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Klimakatastrophe:
Golfstrom am Kippunkt
Die Winter in Norddeutschland drohen um zehn bis 30 Grad kälter zu werden
Zum „Golfstrom am Kippunkt“. Bild: Wikipedia
„Der Nordatlantikstrom (englisch: North Atlantic Current, NAC) ist eine warme Meeresströmung, die den Golfstrom nordöstlich bis nach Europa verlängert.“
Manche Zeitgenossen unken ja bei Schnee und Frost gerne, wo denn nun der Klimawandel bleibe, und demonstrieren damit ein verbreitetes Missverständnis: Klimawandel bedeutet keinesfalls, dass es überall auf dem Planeten gleichmäßig wärmer wird. Klimawandel bedeutet vor allem, dass das Klima gewaltig durcheinander kommt. Unwetter werden intensiver, Wettermuster unzuverlässiger, Niederschlagsgürtel verschoben oder der tropische Regenwald im Amazonasbecken bedroht, wie diese Woche einmal mehr eine Studie in der Fachzeitschrift Nature zeigt.
Dem Amazonasregenwald wird darin bescheinigt, kurz vor einem kritischen Wendepunkt, einem sogenannten Kippunkt, zu stehen. Werde dieser überschritten, könnte bis zur Mitte des Jahrhunderts aus knapp der Hälfte des Waldes eine Savanne werden. Die Auswirkungen auf die Länder in seinem Süden wären dramatisch. Bisher arbeitet der Wald nämlich als eine Art Förderband, das große Mengen an Feuchtigkeit aus der Karibik in Brasiliens Süden sowie nach Bolivien, Paraguay und Argentinien transportiert. Das über dem karibischen Meer verdunstende Wasser strömt mit der Luft landeinwärts, regnet dort über den Wäldern ab, verdunstet erneut, wird weiter getragen, regnet mehrfach wieder ab, bis es in Paraguay oder in Argentiniens Norden landet, wenn es nicht schon zuvor das größte Feuchtgebiet der Erde, das Pantanal in Brasiliens Süden, gespeist hat. Mit dem Wald würde auch dieser »fliegende Fluss« verschwinden, wie ihn die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nennen.
Ähnlich dramatische, aber ganz anders geartete Überraschungen drohen auch Nord- und Nordwesteuropa. Dort könnte es mit der globalen Erwärmung deutlich kälter werden. Empfindlich kälter sogar, wie eine letzte Woche in einem anderen Fachblatt, in Science Advances, veröffentlichte Studie über den Golfstrom befürchten lässt. Wenn dieser abreißt, würden die Winter im Norden unseres Kontinents – und da zählt Norddeutschland in diesem Fall dazu – um zehn bis 30 Grad Celsius kälter. Verursachen könnte dies ein zu großer Eintrag von Süßwasser in den nördlichen Nordatlantik. Dieser wird um so wahrscheinlicher, je mehr und je schneller das Eis auf Grönland schmilzt – und für eine Beschleunigung der dortigen Eisschmelze gibt es schon seit Jahren diverse Anzeichen.
Für die Fachwelt ist das Ergebnis dieser neuen Arbeit, die von drei Wissenschaftlern der Universität Utrecht in den Niederlanden erstellt wurde, nicht unbedingt überraschend. Schon seit den 80er Jahren, als das polare Eis noch recht stabil erschien, aber der drohende Klimawandel längst Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und Debatten war, wird über die Folgen spekuliert, die der vermehrte Eintrag von Schmelzwasser in die Gewässer südlich von Island und Grönland für die Meeresströmungen haben könnte. Der Golfstrom, der Nordwesteuropa ein vergleichsweise mildes Klima beschert, wird im nördlichen Nordatlantik nämlich davon angetrieben, dass sehr salziges Meerwasser aufgrund seiner größeren Dichte absinkt und daher an der Oberfläche Wasser aus dem Süden nach strömt. Der besonders hohe Salzgehalt des Wassers rund um und nördlich von Island ist eine Folge der Eisbildung im Winter.
Wenn Meerwasser gefriert, bleibt der allergrößte Teil des in ihm gelösten Salzes in den unter dem Eis liegenden Wasserschichten zurück. Wenn nun durch das Tauen des Eises auf Grönland – dort ist immerhin genug Wasser gespeichert, um weltweit den Meeresspiegel um etwa sieben Meter ansteigen zu lassen – vermehrt Süßwasser in den Nordatlantik eingeleitet wird, dann wird dieses wegen seiner geringeren Dichte eher auf der Oberfläche bleiben und als erstes im Winter frieren. Das Ergebnis: Weniger Salz wird ausgefällt, die Salzkonzentration ist geringer, das Absinken nimmt ab, damit auch der Zustrom warmen Wassers aus dem Süden, und schließlich fällt Westeuropas Heizung aus.
Mit der neuen Arbeit, der umfangreiche Modellrechnungen zugrunde liegen, wissen wir nun, dass das alles nicht nur hypothetische Überlegungen sind, sondern dass sich das ganze System der Meeresströmungen im Atlantik, von denen der Golfstrom nur ein Teil ist, auf einen Kippunkt zubewegt. Ein Umschlagen des Systems, das Versiegen des Golfstroms und damit der westeuropäischen Fernheizung, ist nicht mehr ausgeschlossen und wird mit jedem Zehntel Grad Erwärmung wahrscheinlicher. Die Autoren legen sich nicht fest, wann dies der Fall sein könnte, zitieren allerdings zustimmend eine Studie aus dem letzten Jahr, die den Zeitpunkt irgendwann zwischen 2025 und 2095 verortet.
(Wolfgang Pomrehn, 15.2.2024, jungeWelt)