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Der vergilbte Hochglanzprospekt „Europäische Union“:
Eine Ideologie in der Krise
Grafik: Andreas Meyer
01. Mai 2014 In den letzten Wochen wurde uns anlässlich der Konflikte in der Ukraine in Presse, Funk und Fernsehen besonders intensiv der Hochglanzprospekt: Europäische Union präsentiert. Die EU als Hort der Demokratie, der wirtschaftlichen Prosperität, des Friedens und der Völkerverständigung auf der einen Seite, auf der anderen Seite das Reich des Bösen mit dem imperialen Despoten und Macho Putin. Eine Inszenierung aus der Gedankenwelt des Kaspertheaters. Auf dem Medienmarkt wurde die Bildzeitung schon fast von den Leitmedien des deutschen Bildungsbürgertums überholt. FAZ, Süddeutsche, Spiegel, FR, ZEIT, taz, Deutschlandfunk, Brennpunkte und Talkrunden in ARD und ZDF überfluteten uns mit diesem simplen Gut/Böse-Schema.
Doch trotz dieses propagandistischen Trommelfeuers mussten die Mainstraemjournalisten zu ihrer Überraschung und Verärgerung feststellen, dass sie mit ihren Botschaften in der Bevölkerung nicht richtig landeten.
Vier von fünf Deutschen lehnten Sanktionen gegenüber Russland ab, viele waren der Meinung, man müsse auch die Sicherheitsinteressen Russlands berücksichtigen. „Putinversteher!“ war die bockig, gekränkte Antwort vieler Journalisten und Politiker, die den Propagandamodus bevorzugten.
Zum allgemeinen Charakter und zur Wirkung von Ideologien
Hinsichtlich der Wirksamkeit von Propaganda spielt die Überzeugungskraft von Ideologien eine zentrale Rolle. So fällt beispielsweise bei denjenigen, die durch einen Jahrzehnte langen Antikommunismus und durch das Weltbild des „freien Westens“ geprägt wurden, das Bild vom „bösen Despoten Putin“ und dem „rückständigen Russland“ auf einen besonders fruchtbaren Boden. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass das Verständnis für die russischen Sicherheitsinteressen bei Meinungsumfragen im Osten Deutschlands größer war als im Westen.
Bei der Herausbildung einer herrschenden öffentlichen Meinung stellt sich die interessante Frage, wie es dazu kommen kann, dass sich Menschen mit Zielen, Interessen oder Meinungen identifizieren, die bei genauerer Betrachtung oder späteren eigenen Erfahrungen überhaupt nicht in Einklang mit ihren Bedürfnissen oder Interessen stehen. Ein dramatisches Beispiel dafür sind Millionen von Hurrapatrioten, die vor hundert Jahren für Kaiser, Volk und Vaterland in die Schlachten zogen und dort jämmerlich für die Interessen der Herrschenden verbluteten. Zuvor verkündete Wilhelm der 2., „dass er keine Parteien, sondern nur noch Deutsche kenne“.
Hier geht es nicht um einen historischen Vergleich, sondern um ein Beispiel für die Funktion von Ideologien. Bevor sie hier als Herrschaftsinstrumente betrachtet werden, zunächst noch einige Charakteristika, die allgemein für Ideologien bezeichnend sind und ihre Wirksamkeit ausmachen.
Ganz allgemein kann man Ideologien als Weltanschauungen beschreiben, die bestimmte soziale, religiöse, politische oder wirtschaftliche Ziele und Ordnungen propagieren. Sie dienen dabei nicht nur der Erklärung der „Welt“ sondern sollen sie auch entsprechend ihren Zielen gestalten und dafür eine möglichst breite Anhängerschaft gewinnen.
Dabei haben Ideologien in der Regel einen Absolutheitsanspruch, indem sie beispielsweise ihre Sicht der Dinge als die einzig „sinnvolle“, „gerechte“ ,“machbare“, „erfolgreiche“ Sicht darstellen. Als letztendliche Begründungen dienen dafür oft Prämissen, die nicht mehr hinterfragt werden. So verweisen religiöse Ideologien auf Gott oder ähnliche überirdische Annahmen, weltliche Ideologien beziehen sich dagegen häufig auf Wissenschaften als letztendlichen Beleg.
Für diesen Zweck wird Wissenschaft als eine interessenneutrale Instanz zur Erkundung der Wahrheit dargestellt. Dass Wissenschaft immer in einem gesellschaftlichen Zusammenhang steht und ihre Anwendung zwangsläufig von gesellschaftlichen Interessen geleitet ist, bleibt in solchen Zusammenhängen unerwähnt.
Eine besondere psychologische Funktion von Ideologien besteht darin, dass sie als persönliche Grundhaltungen und als ein Wertekanon verinnerlicht werden und so als ein Grundmuster zur Orientierung in der Welt dienen. Dieses Muster bildet die Grundlage für Identifikationen, für Zugehörigkeitsgefühle, für Abgrenzungen und gegebenenfalls für die Produktion von Feindbildern. Nach diesem weit gefassten Verständnis sind fast alle Menschen empfänglich für Ideologien und auch mehr oder minder dezidiert Anhänger_innen bestimmter Ideologien. Diese psychologisch nachvollziehbaren Bedürfnisse zur leichteren Orientierung in der Welt verdeutlichen zugleich die Gefahren des manipulativen Missbrauchs.
Ideologie als Herrschaftsinstrument
Die Funktion von Ideologie als Herrschaftsinstrument wird besonders stark von linken Theoretikern betont. Angefangen bei Marx über Gramsci, die Vertreter der Frankfurter Schule, Louis Althusser bis Pierre Bourdieu und Chomsky. Manche von ihnen sehen Ideologie ausschließlich in dieser Funktion.
Bei allen Unterschieden lässt sich sagen, dass sie gemeinsam die Funktion von Ideologie darin sehen, die bestehende Herrschaft als alternativlos darzustellen, Interessengegensätze zu verschleiern und die Interessen der Herrschenden gut verpackt als Gemeinschaftsinteresse in den Köpfen der gesamten Gesellschaft zu verankern.
Das Entscheidende dabei ist, dass solche Ideologien nicht per Dekret verordnet werden sondern freiwillig und weitgehend unbewusst als die eigene Weltanschauung und persönliche Lebenshaltung übernommen werden und sich gesellschaftlich verallgemeinern.
So prägt die herrschende Ideologie nicht nur die öffentliche Meinung, sondern sie durchdringt mit ihren Inhalten Gesetze, die Sprache, Bildungsinhalte, Erziehung, die Alltagskultur, die gesamten Lebens- und Arbeitsbedingungen. Die so vermittelten Werte erscheinen gesamtgesellschaftlich als das Maß aller Dinge.
Inzwischen ist es für die meisten in diesem Land völlig selbstverständlich, dass sie in einer Demokratie und freien Marktwirtschaft leben, dem vermeintlich besten aller Wirtschaftssysteme, in der sich „Leistung lohnt“ und die „Konkurrenz das Geschäft belebt“. Wir reden von „Arbeitgebern“ und „Arbeitnehmern“ oder von „freien Waren- und Arbeitsmärkten“, Begriffe die ein Verhältnis auf Augenhöhe suggerieren, obwohl es doch dabei um sehr ungleiche Machtverhältnisse geht.
Neoliberale Sprüche wie: „Sozial ist, was Arbeitsplätze schafft“, „Flexibilität ist eine Grundvoraussetzung in unserer globalisierten Gesellschaft“, „der demographische Wandel erzwingt private Vorsorge“, gehören inzwischen zunehmend zum Allgemeingut. Die vermeintliche Richtigkeit bestätigen in diversen TV-Talkrunden schließlich Professoren der Wirtschaftswissenschaften wie Herr Sinn, Herr Hüter oder Versicherungsexperten wie Herr Prof. Raffelhüschen, deren politisches und wirtschaftliches Engagement dabei meist unerwähnt bleibt.
Doch um erfolgreich zu sein, müssen Herrschaftsideologien immer an den Alltagserfahrungen und den Bedürfnissen der Menschen anknüpfen und mindestens Teile davon befriedigen oder einen Ersatz dafür anbieten.
Es kann aber auch eine Kompensation der Bedürfnisse in anderen Bereichen erfolgen, indem beispielsweise ein trister, formatierter Arbeitsalltag durch „Brot und Spiele“ am Abend ausgeglichen wird. Davon lebt eine ganze Medien- und Freizeitindustrie. Eine weitere Strategie besteht besonders in Krisensituationen darin, einen Bedürfnisaufschub oder eine Bedürfniseinschränkung mit Blick auf eine bessere Zukunft zu fordern.
Das wird zurzeit eindrucksvoll von der herrschenden Politik im Krisenlabor Griechenland versucht. Der griechischen Bevölkerung soll das ganze Elend der Reformdiktatur der Troika mit dem Blick auf vermeintliches künftiges Wachstum und auf Wohlstand erträglich gemacht werden. Es heißt: „Die Logik des Marktes erzwingt diesen Weg, ein Licht am Ende des Tunnels ist sichtbar!“
Dass diese ideologische Argumentation breite Teile der griechischen Bevölkerung nicht mehr überzeugt, wurde in vielen Massendemonstrationen, Generalstreiks und Widerstandsaktionen deutlich sichtbar.
Doch nicht nur in Griechenland sondern in weiten Teilen Europas zeigt sich, dass der Hochglanzprospekt „Europäische Union“ vergilbt, weil seine Versprechen besonders im Verlauf der Krise im völligen Gegensatz zu den Alltagserfahrungen der meisten Menschen stehen.
Die ideologische Krise der Europäischen Union
Im Europawahlkampf wird von den herrschenden Politikern immer wieder darauf verwiesen, dass der europäische Integrationsprozess das Ergebnis der Völkerverständigung in Europa sei und dass durch die europäische Integration nach vielen Kriegen eine friedliche und stabile Nachkriegsordnung auf diesem Kontinent geschaffen worden sei. Diese Erzählung stimmt nur bedingt und ist bereits eine ideologische Verklärung.
Das Bild vom solidarischen und demokratischen Europa
Schon an dem Aufbau und der Entwicklung der ersten Institutionen der europäischen Gemeinschaft war die Bevölkerung kaum beteiligt. Der Impuls dazu ging eindeutig von den Wirtschaftseliten und der Politik aus. Das gesamte Vertragswerk von der EWG über den Maastricht-Vertrag bis zu dem Lissabon-Vertrag hatte in erster Linie einen großen europäischen Binnenmarkt für eine optimale Kapitalverwertung zum Ziel. Freie Marktzugänge für Waren und Dienstleistungen, Deregulierungen von Arbeitsmärkten und die Privatisierungen der öffentlichen Daseinsvorsorge waren und sind zentrale Elemente dieser Strategie. Weitergehende politische oder militärische Integrationsversuche blieben dagegen auf der Strecke, was unter den gegebenen politischen Verhältnissen auch nicht zu bedauern ist. Im Bereich der Steuer- und Sozialpolitik wurden erst gar keine Versuche unternommen.
Die Gründungsgeschichte der EU soll hier nicht weiter vertieft werden. In diesem Zusammenhang ist nur die Diskrepanz zwischen dem Einfluss der aktiv gestaltenden Kapitalinteressen einerseits und der geringen Beteiligung bzw. den geringen Beteiligungsmöglichkeiten der Bevölkerung andererseits interessant. Mithilfe welcher Erzählungen sollen nun trotz dieser Diskrepanz breite Bevölkerungsschichten für die ökonomischen und politischen Interessen der Eliten gewonnen werden?
Für die Wirksamkeit einer europäischen Ideologie sind die folgenden Faktoren besonders wichtig:
• Die Herstellung eines europäischen Gemeinschaftsgefühls, das von Lappland bis Sizilienreicht.
• Die Identifikation mit der kapitalistischen Marktwirtschaft als Grundlage der EU
• Die Leidensbereitschaft, für eine vermeintlich gute Sache auch in Krisen einzustehen
• Die öffentliche, mediale Ausgrenzung und Diskriminierung von „Abweichlern“
In den fünfziger und sechziger Jahren gab es in der deutschen Bevölkerung den weit verbreiten Wunsch nach einer europäischen Einigung. Auch wenn er noch sehr diffus war. Europa war verwüstet und kriegsmüde. Besonders in der damaligen jungen Generation bestand ein großes Bedürfnis nach Völkerverständigung. „Nie wieder Krieg!“ war eine weit verbreitete Parole. Das Einreißen der Schlagbäume drückte symbolisch diesen Wunsch aus. Doch dieser Idealismus versiegte mit der Zeit, denn die europäische Integration wurde als vorwiegend marktliberales Projekt wahrgenommen, in dem noch dazu durch Kompetenzverlagerungen nach Brüssel kommunale und nationale Parlamentsrechte beschnitten wurden. Das Gefühl, nicht wirklich gefragt zu werden, drückte sich zunehmend in miesen Wahlbeteiligungen bei Europawahlen aus. .Besonders im Verlauf der jüngsten Krise wurden durch das Krisenregime der EU unter deutscher Führung die letzten Illusionen von einer sozialen, solidarischen und demokratischen Union abgeräumt. Ein starker Riss zwischen Arm und Reich wurde sowohl zwischen den Staaten als auch innerhalb der Staaten in Europa unübersehbar. An die Stelle der Politlyrik von der „Europäischen Solidarität“ trat die brutale Prosa von der „Konkurrenz als ökonomischen Überlebensprinzip“.
Der wachsenden Skepsis gegenüber einer solchen EU werden seitens der herrschenden Eliten opulente Bilder entgegengehalten. Das „europäische Abendland“ als Hort von Kultur und Demokratie (dafür sind dann auch die Griechen gut – allerdings die antiken). Europa, die „Geburtstätte der Menschrechte“ infolge der Aufklärung und der französischen Revolution.
Die EU als „Friedensprojekt“ und „Wohlstandsinsel“. Auch wenn man Teilen davon zustimmen kann, handelt wes sich bei dieser Erzählung doch um historische Rosinenpickerei. Zu diesem Europa gehören auch Kreuzzüge, Kolonialismus und Neokolonialismus, Weltkriege, Faschismus, Rassismus und Imperialismus.
Gerade in der Auseinandersetzung oder in Konflikten mit anderen Kulturen (Islamische Länder) oder mit anderen politischen Einflusssphären bzw. Wirtschaftsordnungen (z. B. China, Russland) ist in den letzten Jahren ein zunehmender europäischer Chauvinismus feststellbar, der mit dieser Hochglanzfolie arbeitet und vorrangig von den politischen Eliten und sog. Leitmedien betrieben wird. Die Berichterstattung zu der Krise in der Ukraine ist ein gutes Beispiel dafür.
Man könnte die These aufstellen, je größer im Verlauf der europäischen Krise die Zweifel an der EU werden und je mehr sich in Reaktion darauf nationalistische Tendenzen verstärken, um so mehr wird versucht, den nationalen Chauvinismus durch einen europäischen zu ersetzen. Ob das gelingt, ist allerdings fraglich.
Das Wohlstandversprechen der Europäischen Union
Die größte Diskrepanz zwischen ideologischer Erzählung und gesellschaftlicher Realität eröffnet sich im Bereich der ökonomischen Versprechen.
Im Jahre 2000 erklärten die Staats- und Regierungschefs in der Erklärung von Lissabon vollmundig, die EU bis 2010 „zu dem dynamischsten, wettbewerbsfähigsten, wissensbasiertesten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, mit dauerhaften Wachstumsraten, mehr und besseren Arbeitsplätzen, größeren sozialen Zusammenhalt.“
Um dieses Ziel zu erreichen, heißt es sinngemäß weiter, „müssten zuerst die Bedingungen für die Unternehmen verbessert, der Binnenmarkt vollendet, die Öffnung bislang abgeschirmter Sektoren erreicht werden sowie die Anpassungsfähigkeit der Arbeitnehmer erhöht werden“. Dieser Logik folgte die Agenda 2010.
Schaut man heute im Jahre 2014 auf diese Proklamation aus dem Jahre 2000, so erscheint sie vor dem Hintergrund einer langjährigen Rezession in der EU und einer dramatischen Arbeitslosenquote, die in Südeuropa bei Jugendlichen über 50% liegt, als der reinste Hohn.
Der verzweifelte Versuch der Eliten, die europäische Krise zu einer Staatsschuldenkrise umzudeuten und damit weitere soziale Einschnitte zu begründen, kann eigentlich nur bei Menschen mit Erinnerungsstörungen erfolgreich sein. Den meisten ist vermutlich noch in Erinnerung, dass die größte Finanz- und Wirtschaftskrise seit den dreißiger Jahren 2008 von Banken ausgelöst wurde. „Notleidende Banken“ wurden fast über Nacht zu „systemrelevant“ erklärt und von den Staaten mit riesigen Summen „gerettet“. In Anlehnung an die DLRG sollten wir uns alle als DBRG (Deutsche Banken Rettungsgesellschaft) empfinden. Wer hilft nicht gern Notleidenden? Doch bei dieser „Rettungsaktion“ wurde die Bevölkerung in doppelter Weise über den Tisch gezogen. Einmal, indem die Steuermittel zu Bankensanierung missbraucht werden. Zum anderen sollen die so entstandenen Staatschulden durch tief greifende soziale Einschnitte ausgleichen werden.
Die Ideologie von der Staatsschuldenkrise wird hartnäckig von fast allen Medien, Politikern und Wirtschaftswissenschaftlern mit dem Hinweis weiterverbreitet, „wir alle hätten über unsere Verhältnisse gelebt und könnten uns einen so teueren Staat nicht mehr leisten“. Diese „Logik“ dient auf der Basis gesetzlicher Schuldenbremsen auch als ideologisches Einfallstor für weitere künftige Kürzungen vor allem in den Bereichen der Infrastruktur- Gesundheits- und Sozialpolitik.
Mit der Erzählung von der Staatsschuldenkrise wird zugleich verschleiert, dass es auf den Märkten schon vor 2008 Kapitalverwertungs- und Absatzprobleme gab und der vermeintliche Ausweg über Massenkredite und die ungebremste Zockerei im Finanzmarktcasino zu einer weltweiten Krise führte. Es handelte sich also in diesem Zusammenhang nicht um Staatsversagen sondern um Marktversagen.
Die Glaubwürdigkeitskrise
Es ist jedoch fraglich, ob diese ideologischen Bocksprünge gerade in den Krisenländern Europas noch in breiten Teilen der Bevölkerung verfangen. Hohe Boni von Bankern „geretteter Banken“, eine sich ständig erweiternde Kluft zwischen Arm und Reich begleitet von einem fortschreitenden Sozialabbau als Folge der europäischen Krisenpolitik lässt vielen das sog. „Europäische Projekt“ inzwischen eher als Bedrohung denn als Hoffnung erscheinen. Solche krassen Widersprüche überfordern selbst die Tragfähigkeit einer herrschenden Ideologie. Ihr Identifikationsangebot wird quasi unglaubwürdig und unattraktiv.
So befindet sich die EU nicht nur in einer ökonomischen sondern auch in einer ideologischen Krise. Dass das nicht zwangsläufig linken, emanzipatorischen Politikansätzen, die ein „Europa von unten“ zum Ziel haben, entgegenkommen muss, steht auf einem anderen Blatt. Leider profitieren zurzeit europaweit vor allem nationalistische und faschistoide Kreise von der Krise. Diese Situation wird von den Propagandisten der herrschenden EU-Politik dazu benutzt, grundsätzliche linke Kritik an der EU als „antieuropäisch“ oder als „nationalistisch“ zu diskriminieren. Das wurde u. a. bei dem Umgang der Mainstreammedien mit dem Entwurf zum Europawahlprogramm der LINKEN deutlich. Darin befand sich der Satz: „Die EU ist eine neoliberale, militaristische und weiterhin undemokratische Macht“.
Dieser Satz löste ein mediales Trommelfeuer aus und führte dazu, dass ihn die LINKE ihn wieder aus dem Programm nahm. Jetzt dürfen sie wieder in der Sandkiste mitspielen – allerdings als Schmuddelkinder. Diese von den Medien zugewiesene Rolle sind sie ja gewohnt. Doch bei mehr Anpassung gibt es auch mehr mediale Anerkennung. „Sie sind erwachsen geworden“, heißt es dann in der Regel oder: „Willkommen im Club!“.
Verlieren Herrschaftsideologien ihre Überzeugungskraft, folgt das Mittel der Diskriminierung und Ausgrenzung. Die Ausgrenzung zielt nicht nur auf die Diskriminierten ab, sondern sie dient auch als Drohpotenzial in Richtung Gesamtgesellschaft nach dem Motto: „Überlegt euch gut, ob ihr zu den Anderen gezählt werden wollt“. Reicht auch dieser Mechanismus nicht, bleibt letztlich bei offenem Widerstand und Protest noch der Polizeiknüppel.
Bei alledem ist die ideologische Krise der EU auch eine Chance für linke Parteien und soziale Bewegungen. Das setzt allerdings ihre Bündnisfähigkeit auf nationaler und europäischer Ebene voraus sowie alternative europäische Perspektiven, die gesellschaftlich anschlussfähig sind. Diese Anschlussfähigkeit vermittelt sich allerdings nicht nur durch Programme und Argumente sondern auch durch eine solidarische Kultur in Selbsthilfeprojekten wie in Griechenland und Spanien, in Protest- und Widerstandsaktionen und in Kulturveranstaltungen. Die Auseinandersetzung mit Herrschaftsideologien läuft nicht nur über den Kopf! Sie ist nicht nur eine bloße Machtfrage sondern auch eine Frage nach einer alternativen Lebenseinstellung und Kultur.
Andreas Meyer
P.S. Auch diesem Artikel liegt nach dem Verständnis des Autors eine Ideologie zugrunde. Die Plausibilität der Argumentation kann nur der Leser prüfen. Wie sollte es anders sein?