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Frieden durch Diplomatie statt weiterer Eskalation bis zum Atomkrieg – Hiroshima und Nagasaki mahnen:

Kriege in der Ukraine, in Gaza und Nahost beenden und Atomwaffen abrüsten!

Der vorliegende Text ist eine erweiterte Fassung eines Vortrags des Autors anlässlich einer Mahnwache für den Frieden am 9. August am Wedeler Mühlenteich. In der Druckversion wurde der Beitrag stark gekürzt. Hier jetzt der Beitrag in voller Länge. Autor: Klaus-Dieter Kolenda, IPPNW

Die Atombomben, die am 6. August 1945 von den USA abgeworfen wurden, töteten auf einen Schlag in Hiroshima mehr als 80.000 Menschen (Fußnote 1), und die am 9. August auf Nagasaki zielende etwa 22.000 (Fußnote 2).

Die genauen Zahlen an diesem Tage und an den anschließenden Wochen und Monaten sind immer noch umstritten. Die Gesamtzahl der Todesopfer dürfte aber bei mindestens 200.000 liegen (Fußnote 2). Denn in den Tagen und Wochen nach den Bombenangriffen war es nicht möglich, eine genaue Zählung der Opfer durchzuführen. Aufgrund der massenhaften Zerstörungen der staatlichen Einrichtungen, der Krankenhäuser, der Polizei- und Feuerwehrstationen herrschte völliges Chaos und Verwirrung (Fußnote 1).  

Als langjähriges Mitglied der IPPNW, das ist die Abkürzung für die berufsbezogene Friedensorganisation „Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung“, die 1985 den Friedensnobelpreis erhalten hat, bin ich gebeten worden, hier ein paar einleitende Worte zu sagen.

Aus aktuellen Gründen werde ich im Folgenden nicht so sehr über die Opfer von Hiroshima und Nagasaki sprechen, sondern vor allem über die steigende Atomkriegsgefahr, der wir mit der immer weiteren Eskalation der Kriege in der Ukraine und auch in Gaza bzw. im Nahen Osten in zunehmendem Maße ausgesetzt sind und die mir große Sorgen bereitet.

Diese Gefahr war ja nach dem Ende des „Kalten Krieges“ im Jahre 1990/91 anscheinend überwunden. Seit Beginn des Ukraine-Krieges besteht sie jedoch wieder ganz real.

Und jetzt wurde am Rande des diesjährigen Nato-Gipfel in Washington vom 9. bis 11. Juli in einer gemeinsamen Erklärung der US-Regierung und der deutschen Bundesregierung verkündet, dass ab 2026 wieder atomwaffenfähige Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite bis zu 2.800 km in Deutschland stationiert werden sollen. Das hat die Bedrohung, der wir alle ausgesetzt sind, noch einmal deutlich erhöht (Fußnote 3).  

Atomkriegsgefahren im ersten „Kalten Krieg“

Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen. Deshalb möchte ich mit einem kurzen Rückblick beginnen.

Mit den US-amerikanischen Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 begann die Geschichte des atomaren Wettrüstens zwischen den USA und der damaligen Sowjetunion.

Zugleich bedeuteten diese Ereignisse den Eintritt in eine neue und vielleicht letzte Epoche der Menschheitsgeschichte. Diese ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass die Menschen seit dieser Zeit die Fähigkeit besitzen, die Menschheit insgesamt auszulöschen und damit 12.000 Jahre Zivilisationsgeschichte mit einem Schlag zu beenden, wie es die US-Journalistin Annie Jacobsen kürzlich in ihrem neuen Buch in einem erschreckenden Szenario sehr eindrucksvoll dargestellt hat (Fußnote 4).

Wie sagte doch Albert Einstein: „Ich weiß nicht, mit welchen Waffen der Dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber der Vierte Weltkrieg wird bestimmt mit Stöcken und Steinen ausgetragen.“

Die Geschichte des Wettrüstens ist aber auch die Geschichte des Widerstands gegen die atomare Aufrüstung in Deutschland. Sie begann 1957, als 18 führende Atomwissenschaftler mit ihrem berühmten "Göttinger Manifest" die Öffentlichkeit über die Gefahren eines Atomkrieges alarmierten.

Sie warnten vor den Plänen der damaligen Regierung, die Bundeswehr mit Atomwaffen aufzurüsten. Bereits 1955 hatten die USA - unter strengster Geheimhaltung - damit begonnen, atomare Kurzstrecken-Raketen in der Bundesrepublik zu stationieren.

Daraufhin entstand mit der Kampagne "Kampf dem Atomtod" eine Protestbewegung gegen die atomare Aufrüstung. 1960 begannen dann die jährlich stattfindenden "Ostermärsche der Atomwaffengegner".

Kuba-Krise

Ich gehöre zu der Generation, deren Angehörige sich aus eigenem Erleben noch an die dramatischen Tage der Kuba-Krise im Oktober 1962 erinnern können.

Diese geopolitische Krise zwischen den beiden damaligen Supermächten USA und Sowjetunion wurde durch einen Kompromiss beendet, bei dem Chruschtschow die von den USA als bedrohlich angesehenen russischen Atomraketen in Kuba abzog und im Gegenzug Kennedy auf entsprechende in der Türkei und in Italien stationierten, gegen die Sowjetunion gerichtete Raketen verzichtete.

Dieser Kompromiss, der 1962 eine atomare Katastrophe um Haaresbreite gerade eben noch verhindert hat, soll das Ergebnis einer Absprache zwischen den beiden verantwortlichen Politikern hinter dem Rücken der Militärs und der Geheimdienste gewesen sein. Deshalb war ein Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen Voraussetzung für sein Zustandekommen.

Dieses notwendige Vertrauen ist aber heute durch die Politik der Nato-Osterweiterung, die mit Täuschungen und Lügen von westlicher Seite einhergegangen ist, durch eine in den letzten Jahren ständig zunehmende und zuletzt maßlose russlandfeindliche Propaganda in unseren Hauptmedien (zum Beispiel: „Putin ist ein Wiedergänger Hitlers“; Fußnote 5) und durch die beispiellosen völkerrechtswidrigen Sanktionen des Westens gegen Russland weitgehend zerstört worden.

Nato-Doppelbeschluss

In den 1960er und 1970er Jahren erreichte das atomare Wettrüsten zwischen den beiden damaligen Supermächten USA und Sowjetunion seinen Höhepunkt.

Damals war die Zahl der Atomwaffen bis auf ca. 30.000 (Fußnote 4) mit den entsprechenden Trägersystemen auf jeder der beiden Seiten angewachsen. Diese Zahlen schlossen Tausende von taktischen Atomwaffen der USA in Deutschland ein, die im Ernstfall auf dem Gebiet der DDR oder der BRD zum Einsatz gekommen wären.

Als dann Ende der 1970er Jahre entsprechend dem Nato-Doppelbeschluss noch atomare Pershing-II-Raketen und Marschflugkörper in Deutschland aufgestellt werden sollten, brachte die damalige Friedensbewegung in der ersten Hälfte der 1980er Jahre viele Hunderttausende in der Bundesrepublik auf die Straßen, die gegen diese Politik protestierten (Fußnote 6).

Dazu gehörten auch viele IPPNW-Mitglieder mit Losungen wie „Raketen sind Magneten“ oder Plakaten, auf denen zu lesen war: „Wir werden Euch nicht helfen können“ (Fußnote 7).

Auch wenn es damals der Friedensbewegung nicht gelang, die Stationierung der Pershing-Raketen zu verhindern, dürfte ihr unüberhörbarer Protest jedoch mit dazu beigetragen haben, dass 1987 der wichtigste Vertrag über die atomare Abrüstung, der sogenannte INF-Vertrag, von Regan und Gorbatschow unterzeichnet wurde. In dessen Folge wurden Tausende von Mittelstrecken-Raketen bis zum Ende des „Kalten Krieges“ 1991 vernichtet.

Atomare Beinahe-Unfälle

Während es bisher außer in Hiroshima und Nagasaki glücklicherweise zu keinem weiteren kriegerischen Einsatz von Atombomben gekommen ist, findet man im Internet eine Liste von atomaren Beinahe-Unfällen mit Atomwaffen („nuclear close calls“, im Deutschen auch als sogenannte „Vorfälle“ bezeichnet- Fußnote 8). Darunter versteht man „Vorfälle“, die zumindest zu einer unbeabsichtigten nuklearen Detonation oder Explosion hätten führen können.

Die Liste zeigt, dass seit den 1950er Jahren bis Anfang der 1990er Jahre insgesamt mindestens 16 Vorfälle dieser Art bekannt geworden sind, die einen Atomkrieg hätten auslösen können.

Einen dieser Beinahe-Katastrophen möchte ich als Beispiel kurz anführen.

Es geht um Stanislaw Petrow, einem Menschen, dem wir Älteren wahrscheinlich zu verdanken haben, dass wir noch leben, und die Jüngeren unter uns, dass sie geboren worden sind (Fußnoten 9 und 10).

Am 26. September 1983 stufte Petrow als leitender Offizier in der Kommandozentrale der sowjetischen Satellitenüberwachung einen vom Überwachungssystem gemeldeten Angriff der USA mit nuklearen Interkontinentalraketen auf die UdSSR nicht als einen Alarm ein, wie das System es anzeigte und die Auslösung eines schnellen Gegenschlags erforderlich gemacht hätte, sondern bewertete ihn als einen Fehlalarm.

Später ergab sich, dass es sich tatsächlich um einen Fehlalarm gehandelt hatte, der durch einen Satelliten des sowjetischen Frühwarnsystems ausgelöst worden war. Eine fehlerhafte Software hatte einen Sonnenaufgang und Spiegelungen in den Wolken als Raketenstarts in den USA interpretiert.

Durch sein Eingreifen verhinderte Petrow damals wahrscheinlich das Auslösen eines umfassenden Atomkriegs mit strategischen Nuklearwaffen zwischen den USA und der Sowjetunion.

Deshalb gibt es Bemühungen, den 26. September im Andenken an diesen „Weltretter“, der 2017 in Moskau gestorben ist, als „Petrow-Tag“ zu begehen.

Dieser Fall und weitere in der Liste angeführte Beispiele zeigen, dass wir es mutigen und selbständig denkenden Menschen und darüber hinaus Zufällen und glücklichen Umständen zu verdanken haben, dass es im ersten Kalten Krieg zu keinem nuklearen Inferno gekommen ist.  

Gefahr des Einsatzes von Atomwaffen heute und Schicksal bisheriger Abrüstungsverträge                                                      

Heute verfügen die neun Atommächte (neben Russland und den USA sind das China, Frankreich, Großbritannien, Pakistan, Indien, Israel und Nordkorea) über rund 12.000 nukleare Sprengköpfe (Fußnote 11).

Es handelt sich dabei um taktische, aber auch strategische Atomwaffen. Taktische Atomwaffen haben in der Regel eine geringere Sprengkraft und kürzere Reichweite als strategische Atomwaffen, aber die Übergänge sind fließend.

New START

Trotz einiger Reduzierungen von strategischen Atomwaffen, die sich im Besitz von Russland und den USA befinden, z. B. 2010 durch den neuen START-Vertrag (New Start: Strategic Arms Reduction Treaty) auf jeweils 800 Trägersysteme mit ca. 1500 Atomsprengköpfen, sind laut SIPRI immer noch mehr als 90 Prozent aller Atomwaffen je etwa zur Hälfte im Besitz der beiden größten Atommächte. Das bedeutet, dass sowohl Russland als auch die USA heute insgesamt über jeweils etwa 5000 bis 5500 Atomsprengköpfe verfügen.

2021 bzw. 2022 unterzeichneten Putin und Biden eine Vereinbarung zur Verlängerung von New START, dem letzten großen atomaren Abrüstungsvertrag der beiden Staaten, um fünf weitere Jahre (Fußnote 12).

Im August 2022 gab das russische Außenministerium jedoch bekannt, dass es Kontrollen von Atomwaffenbeständen im Rahmen des Abkommens vorerst aussetze, weil Russland wegen der Sanktionen gegen seine Flugzeuge keine Inspekteure in die USA fliegen könne. Deshalb würde eine Wiederaufnahme der US-Inspektionen auf russischem Gebiet den Amerikanern einen Vorteil verschaffen. Man werde sich aber weiter an New Start halten.

"Nukleare Teilhabe" Deutschlands

Deutschland verfügt über keine „eigenen“ Atomwaffen, ist aber über die „Nukleare Teilhabe“ an der Atomkriegsstrategie der Nato direkt beteiligt.

Im Rahmen der Nuklearen Teilhabe haben die USA in vier europäischen Nato-Staaten ca. 150 taktische Atomwaffen stationiert. Das sind frei fallende Atombomben vom Typ B61. Neben Deutschland sind das Belgien, Italien, die Niederlande und die Türkei.

Die USA liefern also die Atomwaffen, während die Stationierungsländer die Stützpunkte, die Trägerflugzeuge und die Piloten zur Verfügung stellen, die im Kriegsfall die Atomwaffen ins Ziel fliegen und abwerfen müssen. In Deutschland sollen dafür schätzungsweise ca. 20 US-Atombomben auf dem Bundeswehr-Fliegerhorst Büchel in der Eifel stationier sein.

Die IPPNW hat sich eindeutig gegen die Nukleare Teilhabe ausgesprochen, unter anderem, weil sie gegen den Atomwaffensperrvertrag von 1970 verstößt, den auch Deutschland nach langen Auseinandersetzungen 1975 unterzeichnet hat.

Darin haben sich alle Nicht-Atomwaffenstaaten verpflichtet, "Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen.“

Trotz eines parteiübergreifenden Beschlusses des Bundestages im Jahr 2010 hält die Bundesregierung weiterhin an der Stationierung der US-Atombomben in Deutschland fest und lässt Piloten der Bundeswehr regelmäßig den Atomwaffeneinsatz für den Ernstfall trainieren.

B61-12

Beachtenswert ist, dass in den letzten Jahren eine „Modernisierung“ der in Büchel stationierten US-Atombomben erfolgt ist. Die neue B61-12 ist eine "Allround"-Atombombe, eine zielgenaue, elektronisch gesteuerte und gelenkte Atomwaffe mit variabler Sprengkraft, vergrößerter Reichweite und der Fähigkeit, tief verbunkerte Ziele zu zerstören.

Die B61-12 ist die erste Nuklearbombe, die mit einem derartigen Steuerungssystem ausgestattet ist. Durch die variable Sprengkraft, in der Größenordnung von sog. Mini-Nukes bis zur Sprengkraft der Hiroshima-Bombe, ergeben sich für die Kriegsplaner erweiterte operative Möglichkeiten für den Einsatz dieser Nuklearwaffen.

Zusätzlich ist in Deutschland der Kauf einer neuen Generation von Atombombern (F 35) von den USA als Ersatz für die derzeitigen Tornados vorgesehen.

Atomwaffenverbotsvertrag

2017 haben die atomwaffenfreien Länder den Aufstand gegen die Atommächte gewagt. 122 Mitgliedstaaten der UNO haben damals den Vertrag über das Verbot aller Atomwaffen beschlossen.

Für den Atomwaffenverbotsvertrag erhielt ICAN, ein internationales Bündnis von Nichtregierungsorganisationen, das sich viele Jahre für die Abschaffung aller Atomwaffen durch einen bindenden völkerrechtlichen Vertrag eingesetzt hat, 2017 den Friedensnobelpreis. Auch die IPPNW ist Teil dieses Bündnisses.

Nachdem über 50 Staaten diesen Vertrag ratifiziert hatten, ist er 2021 in Kraft getreten.

Der Atomwaffenverbotsvertrag verbietet den Vertragsstaaten, Kernwaffen zu entwickeln, herzustellen, zu erwerben und zu besitzen, Kernwaffen einzusetzen oder ihren Einsatz anzudrohen, Kernwaffen zu lagern oder die Verfügungsgewalt darüber unmittelbar oder mittelbar anzunehmen und Kernwaffen über ihr Staatsgebiet zu transportieren.

Es ist ein Skandal, dass die Bundesregierung, zwar mit wohlfeilen Lippenbekenntnissen, eine Welt ohne Atomwaffen zu befürworten, in der Uno gemeinsam mit den anderen Nato-Staaten gegen die Aufnahme der Verbotsverhandlungen gestimmt, und, gemeinsam mit den Atommächten, die Verhandlungen in der Uno boykottiert hat.

Der Atomwaffenverbotsvertrag war ein Ziel des jahrzehntelangen Kampfes der weltweiten Bewegung gegen die atomare Aufrüstung und auch des jahrzehntelangen Kampfes gegen die in Deutschland stationierten Atombomben.

Die Friedensbewegung Deutschland hat deshalb allen Grund, den Widerstand gegen die Beteiligung unseres Landes an der Atomkriegsstrategie der USA, gegen die in Büchel stationierten US-Atomwaffen, gegen die damit verbundene Gefahr eines Atomkrieges in Europa und für die Unterzeichnung des Atomwaffenverbotsvertrags auch unseres Landes verstärkt fortzusetzen.

Kündigung von Abrüstungsverträgen und neue atomare Aufrüstung

Obwohl sich alle Kernwaffenmächte, die ebenfalls den Atomwaffensperrvertrag von 1970 mitunterzeichnet haben, damals feierlich zur nuklearen Abrüstung verpflichtet haben, gibt es seit dieser Zeit leider keinerlei substanzielle Fortschritte in diese Richtung.

Es ist vor allem der Anspruch der USA auf Ausbau und Erhaltung ihrer weltweiten militärische Überlegenheit, der das Wettrüsten auch bei den Atomwaffen anheizt und weitere Abrüstungsmaßnahmen verhindert.

Bereits unter Präsident Obama hatte die US-Regierung beschlossen, ihr Atomwaffenarsenal in den kommenden 30 Jahren für 3.000 Milliarden Dollar- das sind 100 Mrd. jährlich- aufzurüsten.

2001 haben die USA einen der wichtigen Abrüstungsverträge, den sogenannten ABM-Vertrag von 1972, einseitig gekündigt, der die Errichtung von Raketenabwehrsystemen verboten hatte.

Darüber hinaus kündigte die US-Regierung im Februar 2019 den INF-Vertrag, bei dem es sich um den wichtigsten Vertrag über die atomare Abrüstung gehandelt hat. Er wurde 1987 von Reagan und Gorbatschow unterzeichnet und in dessen Folge sind, wie schon gesagt, Tausende von Mittelstrecken-Raketen bis zum Ende des „Kalten Krieges vernichtet worden (Fußnote 13).

Nach der Kündigung des ABM-Vertrages 2001 und des INF-Vertrages 2019 droht jetzt die Stationierung neuer Mittelstreckenwaffen und damit ein erneutes Wettrüsten zwischen den beiden größten Atommächten.

Im Zusammenhang mit der erfolgten Kündigung sowohl des ABM-Vertrags als auch des INF-Vertrags steht die Stationierung von angeblichen Raketenabwehrsystemen in Polen und Rumänien, die in den letzten Jahren erfolgt ist.

Diese inzwischen von den USA stationierten sogenannten "Aegis Ashore"-Systeme können "Abfangraketen" abfeuern, angeblich gegen eine Bedrohung aus dem Iran.

Diese Systeme können aber auch durch eine einfache Änderung der Programmierung Raketen gegen Bodenziele abschießen. Und sie können Marschflugkörper abfeuern und somit gegnerische Ziele bis weit hinter Moskau erreichen und zerstören.

Neben den bereits installierten Aegis-Ashore-Systemen in Rumänien und in Polen, die -wie gesagt- auch Mittelstrecken-Raketen abschießen können, planen die USA seit Längerem die Stationierung von neuen Hyperschall-Raketen mit dem Namen "Dark Eagle" (zu Deutsch: „schwarzer Adler“), die Moskau in etwa 20 Minuten erreichen können und ausgerechnet am früheren Standort der Pershing-II-Raketen, in Mainz-Kastel, aufgestellt werden sollen (Fußnote 14).

Auch die neuen taktischen B61-12-Atomwaffen, deren Stationierung in Europa im Rahmen der „Nuklearen Teilhabe“ inzwischen wahrscheinlich erfolgt ist, könnten die Hemmschwelle für einen Atomwaffeneinsatz weiter senken. In der Logik der US-Militärs macht die neue Bombe einen auf Europa begrenzten Atomwaffeneinsatz kalkulierbar, ohne einen atomaren Gegenschlag Russlands auf US-Territorium bzw. einen globalen Atomkrieg zu riskieren.

Ein „begrenzter“ Atomwaffenkrieg zwischen den USA und Russland in Europa würde aber sehr wahrscheinlich auch das Ende Deutschlands bedeuten, von den sonstigen Folgen eines derartigen Krieges einmal ganz abgesehen, auf die ich hier nicht näher eingehen kann (Fußnote 15).

Geplante Stationierung neuer Mittelstreckenraketen verschärft nukleare Bedrohung

Mittelstreckenwaffen sind, wie dargestellt, keine Defensivwaffen, sondern aufgrund ihrer kurzen Vorwarnzeit Waffen für den atomaren Erstschlag. Damit wächst die Gefahr eines Atomkrieges in Europa.

Am Rande des letzten Nato-Gipfels in Washington im Juli dieses Jahres ist mehr beiläufig bekannt gegeben geworden, dass die USA von 2026 an in Deutschland weitere zerstörerische Waffensysteme stationieren wollen, die weit bis nach Russland reichen sollen. Die Ampelregierung hat dem schon zugestimmt, ohne dass darüber im deutschen Bundestag eine Debatte erfolgt ist.

Zum ersten Mal seit Ende des Kalten Krieges sollen jetzt in Deutschland wieder US-Raketen stationiert werden, die Russland treffen können. Dieser Tabubruch wird wahrscheinlich einen gefährlichen neuen Rüstungswettlauf einläuten, der keine Sicherheit, sondern kommende Katastrophen vorbereiten kann.

Darunter sollen Marschflugkörper vom Typ Tomahawk mit einer Reichweite von bis zu 2500 Kilometern sein, die technisch gesehen auch nuklear bestückt sein können, sowie Flugabwehr-Kurzstreckenraketen vom Typ SM-6 und auch neu offensive entwickelte Hyperschallraketen.

Russland und China haben auf diese Ankündigung scharf reagiert.

Der Kreml-Sprecher Peskow sagte auf eine entsprechende Frage eines russischen Fernsehjournalisten:

„Unser Land steht im Fadenkreuz amerikanischer Raketen in Europa. Wir haben das alles schon einmal durchgemacht“. Russland habe die Fähigkeit zur Abschreckung dieser Raketen. „Aber das potenzielle Opfer sind die Hauptstädte dieser Staaten“, fügte er hinzu.

Die IPPNW hat zu den höchst alarmierenden Plänen zur Stationierung von neuen Mittelstreckenraketen in Deutschland in einer Presseerklärung vom 17.07.2024 ebenfalls klar Stellung bezogen (Fußnote 16). Dort heißt es u. a.:

„Die ärztliche Friedensnobelpreisträger-Organisation IPPNW kritisiert die Beschlüsse der Nato als weitere Stufe der Eskalation und als brandgefährlich. Mit der Ankündigung der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen vom Typ Tomahawk in Deutschland sollen erstmals seit dem Abzug der atomaren Mittelstreckenraketen im Jahr 1991 im Zuge des INF-Abkommens wieder Raketen auf deutschem Boden stationiert werden.

Tomahawks können mit konventionellen oder atomaren Sprengköpfen bestückt werden. Am 1. Februar 2019 hatten die USA das INF-Abkommen zum Verzicht auf atomare Mittelstreckenraketen aufgekündigt.

Zudem ist die Einrichtung eines neuen Ukraine-Kommandos in Wiesbaden ein weiterer Eskalationsschritt, der Deutschland tiefer in den Krieg hineinzieht.

Der Konflikt um die Entwicklung der sowjetischen SS-20-Raketen und der Nato-Doppelbeschluss im Jahr 1979 hatte die Welt damals an den Rand eines Atomkriegs gebracht. Wer den Krieg verhindern will, muss den Frieden vorbereiten, statt weitere Schritte in Richtung atomarer Eskalation zu gehen“, erklärt die IPPNW-Vorsitzende Dr. Angelika Claußen.

Verteidigungsminister Pistorius erklärte die Stationierung in Deutschland zu einer bloßen Abschreckungsmaßnahme. Russland habe in der Vergangenheit ähnliche Waffensysteme stationiert, etwa in Kaliningrad. Nun gehe es lediglich darum, »diese Fähigkeitslücke zu schließen«.

Inzwischen ist aber bekannt geworden, dass die Einrichtung der sogenannten Multi-Domain Task Force (MDTF) in Deutschland mit den genannten verschiedenen Raketentypen spätestens im April 2021, also vor dem Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine, beschlossen worden ist (Fußnote 17).

„Tatsächlich dürften aber handfeste politische Gründe vorliegen, wieso die Entscheidung gerade jetzt bekannt gegeben wurde: Deutschland möchte seine Rolle innerhalb der Nato stärken und gegenüber der Weltgemeinschaft Handlungsbereitschaft und Willensstärke demonstrieren“, meinen Juliane Hauschulz und Xanthe Hall von der IPPNW in einem aktuellen Beitrag zu diesem Thema (Fußnote 18).

Ein Blick in die Geschichte verdeutlicht jedoch die Tragweite der Entscheidung der Bundesregierung. Bereits während des Kalten Krieges drohte Europa immer wieder, zum atomaren Schlachtfeld zu werden. Und auch damals spielte die Stationierung von Tomahawks in Westeuropa eine wichtige Rolle.

Das Abrüstungsabkommen – der INF-Vertrag – zwischen den USA und der Sowjetunion über nukleare Mittelstreckensysteme führte im Ergebnis dazu, dass die Tomahawks Ende der 1980er Jahre unter Ronald Reagan zusammen mit den Pershing-II-Raketen aus Deutschland abgezogen wurden.

Aber wie schon dargestellt, ist der INF-Vertrag 2019 von den USA einseitig gekündigt worden, sodass das atomare Wettrüsten in Zukunft wieder ungebremst Fahrt aufnehmen kann.

Schlussfolgerungen:

  1. Der Einsatz von Atomwaffen im Ukraine-Krieg oder anderswo wäre die ultimative Katastrophe (Fußnote 19 und 20) und darf niemals zugelassen werden.
  1. Je länger der Krieg in der Ukraine andauert, desto eher besteht die Gefahr, dass sich daraus ein Dritter Weltkrieg entwickelt, in dem auch Atomwaffen zum Einsatz kommen könnten.
  1. Deshalb muss der Ukraine-Krieg so schnell wie möglich auf diplomatischem Wege mit Kompromissen von Seiten aller Beteiligten beendet werden, bevor die Welt in ein Chaos gestürzt wird.
  1. Es mangelt nicht an Friedensvorschlägen, insbesondere aus Ländern wie China und Brasilien. Die jetzige deutsche Regierung hüllt sich diesbezüglich leider in Schweigen.
  1. Aus der Ukraine wird berichtet, dass eine Meinungsumfrage vom 15. Juli ergeben hat, dass 44 Prozent der ukrainischen Bevölkerung, die Meinung geäußert habe, dass es Zeit ist, mit Russland Friedensverhandlungen zu beginnen.
  1. Auch eine Mehrheit der Deutschen ist der Meinung, dass der Westen, und damit vor allem auch unsere Bundesregierung, Verhandlungen über eine Beendigung des Krieges in der Ukraine anstoßen sollte.
  1. Waffenlieferungen aus Deutschland (und anderen Ländern) können den Krieg in der Ukraine dagegen nur verlängern und dazu beitragen, dass das Sterben von Ukrainern und Russen und die Zerstörungen in der Ukraine weitergehen und die von dort ausgehende nukleare Bedrohung auch unseres Lebens weiter anhält.
  1. Sehr zu hoffen ist, dass die Antwort auf die durch nichts zu rechtfertigenden Gefahren einer weiteren Eskalation aufgrund der geplanten Aufstellung der neuen Mittelstreckenraketen in Deutschland eine Auferstehung der Friedensbewegung in Deutschland sein wird, d. h. eine Friedensbewegung 2.0.
  1. Ein Kristallisationskern einer Friedensbewegung 2.0 könnte die geplante bundesweite Demonstration am 3. Oktober in Berlin sein.
  1. Caitlin Johnstone, eine bekannte unabhängige australischen Journalistin, hat die folgende nachdenkenswerte Einschätzung abgegeben, die ich zum Schluss noch anführen möchte (Übersetzung von KDK; Fußnote 21):  „Für jüngere Menschen ist es schwer zu verstehen, dass das gleiche nukleare Armageddon-Szenario, über das sich ihre Eltern und Großeltern früher Sorgen gemacht haben, immer noch existiert. Wenn jedoch eine kritische Masse der Bevölkerung wirklich verstehen würde, dass ihr Leben aus keinem anderen Grund als der Bereitschaft des US-Imperiums, alles zu riskieren, um ihre Hegemonie, d. h. ihre weltweite Vorherrschaft auf dem Planeten, zu sichern, durch einen Atomkrieg bedroht ist, würde es für die Machthaber sofort schwieriger werden, mit ihr so umzugehen, wie sie es wollen.“

Fußnoten:

  1. Annie Jacobsen: 72 Minuten bis zur Vernichtung. Atomkrieg- ein Szenario. Heyne Verlag, München 2024, S. 34
  1. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1086264/umfrage/geschaetzte-zivile-todesopfer-und-verletzte-in-hiroshima-und-nagasaki/#:~:text=Am%2006.%20und%20am%2009.%20August%201945%20z%C3%BCndete,Todesopfern%20und%20in%20Nagasaki%20zu%20etwa%2064.000%20Opfern.
  1. https://www.telepolis.de/features/Ukraine-Krieg-Einsatz-von-Atomwaffen-wieder-moeglich-7334432.html
  1. Annie Jacobsen: 72 Minuten bis zur Vernichtung. Atomkrieg- ein Szenario. Heyne Verlag, München 2024
  1. https://www.telepolis.de/features/Die-10-gaengigsten-Propaganda-Thesen-zum-Ukraine-Krieg-kurz-erklaert-9617603.html
  1. Wir werden euch nicht helfen können. Ärzte gegen den Atomkrieg. Herausgegeben von Till Bastian 1983                                                                           https://www.amazon.de/werden-nicht-helfen-k%C3%B6nnen-Atomkrieg/dp/3885920492
  1. https://overton-magazin.de/hintergrund/politik/gefahr-des-einsatzes-von-atomwaffen-wieder-real/
  1. https://en.wikipedia.org/wiki/Nuclear_close_calls
  1. https://de.wikipedia.org/wiki/Stanislaw_Jewgrafowitsch_Petrow
  1. https://de.richarddawkins.net/articles/frohen-petrow-tag
  1. https://www.sipri.org/yearbook/2024
  1. https://de.wikipedia.org/wiki/Strategic_Arms_Reduction_Treaty
  1. Scott Ritter: Disarmament in the time of Perestroika. Arms Control and the End oft he Soviet Union. Clarity Press, 2022
  1. https://www.ippnw.de/frieden/konflikte-kriege/ukraine/artikel/de/hyperschallkriege-eine-neue-aera-des.html
  1. https://www.telepolis.de/features/Neue-Studien-zu-nuklearer-Hungersnot-7240037.html
  1. https://www.ippnw.de/startseite/artikel/de/ippnw-kritisiert-plaene-zur-stationie.html
  1. https://overton-magazin.de/top-story/swp-rechtfertigt-stationierung-von-us-mittelstreckenraketen-keine-grossen-zusaetzlichen-risiken/
  1. Juliane Hauschulz und Xanthe Hall: Die Stationierung von US-Raketen verschärft die nukleare Bedrohung. Jacobin 24.07.2024   https://www.jacobin.de/artikel/mittelstreckeraketen-atomwaffen-usa-deutschland-nato-gipfel-inf-vertrag
  1. https://overton-magazin.de/hintergrund/politik/nukleares-armageddon-unmittelbare-und-laengerfristige-auswirkungen-eines-moeglichen-atomkriegs/
  1. https://overton-magazin.de/hintergrund/politik/nuklearer-winter-laengerfristige-auswirkungen-eines-moeglichen-atomkriegs/
  1. Johnstone C. A nuklear state of denial. Consortium News, June 24, 2022  https://consortiumnews.com/2022/06/24/caitlin-johnstone-a-nuclear-state-of-denial/

Erstveröffentlichung dieses Artikels am 12.08.2024 im Overton-Magazin:

https://overton-magazin.de/hintergrund/politik/frieden-durch-diplomatie-statt-weiterer-eskalation-bis-zum-atomkrieg

Autor: Klaus-Dieter Kolenda

E-Mail-Kontakt: klaus-dieter.kolenda@gmx.de

   

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