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Zur deutschen Flüchtlingspolitik:

„Willkommen“ war gestern

Rathaus

In der Ratsversammlung am 17. 9. vor der Räumung  Fotos: gst

01. Oktober 2015 Voraussichtlich eine Million Flüchtlinge macht sich in diesem Jahr aus Kriegsgebieten und Armutszonen auf nach Deutschland, eines der reichsten Länder Europas. Sie fliehen vor tödlichen Gefahren, Elend und gesellschaftlicher Diskriminierung mit der Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft in diesem Land. Auf dem Weg in die erhoffte bessere Zukunft ertrinken Tausende von ihnen im Mittelmeer, ersticken in Containern oder stranden in Elends-quartieren. 

„Willkommenskultur“ und deutsche Flüchtlingspolitik

Es ist sehr erfreulich, dass den brennenden Flüchtlingsunterkünften und dem braunen Sumpf von Pegida & Co eine große Menge von Menschen gegenübersteht, die freundlich und hilfsbereit auf die Flüchtlinge zugeht. Ohne die vielen freiwilligen Helfer würde ihre Aufnahme im völligen Chaos versinken. Das ist ein Armutszeugnis für die staatliche Flüchtlingspolitik, die den Eindruck erweckt, es handele sich bei der wachsenden Zahl flüchtender Menschen um eine Naturkatastrophe, auf die man nicht vorbereitet sei. Inzwischen reagiert der Staat wieder mit Abschreckung und Grenzschließung. Ein neuer Gesetzesentwurf des Innenministeriums sieht die schärfsten Leistungseinschränkungen für Flüchtlinge vor, die es in der Bundesrepublik je gab.

Nach diesem Entwurf sollen unter anderem sogenannten Dublin-Flüchtlinge nur noch mit Wegzehrung in das Land zurückgeschickt werden, in dem sie zuerst die EU betraten. Sie haben nicht einmal mehr einen Anspruch auf ein Bett oder ein Dach über dem Kopf. Menschen aus sogenannten sicheren Herkunftsländern müssen nach diesem Entwurf in Zukunft drei statt sechs Monate in den Erstaufnahmelagern bleiben und erhalten nur noch Sachleistungen statt Bargeld. „Willkommen“ war gestern!

Dennoch wird das Engagement vieler freiwilliger Helfer von Politikern und Medien patriotisch als „Willkommenskultur“ gegenüber anderen europäischen Ländern vermarktet. Eine solche Selbstdarstellung ist völlig absurd, da die deutsche Politik einen erheblichen Anteil an den Ursachen der Fluchtbewegungen hat. Hier sei nur stichwortartig auf den Afghanistankrieg, den Krieg gegen Jugoslawien, die indirekte Unterstützung der USA im Irakkrieg und auf eine neokoloniale Handelspolitik gegenüber afrikanischen Staaten im Rahmen der EU verwiesen. Darüber hinaus hat sich Deutschland in der Vergangenheit über das Dublin-Abkommen gegenüber Flüchtlingen weitgehend abzuschotten versucht. Dieser Zusammenhang wird in der Regel von der herrschenden Politik verschwiegen und passt nicht in das Bild der „deutschen Willkommenskultur“. Zu den Ursachen wäre noch viel zu sagen, doch hier geht es mehr um den Umgang von Staat und Gesellschaft mit den Flüchtlingen, die heute und hier ein besseres Leben suchen.

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Der „geographische Wall“ des Dublin-Abkommens ist gebrochen

Hofften unsere Regierungen, sich das „Flüchtlingsproblem“ durch das vor allem von Deutschland angestrebte Dublin-Abkommen vom Hals zu halten, so ist die jetzige Regierung damit konfrontiert, dass die in diesem Abkommen vorgesehen Dämme nicht mehr halten. Das Abkommen sieht unter anderem vor, dass Flüchtlinge in den Ländern einen Antrag auf Asyl stellen müssen, in denen sie zuerst den Boden der EU betreten. Das betrifft also die Länder mit EU-Außengrenzen. Diese Regelung ist für Deutschland sehr komfortabel, weil es – außer zur Schweiz – keine EU-Außengrenzen hat. Unter den derzeitigen Verhältnissen, in denen sich Millionen Menschen auf der Flucht nach Europa befinden und vorwiegend in den reicheren Norden wollen, ist es verständlich, dass Griechenland, Italien und auch Ungarn wenig Interesse daran haben, als geographischer Wall für den eher prosperierenden Norden zu dienen. Gerade Griechenland hat durch die katastrophalen Folgen des EU-Krisenregimes genug eigene soziale und wirtschaftliche Probleme.


Die Bilder vom Umgang der ungarischen Behörden mit den Flüchtlingen sind erschreckend. Doch bevor man als „hilfsbereite/r Deutsche/r“ empört über die „bösen Ungarn“ herzieht, sollte man wissen, dass sich pro Kopf der Bevölkerung in Ungarn als „Transitland“ die meisten Flüchtlinge in der EU befinden. Es sind viermal mehr als in Deutschland. Die meisten von ihnen wollen weiter nach Österreich oder Nordeuropa. Noch 2013 lehnte Deutschland einen Solidaritätsmechanismus, der die Länder an den EU-Außengrenzen entlasten sollte, ab. Heute gehört die Forderung nach „europäischer Solidarität“ zu den Standardfloskeln deutscher Politik.

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Doch inzwischen pfeifen viele EU-Länder auf das Dublin-Abkommen und lassen die Flüchtlinge dort hinziehen, wo sie hinwollen. So kommen zunehmend mehr von ihnen voller Hoffnungen in dem vermeintlich „gelobten Deutschland“ an. Nach einer kurzfristigen Grenzöffnung für die vielen auf der Flucht befindlichen Menschen löste deren wachende Zahl in Verbindung mit der unzureichenden und chaotischen Aufnahmesituation in vielen Städten und Gemeinden bei der herrschenden Politik geradezu eine Panik aus. So ließ Innenminister de Maizière für die Nachbarländer völlig unvorbereitet die Schlagbäume fallen und führte wieder Grenzkontrollen ein. Darauf reagierte die österreichische Regierung ebenfalls mit Grenzkontrollen und Ungarn schottet sich inzwischen komplett mit hohen Zäunen und Nato-Draht ab. Ziel dieser ganzen Maßnahmen ist es, wieder möglichst viele Flüchtlinge erneut an die EU-Außengrenzen in große Auffanglager abzudrängen. Bedenkt man, dass in der Türkei zwei Millionen Flüchtlinge leben und in den Massenlagern im Libanon und Jordanien ebenfalls über drei Millionen Menschen aus Syrien und dem Irak untergebracht sind, so erscheint die Flüchtlingspolitik der EU als brutal abweisend.

Das Zweiklassensystem für Flüchtlinge

Wachsende Flüchtlingszahlen sind nicht nur die Folge aktueller Kriege und Konflikte, sondern auch Ausdruck einer globalen Wanderbewegung. Menschen, denen in ihrem Lebensraum kein erträgliches Leben mehr möglich ist, die in Elend und Armut leben und für sich und ihre Familien keine Perspektive mehr sehen, machen sich auf den Weg in Städte, Regionen und Länder, mit denen sie die Hoffnung auf ein besseres Leben verbinden. Sie haben nichts mehr zu verlieren, riskieren eine Menge und lassen sich nicht so schnell von Paragraphen und Zäunen abhalten.

Dass ihre Hoffnungen sehr oft in Slums oder durch staatliche Gewalt und gesellschaftliche Diskriminierung zerbrechen, ist eine humanitäre Tragödie. Besonders vor diesem Hintergrund ist ein Zweiklassen-System von „politisch verfolgten Flüchtlingen“ und “Armutsflüchtlingen“ nicht nur moralisch angreifbar, sondern auch völlig sinnlos. Richtig zynisch wird es, wenn man die Flüchtlingsfrage unter dem Aspekt betrachtet, „wer ist für unsere Volkswirtschaft profitabel?“ und „wer liegt uns auf der Tasche?“

Politiker und Arbeitgeberverbände weisen immer wieder darauf hin, dass aufgrund eines vermeintlichen Facharbeitermangels und der demographischen Entwicklung die Flüchtlinge für unser Land auch eine Chance bieten. Damit sind in erster Linie gut qualifizierte und möglichst schnell integrierbare Flüchtlinge gemeint. Dazu gehört beispielsweise ein Teil der hier angekommenen syrischen Flüchtlinge. Sie sprechen Englisch und konnten ihre Flucht mit hohen Geldbeträgen bezahlen. Viele Menschen, die vor Armut, Diskriminierung und Elend aus den Balkanstaaten fliehen, sind in der Regel dagegen schlechter ausgebildet. Als „Facharbeiter“ sind sie wesentlich „kostenaufwändiger“ zu integrieren und kommen auf dem Arbeitsmarkt bestenfalls als Tagelöhner oder in illegalen, schlecht bezahlten Jobs unter. Aufgrund dieser Verhältnisse sind viele von ihnen auf staatliche Hilfe angewiesen. Ähnliches gilt für einen Teil afrikanischer Flüchtlinge.

Es geht hier nicht darum, die Aufnahmebereitschaft gegenüber gut qualifizierten syrischen Flüchtlingen zu hinterfragen. Schließlich fliehen sie vor einem grausamen und langjährigen Krieg mit über zweihunderttausend Toten. Es geht vielmehr darum, die Ungleichbehandlung von Menschen zu kritisieren, die sich aus existenziellen Gründen auf der Flucht befinden. Faktisch werden sie nach dem Kriterium der Profitabilität bzw. des Kostenaufwands ein- bzw. aussortiert. Dafür sind die Definitionen des „sicheren Drittstaates“ oder des „sicheren Herkunftslandes“ für die herrschende Politik wichtige Instrumente. Menschen, die nach Ansicht unserer Regierung nicht aus Kriegsgebieten oder Staaten mit politischer Verfolgung kommen, werden bis auf Ausnahmen abgeschoben. Das gilt in Zukunft für die gesamten Balkanstaaten, Pakistan und mehrere afrikanische Staaten.
 
Flüchtlinge und gesellschaftliche Konfliktpotenziale

Zwischen den Polen der „Willkommenskultur“ einerseits und dem braunen „Pegida-Sumpf“ andererseits gibt es vermutlich eine „schweigende Mehrheit“, die verängstigt und verunsichert auf die verstärkte Flüchtlingsbewegung reagiert. Das ist angesichts der Berichterstattung in den Medien, der Flüchtlingspolitik unserer Regierung und der sozialen Spaltung in diesem Land nachvollziehbar. Tagein, tagaus berichten Zeitungen, Fernsehen und Radio ständig von neuen Rekordzahlen flüchtender Menschen. Von morgens bis abends beschäftigen sich Sondersendungen, Talk-Shows, Kommentare und Nachrichten mit diesem Thema. Die Welt scheint nur noch aus Flüchtlingen zu bestehen. Allein dadurch entsteht der Eindruck, dass Deutschland von „Flüchtlingswellen überschwemmt“wird. Inzwischen vollzieht sich nach der medialen „Willkommenskultur“ eine Trendwende. Es wird berichtet, dass längst nicht alle Flüchtlinge in den letzten Wochen aus Syrien kamen und möglicherweise auch etliche Salafisten oder potenzielle Terroristen darunter sein könnten. Weiterhin wird deutlich, dass es bei der Aufnahme nicht nur um leere Hallen, Feldbetten und Kleidersammlungen geht, sondern auch um erhebliche Folgekosten für günstigen Wohnraum, Eingliederungsmaßnahmen und angemessenen Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten für die geflohenen Menschen, die auf Dauer hier leben wollen.

In diesem Zusammenhang reden viele Politiker pathetisch von „historischen Herausforderungen“, sind aber nicht bereit, mit ausreichenden Finanzmitteln „historisch“ auf diese Situation zu reagieren. Die aktuell vom Bund zugesagten sechs Milliarden Euro bezeichnen die Kommunen schon jetzt als einen Tropfen auf den heißen Stein. Das sind nicht einmal 2% des Bundeshaushalts. Für die deutsche Bankenrettung wurden knapp 400 Milliarden Euro entweder direkt oder als Garantien zu Verfügung gestellt. Die ökonomisch völlig sinnlosen Kreditvergaben für Griechenland betragen für Deutschland über 80 Milliarden. Der deutsche Staat hat im Verlauf der sogenannten Eurokrise fast 100 Milliarden Euro durch Zinsgewinne bei Staatsanleihen eingenommen. Soviel zu den Relationen und dem Umgang mit der vermeintlich „historischen Herausforderung“.

Wenn Herr Schäuble darüber hinaus in den Haushaltsberatungen sagte, dass die Ausgaben für die steigende Anzahl von Flüchtlingen zwar vorrangig seien, die „schwarze Null“ als Haushaltsziel aber erhalten bleibt, fragt sich natürlich jede und jeder, auf wessen Kosten eine Haushaltsumschichtung gehen wird. Auf Kosten der Infrastruktur? Auf Kosten von Sozialleistungen?

Genau das schürt Ängste und Verunsicherung bei denen, die am meisten auf diese Ausgaben angewiesen sind. Wenn Gewerkschaften schon jetzt die Arbeitgeber davor warnen, die Not der Flüchtlinge für Lohndumping zu instrumentalisieren, ist das realistisch und verunsichernd zugleich. All das kann von Pegida & Co prima gegen Zuwanderung gewendet werden. So ist dann auch eine ihrer Standardbehauptungen: „Die Flüchtlingswelle geht auf Kosten der kleinen Leute in Deutschland.“ Zur Bestätigung dieser Aussage erklärt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler, derzeitiger Star am bürgerlichen Expertenhimmel, im Stern vom 10.9. 2015: „Eine echte Konkurrenz sind die Flüchtlinge für das untere Drittel der Gesellschaft, mit dem sie um staatliche Zuwendungen, Wohnraum, Arbeitsplätze und Frauen (? Verf.) konkurrieren. (…) Aber gesellschaftliche Integration ist nie ein Prozess von Friede, Freude, Eierkuchen. Es gibt immer Verwerfungen.“ „Für die einen mehr, für die anderen weniger“- lässt sich zu diesem zynischen Kommentar nur anmerken. Ähnliches gilt auch für die zu Recht geforderte Toleranz gegenüber anderen Kulturen und Religionen. Es besteht ein großer Unterschied, diese Toleranz moralisch und abstrakt im gutbürgerlichen Milieu weitab von sozialen Brennpunkten einzufordern oder sie im Alltag Tür an Tür mit unterschiedlichen Lebensstilen und kulturellen Gewohnheiten unter prekären sozialen Verhältnissen zu leben.

„Das Boot“ ist nicht voll und Geld ist genug da!

Es erübrigt sich, darüber zu debattieren, ob das Boot voll ist. Deutschland ist problemlos in der Lage, Millionen von Zuwanderern aufzunehmen. Die Gretchenfrage ist, ob das gesellschaftlich akzeptiert und politisch gewollt ist. Zunächst ist einmal festzuhalten, dass in Deutschland lebende Ausländer 22 Milliarden mehr an Steuern und Sozialabgaben zahlen, als an Sozialleistungen für ausländische Bürger aufgebracht werden muss. Dass die völlig unzureichend sind, steht auf einem anderen Blatt. Dennoch erfordert die menschenwürdige Integration einer großen Anzahl von Flüchtlingen auch einen großen Finanzbedarf für bezahlbaren Wohnraum, Arbeitsmarktintegration, Deutschkurse, Kita-Plätze und vieles mehr. Auch das ist theoretisch kein Problem in diesem reichen Land. Das deutsche Bruttosozialprodukt befindet sich auf einem historischen Höchststand.

Der gesellschaftlich Reichtum ist allerdings sehr ungleich verteilt. In den letzten Jahren hat sich die Umverteilung der Vermögen von unten nach oben weiter fortgesetzt. Zweidrittel des gesamten Vermögens konzentriert sich bei den „oberen Zehnprozent“ dieser Gesellschaft. In dieser Vermögensschicht fließen auch gewaltige Erbschaften zu extrem niedrigen Erbschaftsteuern von den Eltern zu ihren Kindern. Kurzum: Warum sollen nicht die Reichen und Wohlhabenden in diesem Land über eine Vermögensabgabe und Vermögenssteuer sowie über die höhere Besteuerung von Erbschaften einen erheblichen Teil der Integrationskosten für Flüchtlinge zahlen? Das erscheint wesentlich angemessener und sozialer, als diese Kosten direkt und indirekt auf das „untere Drittel der Gesellschaft“ abzuwälzen. Auch die vorgeschlagene Umwidmung des „Soli“ zu einem künftigen „Integrations-Soli“ wäre eine sinnvolle Maßnahme.

Es zeigt sich also, dass die „Flüchtlingsfrage“ wesentlich auch eine Soziale- und Verteilungsfrage ist. Eine Politik, die bei anwachsenden Flüchtlingszahlen weiteren Sozialabbau betreibt und viele geflohene Menschen in die Konkurrenz mit dem „unteren Drittel der Gesellschaft“ um Arbeitsplätze und billigen Wohnraum in sogenannten städtische Problemquartiere abschiebt, produziert systematisch weitere Anhänger für Pegida, A.f.D & Co, obwohl es in diesem Land genug Ressourcen gäbe, die allen ein auskömmliches Leben sichern könnten.

Wie lautet die alte Parole der globalisierungskritischen Bewegung so treffend?  – „Es ist genug für alle da!“

(Andreas Meyer)



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