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40 Jahre nach dem Militärputch in Chile:

Folterzentrum Colonia Dignidad – Deutschland schützt die Täter

Villa Baviera – Hundert Prozent deutsch

01. Oktober 2013 Bis heute wirken die Folgen des Militärputsches in Chile vom 11. September 1973 nach. Das Gelände der deutschen Sekte Private Soziale Mission in Südchile, die Colonia Dignidad war während der Pinochetdiktatur ein Folterzentrum des Geheimdienstes DINA. Der Opfer wird hier nicht gedacht, stattdessen unter dem neuen Namen Villa Baviera Erlebnistourismus mit deutscher Tradition betrieben.

 

 

 

„Seit Januar 2013 ist das Urteil wegen Beihilfe zum sexuellen Missbrauch gegen Hartmut Hopp in Chile rechtskräftig“, erläutert die Anwältin Petra Schlagenhauf, die Opfer der Colonia Dignidad vertritt gegenüber dem Autor: „Das chilenische Urteil wäre in Deutschland vollstreckbar, wenn sinnvollerweise ein Antrag hierzu gestellt werden würde und nicht auf Auslieferung.“ Hartmut Hopp, ehemals Leiter des Krankenhauses der Colonia Dignidad und rechte Hand von Sektengründer Paul Schäfer, hat sich noch vor dem letztinstanzlichen Urteilsspruch im Mai 2011 klandestin nach Deutschland abgesetzt. Zahlreiche verschleppte Verfahren sind gegen ihn in Chile noch anhängig, wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen, Mord und Bildung einer kriminellen Vereinigung. Schlagenhauf bedauert, dass er sich als deutscher Staatsbürger sicher sein kann, von Deutschland nicht an Chile ausgeliefert zu werden. Denn das Auslieferungsverbot hat Verfassungsrang. „Aber das Oberste Gericht Chiles beschloss im Juli einen neuen Auslieferungsantrag, ohne Antrag auf Vollstreckung des Urteils in der BRD“, so Schlagenhauf: „Der zweite Antrag auf Auslieferung läuft noch, dass kann ein Jahr dauern, dadurch geht Zeit verloren. Deutschland liefert wegen Artikel 16 Grundgesetz keine Staatsbürger ins nichteuropäsiche Ausland aus, ein Auslieferungsgesuch der chilenischen Justiz im Jahr 2011 wurde deswegen ja bereits abgelehnt.“

Mit 20 weiteren Verantwortlichen aus der Colonia Dignidad wurde Hopp letztinstanzlich vom Obersten Gericht Chiles schuldig gesprochen, dem Sektenchef Paul Schäfer ermöglicht zu haben, täglich Kinder in der hermetisch abgeriegelten Siedlung vergewaltigt und sexuell missbraucht zu haben. Schäfer war 1961 mit knapp dreihundert Sektenangehörigen aus der BRD nach Chile ausgewandert, als hierzulande Staatsanwaltschaften wegen Kindesmissbrauchs gegen ihn ermittelten. Die streng antikommunistisch ausgerichtete, abgeschottete Sekte fürchtete sich nach dem Wahlsieg von Salvador Allende 1970 vor einer möglichen Enteignung ihres 16.000 Hektar großen ländlichen Areals sowie ihrer Unternehmen. Sie nahmen Kontakt zur militanten faschistischen Bewegung Patria y Libertad auf, stellten für diese die Infrastruktur der Colonia Dignidad zur Verfügung. Kontakte zu nach Chile geflohenen deutschen Nazis gab es ebenfalls.

Mit dem Militärputsch vom 11. September 1973 begann die Zusammenarbeit der Colonia Dignidad mit dem Geheimdienst der Diktatur. In das Konzept der DINA, der Terrorisierung der chilenischen Linken durch willkürliche Verhaftungen und Ermordungen, deren Opfer zumeist Verschwunden wurden, um alle Erinnerung an sie auszulöschen, passte gut ein inoffizielles Folterzentrum. Zeugen sagten in Chile vor Gerichten aus, Hopp habe in engem Kontakt zu Augusto Pinochet und dem chilenischen Geheimdienstchef Manuel Contreras gestanden, dessen Geheimpolizei DINA in der Colonia Dignidad Büros unterhielt und Räume als Folterzentrum genutzt hat. Mehrere hundert Opfer wurden von der DINA oder dem Militär auf das Siedlungsgelände gebracht und dort in Kooperation mit Coloniabewohnern gefoltert, viele ermordet. Ob es 100 oder mehr Opfer waren, die auf dem Gelände der Colonia ermordet wurden, ist unklar. Dass noch Massengräber gefunden werden, ist unwahrscheinlich. Denn dies sollte die „Operación Retiro de Televisores” verhindern: „Die chilenischen Militärs und auch die Colonia Dignidad haben die Leichen ihrer Opfer ausgegraben und vernichtet, um Spuren zu beseitigen“, erklärt Petra Schlagenhauf, die sich viel in Chile aufhält: „Ich habe mit einem Baggerführer gesprochen, der auf dem Gelände der Colonia Dignidad Leichen ausgegraben hat, die später vollständig verbrannt wurden.“

Es spricht einiges dafür, dass der BND von diesen Aktivitäten in der Colonia Dignidad wusste. Der Colonia-Funktionär Kurt „Schnellenkamp gestand vor Gericht, politische Gefangene in die Kolonie gebracht zu haben und im engen Kontakt zu dem deutschen Waffenhändler Gerhard Mertins gestanden zu haben“, wie Daniela Schildmann in den Lateinamerika-Nachrichten schrieb. Gerhard Mertins leitete das Tarnunternehmen „Merex“ des BND, wie der Historiker Peter Hammerschmidt 2011 enthüllte. Mertins war früher in einem Spezialkommando der SS, hatte vielfältige Kontakte zu Altnazis in Südamerika. 1978 versuchte er einen „Freundeskreis Colonia Dignidad“ zu gründen. Über Merex wurden Informationen gesammelt und überschüssige Bundeswehrwaffen und -geräte in alle Welt verkauft. Auch über die Colonia Dignidad? Etliche Gerichtsverfahren gab und gibt es weiterhin gegen Mitglieder der Sektenführung in Chile. Vielleicht kommt ja noch ans Licht, was der BND mit diesem Geflecht zu tun hatte.

Gegen Hartmut Hopp wird auch in Deutschland ermittelt. Etliche Zeugenaussagen stehen noch aus, aber die Staatsanwaltschaft Krefeld strebt eine Anklage an. Die Vorwürfe wegen falscher Medikamentierung, die als vorsätzliche Körperverletzung gilt, ebenso wie der sexuelle Missbrauch von Kindern sind erst teilweise verjährt, Mord verjährt nicht. Deshalb könnte Hartmut Hopp wegen aller drei Vorwürfe angeklagt werden. Anwältin Schlagenhauf schätzt ein, dass solche Verfahren in Deutschland langwierig wären, aber: „nach dem Internationalem Rechtshilfe Gesetz, IRG, könnte das Oberste Gericht Chiles mit einer großen Aussicht auf Erfolg bereits jetzt die Vollstreckung des chilenischen Urteils wegen sexuellen Missbrauchs in Deutschland beantragen.“

Mi einem solchen Erfolg für die Opfer rechnet Hartmut Hopp vermutlich nicht: Ein halbes Jahr bevor er nach Deutschland einreiste und sich ungeniert unter seinem richtigen Namen in Krefeld niedergelassen hat, stellte die bis dahin ermittelnde Staatsanwaltschaft Bonn im September 2010 die Ermittlungen ein, „da Tathandlungen in nicht rechtsverjährter Zeit nicht zu belegen waren“. 22 Jahre lang war dort gegen Hopp wegen „Freiheitsberaubung, Körperverletzung usw.“ ergebnislos ermittelt worden.

Folgenreicher war ein Beschluss des Bundestags von 2002, der ursprünglich Hilfe für die internen Opfer in der Colonia Dignidad vorsah, für die Sektenmitglieder, die misshandelt, gefoltert, missbraucht wurden. Damals waren viele deutsche Siedler aus der Colonia geflohen.

Gelder flossen aber erst ab 2008, im Bundeshaushalt wurden pro Jahr 250.000 Euro eingeplant. Bis jetzt etwa 1,25 Millionen Euro, die über das Auswärtige Amt bereitgestellt wurden. Diese Gelder werden von der deutschen Botschaft in Santiago verwaltet. „Das Gros dieser Gelder wird ausgegeben für die Beratung der Wirtschaftsunternehmen der Villa Baviera, wie die Colonia jetzt heißt“, so Jan Stehle, Mitarbeiter des Forschungs- und Dokumentationszentrums Chile-Lateinamerika gegenüber dem Autor: „Sie betreiben vor Ort eine Vielzahl von Unternehmen, auch ein Tourismusprojekt, Hotel mit Restaurant. Dafür wird als Ort deutscher Tradition geworben“. Bislang war es so, dass die Bundesregierung sich fast ausschließlich um die verbliebenen etwa 160 Bewohner der Colonia gekümmert hat. Die Siedler, die am meisten gelitten haben sind aber weggegangen und bekommen kaum Unterstützung. Stattdessen diejenigen, welche die Unternehmen weiterführen, die noch aus den Zeiten der Colonia Dignidad von Paul Schäfer stammen.

Wer auf der Panamericana in Südchile unterwegs ist, berichtet Petra Schlagenhauf, kommt an einem großen Werbeschild vorbei: „Villa Baviera – un lugar diferente“: Das bayerische Dorf – ein anderer Ort. Gemeint ist die Siedlung, die unter ihrem neuen Namen die Geschichte ausblenden will und sich dem deutschem Brauchtum verschrieben hat. „100 % Deutsch“ lautet ein Werbespruch, jedes Jahr wird dort ein Oktoberfest veranstaltet. Das kritisiert Jan Stehle: Bis heute gibt es in der Villa Baviera noch nicht einmal eine Gedenkplakette für die Opfer der Colonia Dignidad.

Gaston Kirsche