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Bismarcks Erleuchtung
Am 18. März 1871 erhob sich das Pariser Proletariat (...) . Überall, wo es in deutschen Landen ein klassenbewusstes Proletariat gab, antwortete ein heller Jubelruf der revolutionären Erhebung der Pariser Arbeiter. Weder die Lassalleaner noch die Eisenacher schwankten auch nur einen Augen- blick; Massenversammlungen in Berlin, Hamburg, Bremen, Hannover, Elberfeld, wie in Dresden, Leipzig und Chemnitz erklärten der sozialen Revolution in Paris ihre huldigende Sympathie, entboten ihren Kämpfern die brüderlichen Grüße der deutschen Arbeiter. Sozialdemokrat und Volksstaat verspotteten mit gleicher Überlegenheit die `naive Unverschämtheit´ einiger Bourgeoisblätter, die von der deutschen Sozialdemokratie die Verleugnung der Pariser Kommune oder doch ihrer `Greuel´ verlangten.
Möglich, dass durch solch pfiffige Taktik dieser oder jener kleine Vorteil zu erlangen gewesen wäre, aber es wäre eine Taktik zum Speien gewesen, und die Sozialdemokratie wäre der Erbkrankheit des deutschen Liberalismus verfallen, um ein paar zweifelhafter Profitchen willen nicht nur die eigene Ehre und Würde, sondern auch einen großen und dauernden Gewinn zu verscherzen. Das rückhaltlose Bekenntnis zur Pariser Kommune hat sich der deutschen Sozialdemokratie reich gelohnt. Heute sind die `Greuel der Kommune´ zum Kinderspott geworden; jeder halbwegs unterrichtete Bourgeois weiß ebenso gut, wie die deutschen Arbeiter von Anfang an gewusst haben, dass die wirklichen Greuel von den Feinden der Kommune, von den Vorkämpfern der bürgerlichen Ordnung begangen worden sind, daß die Schwäche der Kommune nicht ihre Unmenschlichkeit, sondern ihre Scheu vor durchgreifenden Maßregeln war. (...)
Von Bismarck aber ging damals das Wort um, dass die Kommune ihm wieder die `erste schlaflose Nacht´ verursacht habe. (...) Als Ergebnis seiner nächtlichen Denkübungen trug er dem Reichstage die verblüffende Entdeckung vor, der berechtigte Kern der Pariser Kommune sei die Sehnsucht nach der preußischen Städteordnung gewesen, dieser Parodie auf unabhängige Verwaltung der Gemeinden. Bebel, der einzige Sozialdemokrat, der im ersten deutschen Reichstag saß, drückte sein Erstaunen aus, dass eine Versammlung ernsthafter Männer darüber nicht in die größte Heiterkeit ausgebrochen sei, und fügte seinerseits hinzu: `Seien Sie fest überzeugt, das ganze europäische Proletariat und alles, was noch ein Gefühl für Freiheit und Unabhängigkeit in der Brust trägt, sieht auf Paris. Und wenn auch im Augenblick Paris unterdrückt ist, so erinnere ich Sie daran, dass der Kampf in Paris nur ein kleines Vorpostengefecht ist, dass die Hauptsache in Europa uns noch bevorsteht, und dass, ehe wenige Jahrzehnte vergehen, der Schlachtruf des Pariser Proletariats: Krieg den Palästen, Friede den Hütten, Tod der Not und dem Müßiggang der Schlachtruf des gesamten europäischen Proletariats sein wird.´ Die hohe Versammlung glaubte diesen Worten die unbändige Heiterkeit spenden zu sollen, die sie dem platten Einfall Bismarcks versagt hatte; seitdem ist ihr das Lachen freilich gründlich vergangen.
Später hat Bismarck selbst gestanden, diese Rede Bebels sei der `Lichtstrahl´ gewesen, der ich über das Wesen der sozialdemokratischen Bewegung erleuchtet habe; von nun an habe er sie zu bekämpfen und zu unterdrücken gesucht als einen Feind, gegen den der Staat und die Gesell- schaft sich im Zustande der Notwehr befinde. Man braucht nicht an der Aufrichtigkeit dieses Bekenntnisses zu zweifeln, schon deshalb nicht, weil es für einen so genannten Staatsmann demütigend genug war. In der Tat begann jetzt der offene Kampf Bismarcks gegen die Sozialdemokratie, anfangs ruck- und stoßweise mit lässigem Hochmut geführt, dann in dem verzweifelten Kampf um die eigene Existenz immer verzweifelter, bis diese Existenz ruhmlos zusammenbrach.” (Franz Mehring: “Geschichte der deutschen Sozialdemokratie”, Vierter Band, 6. und 7. Auflage Stuttgart 1919, Fünftes Buch, S. 19 – 21. Hervorhebungen von mir.)
Nach Inkrafttreten des Ausnahmegesetzes erhoben sich innerhalb der Sozialdemokratie auch Stimmen, die unklug-radikalem Verhalten der Organisationen eine Mitschuld an der Verfolgung gaben und zur Mäßigung aufriefen. Hierzu der ultimative Lesetip: Der Brief von Marx und Engels an A. Bebel, W. Liebknecht, W. Bracke und andere vom 17. – 18. September 1879, allgemein (?) bekannt als “Zirkularbrief”. Zu finden etwa in: Marx/Engels, Ausgewählte Briefe, S. 384 – 390. – Näheres in der nächsten LinX ...
(D.L.)