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Flüchtlingstragödie im Irak eskaliert binnen weniger Monate
Flüchtlingsrat fordert humanitäre Aufnahmeaktionen von Bund und Ländern
Über 60 TeilnehmerInnen waren am Montagabend der Einladung des Flüchtlingsrates Schleswig-Holstein und des Landesflüchtlingsbeauftragten in das Kieler Landeshaus gefolgt. Mit der Islamwissenschaftlerin Irene Dulz, die seit über 10 Jahren bei UN- und anderen internationalen Organisationen im Nahen Osten tätig ist, hatten die Veranstalter eine erfahrungs- und kenntnisreiche Referentin für den Vortrag "Sehenden Auges! - Die Flüchtlingstragödie im Irak" im Kieler Landeshaus gewonnen.
Irene Dulz schilderte die Flüchtlingswirklichkeit im Irak als dramatisch: Über 1 Mio. Flüchtlinge haben den Irak allein 2014 verlassen - bevor insbesondere die Türkei die Grenzen geschlossen hat. 2,1 Mio. sind innerhalb des Landes auf der Flucht. Seit fast dreißig Jahren herrscht Krieg im Irak. Die jüngste Offensive der insbesondere gegen die Zivilbevölkerung gerichteten Gewalt gehe derzeit v.a. von den Milizen des sogenannten Islamischen Staats (IS) aus. Innerhalb des Irak gelten laut Auskunft der UNO 5,2 Mio. als hilfs- und versorgungsbedürftig.
Mit dem militärisch erfolgreichen Vorstoß des IS im Norden des Irak sind insbesondere seit Sommer des vergangenen Jahres hunderttausende Kurden, v.a. Yeziden und Mitglieder der shiitischen Shabak-Minderheit, zum Opfer gefallen. Eine Politik der verbrannten Erde und zahlreiche Massaker in den kurischen Siedlungsgebieten haben die Überlebenden in die Flucht geschlagen. "Eine Rückkehr der Menschen in ihre Herkunftsgebiete ist auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen", erklärt Irene Dulz auf Nachfrage. Allein in der Provinz Dohuk, im syrisch-türkischen Grenzdreieck des Nordirak gelegen, seien in der Folge über eine halbe Million Binnenflüchtlinge aufgenommen worden. "Im Gouvernement Dohuk ist inzwischen jeder 3. ein Flüchtling", erklärt Dulz. Die Versorgung sei höchst prekär, die Gesellschaft mit der Integration der Geflüchteten überfordert. Schulen, Rohbauten ohne jegliche sanitäre Infrastruktur, und z.T. weit abgelegene Zeltlager dienten als Unterbringung. Die internationale Hilfe sei sehr schleppend angelaufen. Die Flüchtlinge seien in einer Vielzahl durch das Erlebte traumatisiert - eine bedarfsgerechte medizinische oder therapeutische Versorgung fehle.
Insbesondere effektive Hilfe für die zuvor vom IS tausendfach verschleppten und dort regelmäßig sexuell missbrauchten und misshandelten yezidischen Frauen und Mädchen sei dringend. "Diese Frauen - nicht wenige inzwischen hochschwanger - sind, soweit sie frei gelassen wurden oder entkommen konnten, kaum in ihre eigene, eher konservativ patriarchal geprägte Community reintegrierbar" mahnt Dulz.
Martin Link, Geschäftsführer beim Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein, lenkte den kritischen Blick auf die politische Debatte hierzulande. "Sehenden Auges auf die Flüchtlingstragödie im Irak verschläft Deutschland seine Möglichkeiten!" beklagte Link. Noch im Sommer 2014 hätten Vertreter des Bundes sowie einiger Länder, wie Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein, mit Appellen für Aufnahmeaktionen zugunsten irakischer Flüchtlinge von sich reden gemacht. Seitdem sei jedoch Nichts geschehen, beklagte Link.
Auch der Antrag der Regierungsfraktionen im Kieler Landtag "Humanitäre Katastrophe im Irak - Flüchtlinge jetzt aufnehmen" vom 27. August (Ds. 18/2215) habe keine Dynamik zu entfalten vermocht. "Nach einer kontroversen Landtagsdebatte - bei der es weniger um die Flüchtlinge, als um die Frage militärischer Hilfe für die Kurden im Irak ging - ist der Antrag zu den Akten gelegt worden", bedauerte Link.
Dass bei Bundes- oder Landesregierungen Informationen fehlten, wie ein Kontingent vor Ort umgesetzt werden könne, hält Irene Dulz für unwahrscheinlich. "In den vergangenen Monaten haben sich in fast wöchentlichem Wechsel die Chefs von Bundesverteidigungs-, Innen- und Entwicklungshilfeministerium sowie zahlreiche hochrangige Delegationen nicht allein der SPD und der Grünen die Klinken bei irakischen Behörden und internationalen Organisationen in die Hand gegeben", weiß Dulz zu berichten.
Auch der Flüchtlingsrat habe, im Bemühen um eine Flüchtlingsaufnahmeaktion nach dem Vorbild der Kontingentaufnahmen syrischer Flüchtlinge, bei internationalen Organisationen vor Ort recherchiert. "Wir haben inzwischen diverse Kontaktdaten und -personen, die mit der Administrierung der irakischen Flüchtlingstragödie vor Ort befasst sind und dringend internationale Entlastung benötigten, an die Kieler Landesregierung weiter gegeben", erklärt Link. Gleichzeitig berichten hierzulande beheimatete irakisch-stämmige Personen, sie stießen mit Angeboten, ihre im Irak oder in der Türkei auf der Flucht befindlichen Angehörigen auf eigene Kosten aufzunehmen, bei Behörden auf taube Ohren.
Es stelle sich also kaum die Frage, wie geholfen werden könne, mutmaßte Martin Link zum Abschluss der Veranstaltung, sondern lediglich ob Bund und Länder zur Aufnahme von Opfern des - ansonsten in öffentlichen Stellungnahmen gern krokodilstränenreich beklagten - "islamistischen Terrors" des IS im Irak bereit sein werden.
gez. Martin Link
Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.