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Gefahrengebiet Schleswig-Holstein
(Karte aus: Lübecker Nachrichten vom 19.6.2014)
Kurz vor der Sommerpause des Landesparlaments in Schleswig-Holstein schlugen die Wellen hoch: der Abgeordnete Patrick Breyer, Piratenfraktion im Landtag, hatte Unterlagen des Innenministeriums über die Gefahrengebiete in Schleswig-Holstein auf Anforderung erhalten und diese auf seiner Internetseite veröffentlicht. Bereits Anfang Juni wurde von den Piraten im Landtag ein Gesetzentwurf für ein "Gesetz zur Abschaffung von Anhalte- und Sichtkontrollen in Grenz- und „Gefahrengebieten“" eingebracht.
In der 15-seitigen Begründung wird u.a. festgestellt:
"Nach unserem Grundgesetz sind die Grundrechte Abwehrrechte gegen den Staat. Die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes sind davon ausgegangen, dass die Menschen diese Abwehrrechte benötigen, um sich gegen staatliche Willkür zur Wehr setzen zu können. (....) Hieraus folgt, dass die Menschen grundsätzlich das Recht haben, vom Staat in Ruhe gelassen zu werden. (...) Hieraus folgt für das Polizeirecht, dass die Polizei im Bereich der Gefahrenabwehr grundsätzlich nach den einschlägigen Gesetzen erst beim Vorliegen einer konkreten Gefahr berechtigt ist, in Grundrechte einzugreifen, um Gefahren abzuwenden."
Genau dies wird jedoch mit dem 2006 für Schleswig-Holstein eingeführten Gesetz außer Kraft gesetzt. Große Bereiche des Landes sind als sogenannte "Gefahrengebiete" eingestuft, besondere Rechte und Vorgehen der Polizei sind vorsehen. Dazu stellt der Antrag der Piratenfraktion z.B. fest: "Angehalten zu werden und Einsicht in verschlossene Kofferräume und Ladeflächen gewähren zu müssen, ist keine typische Situation des täglichen Lebens. Die Einsichtnahme in Privatfahrzeuge stellt ein Eindringen in die private Sphäre dar." und "Das Gesetz bestimmt nicht, was unter „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ oder „grenzüberschreitende[r] Kriminalität von erheblicher Bedeutung“ zu verstehen sein soll."Da im Ergebnis jede Person in einem entsprechenden Gebiet sich eine Sichtung ihres Fahrzeugs gefallen lassen muss, auch wenn sie keinen Anlass hierfür gegeben hat, ermöglicht die Vorschrift unverhältnismäßige Grundrechtseingriffe."
Auch die Rechtmäßigkeit des Gesetzes auf internationaler Ebene wird von den Antragsteller*innen infrage gestellt: "Die Ermächtigung zu Kontrollen in Grenznähe dürfte auch gegen EU-Recht verstoßen, weil sie nicht verhindert, dass Anhalte- und Sichtkontrollen in gleichem Umfang wie die früheren Grenzübertrittskontrollen vorgenommen werden (EuGH, C-188/10 und C-189/10 vom 22. Juni 2010; Institut für Menschenrechte, Studie zu Racial Profiling, http://ipir.at/racialprofiling)."
Weiter heißt es:
„Jedermannkontrollen“ vollkommen unverdächtiger Menschen, gegen die nichts vorliegt, allein aufgrund diffuser „Lagebilder“ oder Grenznähe, greifen inakzeptabel tief in die Bürgerrechte ein.
Ganze Städte und Regionen werden als potenziell gefährlich diffamiert, wenn sie zum „Gefahrengebiet“ und damit zu einer „Sonderrechtszone“ erklärt werden können.
Da die Kontrollen ohne Verdacht erfolgen, muss nach anderen Kriterien ausgewählt werden, wer kontrolliert wird. Untersuchungen zeigen, dass verdachtslose Kontrollen – vor allem solche mit internationalem Bezug – stets die
Gefahr einer diskriminierenden Auswahl aufgrund des Aussehens (z.B. Hautfarbe, Herkunft, Bekleidung) von Personen bergen, bekannt etwa unter dem Begriff „Racial Profiling“ oder „Ethnic Profiling. (....) Eine Selektion nach Äußerlichkeiten kann auch dazu führen, dass man sich zur Vermeidung von Kontrollen unauffällig kleidet oder verhält oder ganz zuhause bleibt, um bloß keinen Anlass zur Kontrolle zu geben. Dieser Anreiz zu Unauffälligkeit und Konformität steht im Widerspruch zu einer offenen und freien Gesellschaft."
Dies sind nur einige der geforderten Punkte, die als Begründung für die Abschaffung des Gesetzes angeführt werden.
Über den Entwurf der Piratenfraktion kann und sollte diskutiert werden – auch und gerade linke Kräfte in Schleswig-Holstein sollten sich damit befassen und in Diskussionen ihre Standpunkte einbringen, evtl. auch weitergehende und andere Sichtweisen und Meinungen äußern. So stellt sich z.B. die Frage, ob es überhaupt Sonderrechte für die Polizei und andere "Sicherheitskräfte" geben muss.
Doch obwohl die Debatte über "Gefahrengebiete" insbesondere seit Anfang des Jahres 2014 mit den Aktionen in Hamburg zugenommen hat, findet im nördlichsten Bundesland keine wahrnehmbare öffentliche Diskussion dazu statt.
Nach einem Bericht des Hamburger Abendblatts vom 13.5.14 äußerten auch die Grünen und der SSW Kritik. Diese richtete sich nicht an dem Gesetz an sich, sondern an dass von der Polizei erklärte "Gefahrengebiete" problemlos richterlich verlängert werden stößt hier auf.
Ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass fast ganz Schleswig-Holstein als "Gefahrengebiet" eingestuft wird: dauerhhafte Gefahrengebiete sind bis zu 30 km südlich von der dänischen Grenze ins Land hinein und jeweils30 km von den Küsten ins Landesinnere. Ein kleiner Streifen zwischen Schleswig, Rendsburg und Itzehoe bleiben gefahrengebietsfrei, ein Teil des Landes um Bad Segeberg, Ratzeburg bis Geesthacht kann zeitweise zum Gefahrengebiet erklärt werden.
Doch nicht diese Fakten waren es, die zumindest kurzfristig, eine Berichterstattung in den Medien zur Folge hatten, sondern die Tatsache der Form der Veröffentlichung. Wie erwähnt hatte der Abgeordnete Breyer die Unterlage auf seiner Internetseite öffentlich gemacht – und zwar in der Form wie diese ihm, mit Schwärzungen von Personennamen, von der zuständigen Abteilung des Innenministeriums zugestellt wurde. Das diese Schwärzungen im Internet nicht vollständig wirkten, die Namen zu lesen waren, wurden umgehend von Mitgliedern anderer Landtagsfraktionen als "Vertrauensbruch" und "verantwortungslos" bezeichnet. Die Veröffentlichung der Namen von Polizist*innen wurde als Gefahr für diese eingestuft. Eine Prüfung, ob ein Ermittlungsverfahren wegen der Verletzung des Dienstgeheimnisses gegen Breyer erfolgen kann, wurde angestrengt. Dies von der Staatsanwaltschaft Kiel Ende Juli verneint.
Ende gut – Alles gut? Mitnichten!
Die Diskussion um Gefahrengebiete wurde von den Medien geschickt ausgespielt, es ging letztlich nur noch darum festzustellen ob, was und wie ein Abgeordneter des Landttages die Bevölkerung informieren darf.
Das Abgeordnete nicht nur das Recht, sondern im Sinne einer Transparenz sogar die Pflicht zur Information haben, spielte keine Rolle. Es sollte, so scheint es, eher um eine "Lex Breyer" gehen.
Dabei wurde auch von einigen der Rücktritt des Abgeordneten gefordert.
Das dieser nicht erfolgte, lässt hoffen, dass Breyer sich weiterhin für den Antrag auf "Abschaffung der Gefahrengebiete" einsetzt. Ebenso, dass durch ihn die Aktivitäten gegen das geplante Versammlungsgesetz im und außerhalb des Landtages weiter öffentlich gemacht werden.
Ein Zusammenhang zwischen den Gefahrengebieten und dem Versuch der Landesregierung ein Versammlungsgesetz für Schlewig-Holstein zu beschließen, wird von den Regierungsvertreter*innen nicht gesehen. Da jedoch beides dazu führen kann, Menschen von aktiver Teilnahme an Demonstrationen und Aktionen abzuhalten, somit die Wahrnehmung des Grundrechts auf Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit einschränkt, müssen diese Themen weiterhin auf der Tagesordnung von Bewegungen und Initiativen, von fortschrittlichen Parteien und Organisationen stehen. Dem Abbau demokratischer Rechte muss unser Widerstand entgegengesetzt werden.
(Bettina Jürgensen)