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Brücken bauen - Zeit für eine neue Erinnerungspolitik
Der Vorsitzende der Bundestagsfraktion DIE LINKE, Gregor Gysi, und die Vorsitzenden der Partei DIE LINKE, Katja Kipping und Bernd Riexinger, erklären anlässlich des 25. Jahrestags des Falls der Berliner Mauer und der Öffnung der innerdeutschen Grenze: Vor 25 Jahren fiel die Berliner Mauer. Die innerdeutsche Grenze wurde gewaltfrei geöffnet. Die Gewaltlosigkeit des Mauerfalls wie der friedlichen Revolution in der DDR ist ein Verdienst der Bürgerinnen und Bürger der DDR. Weniger als ein Jahr später war die DDR Geschichte. Ein Staat ging unter, der seine Legitimität aus den deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg zog, und der für sich in Anspruch nahm, das "bessere Deutschland" zu sein. Die DDR ging 1990 nicht zuletzt deshalb unter, weil sie diesen Anspruch nicht einlöste. Der real existierende Sozialismus scheiterte nicht zuerst an äußeren Umständen, sondern an seinen eigenen inneren Widersprüchen, an seinen Fehlern und Verbrechen, an Unfreiheit und ideologischem Dogmatismus, an seiner wirtschaftlichen Ineffizienz.
Ein Vierteljahrhundert nach diesen Ereignissen ist es Zeit, vor allem jenen zu danken, die damals die Mauer von Ost nach West zum Einsturz brachten. Hunderttausende gingen auf die Straße und läuteten einen historischen Wandel ein, der für viele von ihnen in dramatische biografische Brüche mündete. Wir würdigen diese Menschen, die sich in stürmischen Zeiten behaupten mussten und den politischen, ökonomischen und sozialen Wandel gestaltet haben.
Bis heute ist die Erinnerung an die DDR eine umkämpfte Geschichte. Bis heute dominiert in der offiziellen Erinnerungskultur eine Schwarz-Weiß-Malerei, die weder dem Land noch den Menschen gerecht wird. Die DDR war beides. Für viele Menschen war sie das Land, in dem sie geboren wurden, in dem sie einen Teil ihres Lebens lebten, und in dem sie eine Lebensleistung erbrachten, für die sie zu Recht jene Anerkennung erwarten, die ihnen zum Teil auf dem Lohnzettel und Rentenbescheid bis heute vorenthalten wird. Aber die DDR war eben auch ein Staat, dessen Handeln durch die Abwesenheit freier Wahlen die grundlegende demokratische Legitimation fehlte, und in dem die politische Willkür jederzeit Recht und Gerechtigkeit ersetzen konnte, in dem zehntausende Biografien durch staatliches Unrecht gebrochen und zerstört wurden. Dafür trug eine Partei die Hauptverantwortung, die SED. Die PDS hat im Frühjahr 1990 die Abkehr vom Stalinismus als System zu ihrem Gründungskonsens gemacht, die Verantwortung für begangenes Unrecht übernommen und sich bei den Bürgerinnen und Bürgern der DDR entschuldigt.
Heute gehört die Erkenntnis, dass Grund- und Freiheitsrechte niemals auf dem Altar vermeintlich höherer Ziele geopfert werden dürfen, zu den programmatischen Kernsätzen der LINKEN. Heute erneuern wir die Entschuldigung für begangenes Unrecht und das Bekenntnis, dass wir Demokratie und Rechtsstaat wie zwei Augäpfel zu hüten haben.
Das zentrale Motiv einer neuen Erinnerungspolitik muss es sein, Brücken zu bauen und eine neue Kultur des Zuhörens zu etablieren. Wo die Erinnerung vordergründig im Parteienstreit instrumentalisiert wird, steht die Aufarbeitung und Versöhnung hintenan. Geschichtspolitische Rosinenpickerei mag der politischen Landnahme dienen, dem Lernen aus der Geschichte im Interesse von Demokratie und Rechtsstaat dient sie nicht.
Ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall ist es Zeit für eine neue Erinnerungspolitik, eine Erinnerungspolitik, die kein Unrecht verschweigt, die die vielen Spuren, welche die Geschichte seit dem letzten Jahrhundert hinterlassen hat, über die Epochengrenzen hinweg in einen gemeinsamen Aufarbeitungszusammenhang stellt, die allen Opfern den gleichen Respekt erweist, die den großen und kleinen Tätern auf der Spur bleibt, und die auch nicht vergisst, die Frauen und Männer der Dissidenz, des Widerstands und der demokratischen Selbstbehauptung zu ehren. Für diesen Neuanfang in der Erinnerungspolitik wird sich DIE LINKE einsetzen.
Am 9. November erinnern wir uns nicht nur an den Fall der Mauer. Wir erinnern uns ebenso an einen der dunkelsten Momente der deutschen Geschichte, den reichsweiten Pogrom gegen Jüdinnen und Juden, den das "Dritte Reich" am 8. und 9. November 1938 unter dem Namen "Reichskristallnacht" anzettelte. Wie kein zweiter Tag erinnert uns der 9. November daran, welche Spuren die Geschichte der vergangenen 100 Jahre in Deutschland hinterlassen hat. Spuren des Unrechts und der Gewalt, Spuren der Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung, Spuren der Dissidenz und des Widerstands, Spuren bürgerschaftlicher Selbstbehauptung, aber auch Spuren des braunen Terrors, die bis an die Gegenwart heran reichen. Für DIE LINKE ist der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte. Wir werden uns an dem Suchprozess für eine sozialere, gerechtere und demokratischere Gesellschaft weiterhin aktiv beteiligen.
Die Linke