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Der Corona-Schock
Ein bisher unbekanntes Virus schockt die Welt und legt das öffentliche Leben lahm. Ängste und Panik oder auch Verdrängung und Ignoranz sind weit verbreitete individuelle Reaktionen im Umgang mit dem Virus. Unzulängliche und überforderte Gesundheitssysteme, zusammenbrechende Lieferketten und Produktionen, drastische staatliche Einschränkungen des öffentlichen Lebens sind die ökonomischen und politischen Folgen dieser Pandemie. Die Welt scheint außer Kontrolle zu geraten.
Die gesundheitlichen Folgen der Pandemie
Nach den bisherigen Erfahrungswerten und den Aussagen “führender“ Virologen verläuft die Infektion durch Corona für 80 Prozent der Infizierten milde bis harmlos, das heißt maximal vergleichbar mit Grippesymptomen. Für 20 Prozent ist sie mit ernsten Erkrankungen der Atemwege und der Lunge verbunden, von denen 10 Prozent intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Dabei sind die Risikogruppen Menschen mit Vorerkrankungen oder im Alter ab 60 Jahren. Letztlich soll der Coronavirus rund 70 Prozent der Bevölkerung infizieren. Danach ergäbe sich dann eine sog. Herdenimmunität. In Deutschland geht man davon aus, dass 0,5 - 1 Prozent an einer Corona-Infektion sterben werden. Diese Annahme würde bei rund 80 Millionen Einwohner*innen und einem unbegrenzten Verlauf der Infektion am Ende zu 250.000 bis 500.000 Toten führen.
Alle staatlichen Maßnahmen zielen darauf ab, diesen Verlauf so weit wie möglich hinauszuzögern, um unser Gesundheitssystem, das auf eine solche Epidemie in keiner Weise ausreichend vorbereitet ist, nicht zu überlasten. Dazu soll die Stilllegung des öffentlichen Lebens bis hin zur Ausgangssperre dienen.
Soweit die Datenlage und die Begründung der staatlichen Maßnahmen, die wir täglich lesen und hören. Ob die medizinischen Angaben und Prognosen stimmen, ist für Laien nicht überprüfbar. Die Logik, über soziale Isolation die Ansteckungsgefahr hinauszuzögern, damit möglichst wenige Menschen ohne lebensrettende medizinische Versorgung sterben müssen, erscheint dagegen auch ohne medizinische Kenntnisse überzeugend. Das zu leugnen und sein Verhalten nicht zu ändern, wäre daher sehr irrational.
Ängste und Solidarität
Dass der Ausbruch eines bisher unbekannten Virus mit dieser Verbreitungsgeschwindigkeit Ängste auslöst, ist eine völlig normale und gesunde Reaktion. Denn es geht dabei ja nicht nur um die individuell unabsehbaren gesundheitlichen Folgen, sondern ebenso um soziale und wirtschaftliche Probleme, die sehr existenziell werden können. Das Leben mit solchen Ungewissheiten erzeugt einen erheblichen psychischen Stress.
Besonders irritierend ist dabei für viele der Kontrollverlust in einer Welt, in der uns suggeriert wird, dass unsere Machteliten alles unter Kontrolle haben und alles wieder gut werde, wenn wir nur ihren Vorgaben folgen. Doch wenn sich herausstellt, dass es in diesem Land selbst an ganz einfachem hygienischen und medizinischen Material wie Atemschutzmasken, Wattetupfern, Schutzkleidung für medizinisches Personal mangelt, und Tests nur für viel zu wenig Menschen möglich sind, dann sinkt das Vertrauen auf die Ansage, alles unter Kontrolle zu haben.
Auch die am Horizont auftauchende schwerste Wirtschaftskrise in der Geschichte der Bundesrepublik löst berechtigte Ängste aus. Wie unsere Gesellschaft mit diesen Unsicherheiten und Ängsten umgehen wird, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Noch sind wir am Anfang dieser multiplen Krise.
Auf der einen Seite gibt es quasi als Sozialisationsprodukt neoliberaler Ideologie die Ego-Shooter, deren Ziel es ist, sich im allgemeinen Konkurrenzkampf optimal zu positionieren und das meiste rauszuholen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch viele Menschen, die sich solidarisch verhalten und bereit sind, sich beispielsweise ehrenamtlich für andere zu engagieren. Die weit verbreitete Behauptung, dass der Mensch zum Egoisten geboren sei, ist inzwischen durch viele wissenschaftliche Experimente mit Babys und Kleinkindern widerlegt.
Doch der allgemeine Appell von Politik und Medien, sich in dieser Corona-Krise solidarisch zu verhalten, steht im Widerspruch zu den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen in diesem Land.
So erscheint es nicht glaubhaft, wenn dieser Appell von Politiker*innen verkündet wird, die eine große soziale Kluft zwischen Arm und Reich zu verantworten haben und ständig von Konkurrenz und Wachstum reden. Für sie ist Solidarität oft nur ein notwendiger vorübergehender Krisenmodus.
Während sie zurzeit hier Solidarität einfordern, lassen sie an den europäischen Außengrenzen oder auch in Griechenland Tausende von Flüchtlingen unter unsagbaren Umständen im Dreck und in der Kälte vegetieren oder im Mittelmeer ertrinken. Selbst das lächerliche Kontingent von 150 unbegleiteten Kindern und Jugendlichen von griechischen Inseln wird mit Hinweis auf Corona nicht in das Land gelassen. Zu echter Solidarität gehört auch internationale Solidarität.
Corona und das Gesundheitssystem
Kein Gesundheitssystem dieser Welt kann auf große unvorhersehbare Naturkatastrophen wie Erdbeben, Überschwemmungen oder Pandemien mit unbekannten Viren ausreichend vorbereitet sein. Dennoch ist es wichtig, in welchem Zustand ein Gesundheitssystem ist, auf das eine Pandemie trifft. In diesem Zusammenhang werden beim deutschen Gesundheitssystem erhebliche Mängel sichtbar. Durch Privatisierungen und die Einführung der Fallpauschale wurde es seit Jahren auf Effizienz und Profitabilität getrimmt. Krankenhausschließungen und tiefgreifende Sparmaßnahmen sind die Folge dieser Entwicklung. Durch Fallpauschalen werden nur erbrachte Leistungen finanziert, nicht aber das Vorhalten von Betten und Therapiekapazitäten für den Notfall. Nicht mehr der Mensch steht im Mittelpunkt, sondern die Rentabilität und der Profit für die Aktionäre großer Krankenhausgesellschaften.
In Deutschland stehen 28.000 Betten mit Beatmungsmöglichkeiten zur intensivmedizinischen Versorgung zur Verfügung. Das ist bei dem absehbaren Verlauf von Corona mit einer 60-70 prozentigen Infektionsrate der Bevölkerung deutlich zu wenig, zumal etwa 80 Prozent der Betten und Atmungsräte belegt sind.
Doch wesentlicher ist der erhebliche Mangel an Pflegekräften. Schon im Normalbetrieb ist in vielen Intensivstationen aufgrund des Personalmangels der Betrieb nicht mehr aufrecht zu halten. Aufgrund des Personalmangels mussten 2017 nach einer Umfrage auf 76 Prozent der Intensivstationen Betten gesperrt werden.
Eine völlig mangelhafte Personalausstattung und eine hohe Arbeitsbelastung mit unzureichender Bezahlung und geringer Wertschätzung sind die Ursachen für dieses Desaster.
Vor diesem Hintergrund entpuppt sich die immer wiederkehrende breitbeinige Behauptung von Jens Spahn, unser Gesundheitssystem sei hinsichtlich des Coronavirus gut aufgestellt, als wenig glaubhaft und eher als ein Pfeifen im Walde.
Die kommende Wirtschaftskrise
Mindestens ebenso folgenschwer wie die gesundheitlichen Folgen von Corona wird die auf uns zukommende tiefe Weltwirtschaftskrise sein. Auch in Deutschland wird unsere Volkswirtschaft, die sich bereits im Abschwung befindet, durch die Folgen dieses Virus in eine dramatische Krise gestürzt. Der DAX hat seit Januar einen Kursverlust von 32 Prozent, der höchste Verlust seit dem 11. September 2001. Ein deutliches Krisensignal. Die Autoindustrie stellt die Produktion ein und mit ihr die gesamten Zulieferbetriebe. Bei der Lufthansa bleiben über 90 Prozent der Flieger am Boden und auch in Schleswig Holstein schließt das gesamte Hotel- und Gaststättengewerbe. Ebenso müssen bis auf wenige Ausnahmen Einzelhandels- und Großhandelsgeschäfte für unabsehbare Zeit schließen. Das gesamte öffentliche Leben stirbt ab. Selbst die Tafeln als letzte Nothilfe für arme Menschen machen dicht, weil ihre vorwiegend älteren freiwilligen Mitarbeiter*innen zur Risikogruppe gehören. Für dieses Angebot gibt es keinen Ersatz.
Anders als gewöhnlich betrifft diese Krise sowohl die Angebotsseite, weil weniger Produkte hergestellt werden, als auch die Nachfrageseite durch geschlossene Geschäfte und deutliche Einkommensreduzierungen (Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit und Pleiten).
Aber nicht nur die Binnennachfrage wird erheblich sinken, sondern auch die Nachfrage aus dem Ausland. Daher wird diese Krise Deutschland als sogenannten Exportweltmeister besonders hart treffen, weil weltweit viele Absatzmärkte wegbrechen.
Hier wird die gesamte Problematik deutscher Exportorientierung deutlich, die in vielen Fällen auf Kosten anderer Volkswirtschaften geht. Die deutsche Exportquote lag 2018 bei 47 Prozent. Das zeigt die hochgradige Abhängigkeit vom Export. Insgesamt geht selbst das arbeitgebernahe Wirtschaftsinstitut Ifo in diesem Jahr von einem Einbruch unseres Bruttosozialprodukts von 5-6 Prozent aus. Das ist mehr als in der Finanzkrise von 2008/09. Und das ist nur eine Prognose.
Nun kann man als linker und ökologisch orientierte Mensch sagen, endlich verlassen wir das Wachstum und der CO2 Ausstoß sinkt. Doch das wäre unter den gegebenen Verhältnissen und auf Grundlage unseres kapitalistischen Wirtschaftssystems eine sehr naive Annahme. Denn diese Krise wird besonders Menschen mit mittleren und niedrigem Einkommen treffen, und sie wird mit Sicherheit politisch so gemanagt, dass Banken und Großkonzerne als “systemrelevant“ mit milliardenschweren Rettungsprogrammen möglichst unbeschadet aus der Krise hervorgehen. Wir kennen das aus der Finanzkrise von 2008. Dagegen sind viele Menschen in diesem Land vor den Folgen dieser Krise nicht geschützt.
Das Kurzarbeitergeld mit 60 Prozent des Lohns betrifft nur sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Auch ein Einkommensverlust von 40 Prozent ist gerade für Menschen im Niedriglohnbereich untragbar und führt zu Aufstockung durch Hartz IV.
Auf Dauer kann aber auch eine länger drohende Massenarbeitslosigkeit nicht durch Kurzarbeitergeld verhindert werden. Sie ist nur ein Übergangsinstrument. Freiberufler, Klein- und Scheinselbständige landen zum großen Teil in der Arbeitslosigkeit und müssen mit einer Grundsicherung klarkommen.
Bei all diesen Entwicklungen muss man davon ausgehen,dass die tiefste Wirtschaftskrise in der Geschichte der Bundesrepublik auf uns zukommt.
Corona und die Politik
Die europäischen Regierungen, die EU-Kommission und die europäische Zentralbank befinden sich im ständigen Krisenmodus. Dabei geht es darum, europaweit mit Hilfsprogrammen von bisher insgesamt mehr als einer Billion Euro besonders große Konzerne und Banken mit dem Hinweis auf ihre Systemrelevanz zu retten.
Es geht aber auch darum, durch Finanzhilfen für große Teile der Bevölkerung eine Mindestversorgung zu sichern, um die Legitimation als vermeintlicher Sozialstaat nicht völlig zu verlieren. Diese Mindestversorgung liegt auf dem Niveau der Grundsicherung bzw. der Hartz IV - Sätze. Der häufig von Politik und Medien in der Corona-Krise erwähnte Hinweis auf die Systemrelevanz von Pfleger*innen, Kassierer*innen, Zusteller*innen wird sich nach der Krise weitgehend als hohle Phrase entpuppen, um diese Menschen bei der Stange zu halten. Materiell auswirken wird sich diese Anerkennung nicht.
Die finanziellen Hilfsprogramme sind nur mit hohen Staatsverschuldungen möglich. Die gestiegenen Staatsverschuldungen werden nach neoliberaler Logik wiederum bei auslaufender Krise als Begründung für Sparmaßnahmen herhalten, die mit erheblichen sozialen Einschnitten verbunden sind.
Das gilt auch auf der Ebene der EU. Die Europäische Zentralbank hat mit 750 Milliarden Euro ein Finanzierungsprogramm aufgelegt, mit dem sie Staatsanleihen und auch Firmenbeteiligungen kauft. Das rettet möglicherweise große Firmen und auch Italien vor der Pleite. Doch sehr wahrscheinlich werden für hoch verschuldete Staaten weitere notwendige Staatskredite mit harten Sparauflagen belegt, die wie in Griechenland während der Euro-Krise zu weitreichenden sozialen Verwerfungen führen. Gerade Deutschland hat sich bisher knallhart gegen Schuldenerlasse und Staatsfinanzierungen durch die Europäische Zentralbank gewehrt. Da ist dann Schluss mit der Propaganda von der europäischen Solidarität. Genau dieser Konflikt enthält die Zutaten für eine neue Euro-Krise.
Neben der staatlichen wirtschaftlichen Krisenpolitik besteht auch die Gefahr, dass der Staat mit Hinweis auf Corona seine digitalen Überwachungsmöglichkeiten ausbaut. So hat die Telekom massenhaft anonymisierte Bewegungsdaten an das Robert-Koch-Institut weitergeleitet, um das Bewegungsprofil der Bevölkerung zu erkunden. Damit sollte die Wirksamkeit staatlicher Auflagen kontrolliert werden.
In Spanien überfliegen Drohnen mit Kameras Passanten und fordern sie auf, nach Hause zu gehen. Es ist gut denkbar, dass später im Zeichen der Terrorismusfahndung oder ähnlicher Anlässe diese Überwachungen üblich und ausgebaut werden und die Anonymisierungen wegfallen.
Eine weitere problematische Begleiterscheinung in der von Corona ausgelösten Krise besteht darin, dass dieses Thema alle anderen wichtigen politischen Themen überlagert (z. B. Klimawandel, Aufrüstung, das brutale europäische Grenzregime gegenüber Flüchtlingen etc.).
Diese Entwicklung ermöglicht es der herrschenden Politik quasi hinter einem “Corona-Vorhang“, Entscheidungen zu treffen, die unter normalen Umständen auf Widerstand gestoßen wären.
Bei einem gesellschaftspolitischen Blick auf die Corona-Krise wird nicht nur die große gesundheitliche Bedrohungen mit allen notwendigen Einschränkungen für die Bevölkerung sichtbar. Durch diese Epidemie werden erneut dringend notwendige Veränderungen unseres ökonomischen und politischen Systems deutlich.
In diesem Zusammenhang sollen hier nur zwei wesentliche genannt werden:
- Ein gut ausgestattetes Gesundheitswesen (Krankenhäuser, Kliniken, Reha-Einrichtungen, Altersheime Senioren-Einrichtungen), das als grundlegende Daseinsvorsorge der Profit-Logik entzogen und vergesellschaftet werden muss.
- Ein armuts- und krisenfestes Grundeinkommen, das auch Menschen ein menschenwürdiges Leben sichert, die nicht auf große Vermögen zurückgreifen können.
Es bleibt zu hoffen, dass durch die Erfahrungen mit dieser Krise das gesellschaftliche Klima für solche Forderungen offen und der politische Druck so hoch wird, dass sie sich durchsetzen lassen.
(Andreas Meyer)