Hilfsorganisationen wie die Welternährungsorganisation der UN besser ausstatten, damit sie ihre Aufgaben dort erfüllen können.
Ich muss sagen: Sie können doch nicht im Ernst glauben, dass Sie mit einer zusätzlichen Milliarde, die die EU jetzt in Aussicht gestellt hat, die Lebensbedingungen von etwa 10 Millionen Flüchtlingen, die es derzeit in und um Syrien gibt, wirklich verbessern können. Wer so etwas erzählt, der ist doch einfach unseriös.
Inzwischen ist davon auszugehen, dass in diesem Jahr über 1 Million Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Die Willkommenskultur, die große Teile der Bevölkerung in den letzten Wochen und Monaten an den Tag gelegt haben, ist wirklich bewundernswert. Es ist jetzt aber auch langsam an der Zeit für eine Verantwortungskultur der Politik, und zwar vor allem der Bundespolitik, die damit beginnen muss, dass man sich den vorhandenen Problemen stellt, statt sie kleinzureden.
Die hundertste Wiederholung Ihres „Wir schaffen das“, Frau Bundeskanzlerin, hilft dem Bürgermeister einer Gemeinde unter Haushaltsnotstand, der eine winterfeste Unterbringungsmöglichkeit für die Flüchtlinge braucht und schon überlegt, in welchen anderen Bereichen er dafür kürzen muss, nicht. Wir erleben zurzeit doch ein eklatantes Staatsversagen, und jetzt rächt es sich, dass die politischen Weichen in diesem Land seit vielen Jahren in die falsche Richtung gestellt wurden.
Es ist doch nicht erst seit dem Zuzug der Flüchtlinge so, dass bezahlbarer Wohnraum gerade für diejenigen fehlt, die kein dickes Portemonnaie haben. Das ist seit vielen Jahren so. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass die Kommunen durch Steuersenkungen für Reiche und Unternehmen finanziell ausgehungert wurden, sodass viele unter diesem Druck eben ihren Wohnungsbestand verkauft haben. Das ist doch eine Realität.
Genauso ist es nicht erst seit dem Zuzug der vielen Flüchtlingskinder so, dass in diesem Land Lehrer fehlen. Schon seit vielen Jahren werden Lehrerstellen abgebaut, weil die Verkleinerung des öffentlichen Dienstes natürlich immer das leichteste Mittel ist, um im Korsett der Schuldenbremse klarzukommen.
Einige von Ihnen reden hier von Leitkultur, aber Sie schaffen es noch nicht einmal, zu verhindern, dass wegen des Lehrermangels immer mehr Deutschstunden ausfallen und viele Kinder die Schule verlassen, ohne jemals einen Zugang zu Thomas Manns Der Zauberberg oder Goethes Faust gefunden zu haben.
Dieses Bildungselend, die Wohnungsnot und auch den riesigen Niedriglohnsektor gab es schon, bevor die Flüchtlinge kamen, aber natürlich werden diese Probleme jetzt ins Extremste verschärft. Die Stimmen, die den ohnehin schon lückenhaften Mindestlohn weiter aufweichen wollen, werden immer lauter. Das heißt, die Zuwanderung soll jetzt auch noch für Lohndumping missbraucht werden. Ich finde das unerträglich. Das muss verhindert werden.
Wir brauchen stattdessen dringend bessere Sicherungen gegen Lohndrückerei. Wir brauchen ein groß angelegtes öffentliches Wohnungsbauprogramm. Wir brauchen eine massive Aufstockung der Bildungsausgaben. Wer jetzt immer noch meint, dieses Problem ließe sich dadurch lösen, indem man die Budgets ein bisschen umschichtete, der hat, finde ich, den Ernst der Lage nicht begriffen.
Natürlich können wir es schaffen. Deutschland ist ein reiches Land. Aber dann muss man eben auch den Mut haben, sich das Geld bei den Reichen zu holen und nicht bei den Armen.
Allein die 500 reichsten Familien in Deutschland haben ein Privatvermögen in Höhe von über 600 Milliarden Euro. Die zehn reichsten Familien kassieren zusammen Dividenden in Höhe von 2,4 Milliarden Euro im Jahr.
Aber statt solch unverschämten Reichtum höher zu besteuern, lassen Sie es zu, dass die Kosten für die Flüchtlinge als Argument dafür herhalten müssen, warum wir unsere Erzieherinnen und Erzieher in den Kitas nicht ordentlich bezahlen können. Sie lassen es zu, dass Mietern in kommunalen Wohnungen gekündigt wird, um Wohnraum für Flüchtlinge zu schaffen. Wissen Sie nicht, was Sie damit anrichten?
Frau Merkel, Sie haben mehrfach Ihre Aussage wiederholt, dass Sie Menschen in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen wollen. Aber ganz abgesehen davon, dass das freundliche Gesicht mit den geplanten Internierungslagern an der Grenze zu einer ziemlich hässlichen Grimasse zu werden droht, fragen sich auch viele: Wo war und wo ist Ihr freundliches Gesicht gegenüber Menschen in Notsituationen hier im Land? Wo ist Ihr freundliches Gesicht gegenüber denen, die von Jobcentern gedemütigt und in miese Billiglohnjobs gedrängt werden?
Wo ist Ihr freundliches Gesicht gegenüber der alleinerziehenden Mutter, die ihre Kinder nur noch dank des Angebots der Tafeln satt bekommt?
Wo ist Ihr freundliches Gesicht gegenüber der wachsenden Zahl von Menschen, denen nach einem langen Arbeitsleben Armut im Alter droht?
All diese Notsituationen lassen Sie seit vielen Jahren zu - mit einem ziemlich ungerührten Gesicht.
Ich erinnere Sie daran, wie viel Geld Sie über Nacht bereitgestellt haben, als deutsche Banken ins Taumeln gerieten. Heute taumeln in Deutschland Städte und Gemeinden, aber Sie hantieren mit Kleinbeträgen.
Ich sage Ihnen: Wer selbst von Zukunftsangst gequält wird, der ist selten bereit, anderen mit offenen Armen eine Perspektive zu bieten.
Nehmen Sie endlich Ihre Verantwortung wahr, statt zuzulassen, dass AfD, Pegida und Co. dort ernten gehen, wo Sie Spannungen und Überforderung gesät haben, sonst - das muss ich Ihnen sagen - wird mir angst und bange, wenn ich daran denke, wie dieses Land in ein oder zwei Jahren aussehen wird.