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Dokumentation Ostermarsch:

Redebeitrag von Dr. med. Mechthild Klingenburg-Vogel für die IPPNW

Liebe um den Frieden Besorgte!

Der Krieg in der Ukraine erschüttert uns hier in Deutschland mehr als andere Kriege in der Welt. Nicht, weil er der erste Krieg in Europa nach 1945 wäre – 1999 gab es den Kosovokrieg der NATO gegen Serbien – sondern weil wir uns offensichtlich hier stärker in das Leid der von den furchtbaren Zerstörungen betroffenen Menschen einfühlen können. Dies löst eine überwältigende Welle großer Hilfsbereitschaft und Solidarität aus.
Als Mutter zerreißt es mir das Herz, wenn ich an die Vernichtung, an die Verkrüppelung und Beschädigung von so viel hoffnungsvollem Leben, von so viel hoffnungsvoller Zukunft denke!
Wie viele in der Friedensbewegung fühle ich mich durch den russischen Angriffskrieg überrumpelt und in meinen pazifistischen Überzeugungen verunsichert.
Stimmt es denn, dass gewaltfreier Widerstand nicht nur deutlich weniger Opfer fordert als militärischer Widerstand, dass gewaltfreier Widerstand nachhaltiger und erfolgreicher ist? Dass gewaltfreier Widerstand auch gegen einen autokratischen Despoten eine Chance hat, wie dies der Friedensforscher Oliver Müller vertritt? Was hätte das für die Ukraine bedeutet?
Ist es nicht naheliegend, dass, wenn man mit Gewalt angegriffen wird, man sich mit Gewalt wehren will? Haben die Abschreckungsbefürworter, diejenigen, die jetzt Aufrüstung fordern doch Recht, dass es gegen einen aggressiven Gegner eine Politik der Stärke braucht? Jedenfalls bestimmen sie derzeit die öffentliche Meinung und das politische Handeln.

Die Friedensbewegung schreit NEIN! STOPPT dieses sinnlose Blutvergießen!

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Ist das naiv? Nein! Krieg kann nie eine dauerhafte Lösung von Konflikten sein. Insbesondere darf Krieg im Zeitalter eines drohenden Atomkriegs kein Mittel der Politik sein! Wir wollen nicht das Schlachtfeld von Kämpfen um Dominanz, geopolitische Einflussbereiche und wirtschaftliche Macht sein! Menschen sind keine Schachfiguren!

Der Verlauf eines Krieges ist nie vorhersehbar, je länger er dauert, umso mehr droht er zu eskalieren und brutaler zu werden. Auch wenn wir in diesem David-gegen-Goliath-Kampf auf der Seite der Angegriffenen, der Ukraine sind, was passiert, falls Putin - in die Enge getrieben - zum Äußersten greift? Wenn er die - verharmlosend - als „klein“ bezeichneten, strategischen Atombomben einsetzen würde? Käme es dann zum atomaren Schlagabtausch? Ist es den Befürwortern der deutschen nuklearen Teilhabe klar, dass Deutschland durch als wichtiges Kommando- und Versorgungszentrum zum atomaren Schlachtfeld werden wird? Atomkrieg muss geächtet werden, wie es der Atomwaffenverbotsvertrag fordert.

Der Rüstungswettlauf verschlingt Unsummen an Mitteln, die dringend für die Lösung globaler Probleme gebraucht würden. Wir können uns angesichts der drohenden Klimakatastrophe einfach keinen Krieg mehr leisten! Militär und Rüstungsindustrie sind massivste Klimakiller! Und der Wiederaufbau der Zerstörungen verbraucht wertvolle Ressourcen und verursacht Unmengen an CO2! ...

Die Bilder über die Kriegsgräuel lösen heftige Empörung und den Ruf nach Gegenwehr, nach immer mehr Waffen für die mutigen Verteidiger aus. Diese Bilder führen zu heftiger Emotionalisierung, das ist auch ihr Zweck. Diese Emotionalisierung fordert schnelles Handeln, eine „Zeitenwende“ in der bisherigen Überzeugung, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern, da dadurch Kriege nur verlängert werden. Aber kann man die Menschen in der Ukraine ungeschützt dem russischen Angriff ausgeliefert lassen? Wäre das nicht „unterlassene Hilfeleistung“?

In diesem furchtbaren Dilemma beobachte ich eine besorgniserregende Spaltung in ein entlastendes Schwarz-Weiß und Freund-Feind-Denken, das sogar persönliche Beziehungen zerbrechen lässt. In den Diskussionen und Stellungnahmen zeigt sich eine beunruhigende Militarisierung und Verrohung der Sprache.

Es scheint so ein gutes Gefühl, auf der Seite der moralisch „Guten“ zu sein, derer, die sich im Recht fühlen und die Putin als Inkarnation des Bösen und mit ihm häufig „die Russen“ als barbarisch verteufeln. - Können wir im Westen uns wirklich auf das moralisch hohe Ross setzen?

Das Wissen um von der eigenen Seite begangene, das Völkerrecht missachtende Kriege und Kriegsverbrechen schmälert in keiner Weise die Verurteilung russischer Kriegsverbrechen. Ist jede Frage, die die Ursachen dieser Entwicklung verstehen will, nach möglichen Weichenstellungen sucht, Verrat an den Opfern dieses eindeutig völkerrechtswidrigen Angriffskrieges? Man ist in Gefahr als „Putin-Versteher“ diffamiert und ausgegrenzt zu werden. – Mischen sich in diese heftigen antirussischen Gefühle eventuell alte, uns von den Eltern und Großeltern vererbte Ängste vor „den Russen“?

Ängste, die aus der kollektiven Traumatisierung durch schreckliche Erfahrungen beim Vormarsch der Roten Armee 1945 stammen und die das von deutschen Truppen beim Angiffskrieg 1941 den Menschen in der Sowjetunion zugefügte und wenig öffentlich anerkannte, unermessliche Leid übertönen und vergessen lassen sollen. Dürfen sich diese Ängste aus der kollektiven Traumatisierung jetzt als Russlandhass in die Empörung über diesen Krieg mischen?

Aber wir müssen uns zumuten, unterschiedliche Perspektiven und widersprüchliche Überlegungen auszuhalten.