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Flüchtlingsrat SH zum migrationspolitischen Teil des AMPEL-Koalitionsvertrags: 

Innovationen bei der Flüchtlingsintegration versus Kontinuität bei der Aufenthaltsbeendigung 

Die Ampel kündigt einen Paradigmenwechsel beim Familiennachzug Geflüchteter, beim Bleiberecht, bei Arbeitsverboten und bei der Beschäftigungsintegration Geduldeter an. Für Besorgnis sorgt indes, dass die alte Linie bei Kasernierung neuzugewanderter Asylsuchender und bei der Abschiebungspolitik offenbar verstetigt werden soll. 

Der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein begrüßt es sehr, dass die Ampel-Koalition die Politik unterschiedlich ausgestalteter Flüchtlingsstatus beenden will. Subsidiär Geschützte sollen endlich mit Genfer Konventions-Flüchtlingen rechtlich gleichgestellt werden.

Nach Verlauten beinhaltet die im Ampel-Koalitionsvertrag avisierte Abkehr vom Konzept der AnkER-Zentren allerdings nicht das Ende der 18 bis 24-monatigen Wohnverpflichtung neu einreisender Asylsuchender in Erstaufnahmelagern. Damit fände das System der früh angelegten sozialen und gesellschaftlichen Isolierung Schutz suchender Menschen und Familien auch in der nächsten Legislaturperiode seine Fortsetzung, kritisiert der Flüchtlingsrat.

Die Ankündigung, die Opfer häuslicher Gewalt und von Menschenhandel aufenthaltsrechtlich besser abzusichern ist aller Ehren wert. Aber fast 50 Prozent der Asylsuchenden sind inzwischen weiblich. Die Tatsache, dass jedoch weiterhin eine frauenspezifische Flüchtlingspolitik ausbleibt, die auf die u.a. rechtlichen Bedarfe von Frauen abzielt, die durch Fluchtgründe und -wege traumatisiert, im Asylverfahren benachteiligt, durch fehlende Schutzkonzepte in den Lagern gefährdet und im Erleben eines rassistischen Alltags und der oft alleinigen Familienfürsorge mehrfach belastet sind, stellt eine aus Sicht des Flüchtlingsrats dringend zu kompensierende Leerstelle in der Ampel-Flüchtlingspolitik dar. 

Positiv aber sei, dass offenbar das Monopol des Asyl-Bundesamtes auf die Verfahrensberatung der Asylbewerber*innen zerschlagen werden soll. Eine „flächendeckende, behördenunabhängige Asylverfahrensberatung“, wie sie die Ampel jetzt ankündigt, fordern Fachverbände und Flüchtlingsräte schon lange. 

„Dass das Asylbewerberleistungsgesetz nach bald 10 Jahren regierungsamtlicher Missachtung des Bundesverfassungsgerichts nun doch novelliert und – so hoffen wir – die Verwaltungspraxis grundrechtskonform umgestaltet werden soll, ist eine gute Nachricht“, erklärt Martin Link, Geschäftsführer beim Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein. Hier gelte es aufmerksam zu beobachten, ob es der Ampel wirklich gelingen wird, der Unteilbarkeit der Menschenwürde ultimativ Rechnung zu tragen und der bis dato regelmäßigen sozialen Diskriminierung von Schutzsuchenden ein Ende zu bereiten. 

„Wir begrüßen sehr, dass jungen Geflüchteten und auch langjährig Geduldeten per Verkürzung der Wartefristen Brücken in das Bleiberecht geschlagen und bestehende gesetzliche Hürden – wie die ‚Duldung light‘ und ausländerrechtliche Arbeitsverbote abgeschafft werden sollen“ freut sich Astrid Willer, Koordinatorin des Arbeitsmarktnetzwerkes für Geflüchtete Alle an Bord! beim Flüchtlingsrat. Auch die vorgesehene Öffnung der Integrationssprachkurse ist ein wichtiger und lange überfälliger Schritt, um überhaupt die Möglichkeit für gesellschaftliche und arbeitsmarktliche Teilhabe zu schaffen.

Dass sich die Ampel-Koalition bei einer Bleiberechtsregelung allerdings für eine Stichtags- anstatt für eine regelmäßige gesetzliche Regelung entschieden habe, sei für den Rat ein Wehrmutstropfen. Doch noch besorgter ist Martin Link darüber, „dass Menschen, die nicht zuletzt jahrelang mittels lebensalltagsfeindlicher Kettenduldungsfristen an einer erfolgreichen Arbeitsmarkt-Integration gehindert worden sind, nun die Verstetigung der auf Probe zugestandenen Aufenthaltserlaubnis riskieren, wenn sie bei der Lebensunterhaltssicherung möglicherweise keinen Senkrechtstart hinbekommen“. Hier halte die allgemeine und erst recht die Corona bedingt schwierige Arbeitsmarktlage einige Stolpersteine für die Betroffenen bereit.

Der Koalitionsvertrag macht getrennten Familien Hoffnung: Die Verbesserung bei den Rechtsgrundlagen und die vorgesehene Beschleunigung beim Familiennachzug bedeuten, dass die jahrelange Trennung Geflüchteter von ihren Familien absehbar ein Ende haben wird. „Doch nach der dringend notwendigen Novellierung des Rechts geht die Arbeit erst richtig los. Im Auswärtigen Amt und seinen Auslandsvertretungen muss sowohl für schnellere, digitale und unbürokratische Abläufe, aber auch für eine künftig nachhaltig aufgeschlossene Haltung gegenüber den Anliegen der Antragstellenden gesorgt werden“, mahnt Axel Meixner, Jurist und Rechtsberater beim Flüchtlingsrat.  

„Dass der Bund künftig neben den dezentralen Angeboten der Migrationsberatung auch die Arbeit der ‚Migrantenorganisationen angemessen fördern‘ will, ist für viele der größtenteils ehrenamtlich arbeitenden Organisationen sicher ein Lichtblick.“ schätzt Ludmilla Babayan, beim Flüchtlingsrat im Projekt Souverän zuständig für Angebote zur Unterstützung von Migrant*innenorganisationen im Bundesland. Diese bundespolitische Wertschätzung der Rolle der Migrant*innenorganisationen beim Ziel, einen größeren Zusammenhalt in der Einwanderungsgesellschaft zu erreichen, kommt im 60. Jahr des Anwerbeabkommens spät, aber nicht zu spät.

„Dass weiterhin Kranke und Traumatisierte abgeschoben werden können, stimmt uns allerdings sehr bedenklich“, erklärt Martin Link. Abschiebungen in Kriegs- und Krisengebiete werden im Koalitionsvertrag nicht klar ausgeschlossen. Insgesamt scheint die Ampel-Politik auf mehr Abschiebung, denn auf weniger angelegt. Dass die ‚freiwillige Ausreise stets Vorrang habe‘, ist dabei nichts Neues. Dass die staatliche Rückkehrförderung finanziell besser ausgestattet werden soll, hatte auch die alte Bundesregierung schon im Plan. „Ob denn die oberste Bundesbehörde – d.h. das nach Verlauten künftig SPD-geführte Bundesinnenministerium – tatsächlich Gebrauch machen wird von den im Koalitionsvertrag ‚angestrebten temporären nationalen Abschiebungsstopps‘, ist noch nicht ausgemacht“, vermutet Axel Meixner.

Bei der europäischen Dimension künftiger deutscher Flüchtlingspolitik überwiegt im Koalitionsvertrag die Uneindeutigkeit. Schon die seit Wochen stattfindenden rechtwidrigen Rückschiebungen ins belarussische Elend durch polnische Grenzschützer hatten die verhandelnden Koalitionäre nicht infrage gestellt, aber – wie jetzt auch im Koalitionsvertrag – betont, dass die EU und Deutschland nicht erpressbar sein dürften. Da bleibt es wohl bezüglich des im Koalitionsvertrag abgegebenen Versprechens, die „illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden“ zu wollen, für die solidarische Zivilgesellschaft gegenüber der neuen Bundesregierung ständige Pflichtübung, ein konsequentes Einlösen regelmäßig einzufordern. 

Die Ampel-Koalition will mit mehr Relocation die visafreie Binnenmigration von in den EU-Frontstaaten aufgenommenen Flüchtlingen bekämpfen. Doch 80 Prozent der in den vergangenen Jahren über das Relocation-Programm in Deutschland Aufgenommenen, sind nach negativer Asylentscheidung längst wieder in ihre Heimatländer abgeschoben worden. „Wenn sich an dieser Praxis des rechts-kosmetischen Drehtür-Missbrauch der Relocation-Idee nichts ändert, wird sich das Ampel-Versprechen, auf diesem Wege ‚die Bedingungen für Geflüchtete in ihren Ländern zu verbessern‘ in heiße Luft auflösen“, befürchtet Martin Link

„Ob das rote Kanzleramt, das ebenfalls rote Innen- und das grüne Außenministerium künftig zu wirksamem Druck auf andere EU-Staaten bereit sein werden, Schutzsuchende die Grenzen passieren zu lassen und den Zugang zum Recht in allen Mitgliedsstaaten zu ermöglichen, wird zur Nagelprobe für die europa-flüchtlingspolitische Glaubwürdigkeit der Ampel-Regierung werden“, ist Martin Link überzeugt.

„Immerhin bietet das Ampel-Bekenntnis zur Schaffung von mehr legalen Einreisemöglichkeiten auch Perspektiven für endlich erfolgreiche Landesaufnahmestrategien“, erklärt Martin Link mit Blick darauf, dass der bisherige Bundesinnenminister solchen Anliegen der Länder regelmäßig die Zustimmung verweigert hat. Der Flüchtlingsrat hofft, dass die Landesregierung Schleswig-Holstein noch in der laufenden Landeslegislaturperiode der neuen Bundesregierung mit dem Anliegen eines Afghanistan-Angehörigen-Landesaufnahmeprogramms auf den Zahn fühlen wird. 

Presseerklärung des Flüchtlingsrat, Kiel, 25.11.2021 gez. Martin Link