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Vor 60 Jahren:
Der große Streik für Lohnfortzahlung.
22.10.2016: Die IG Metall Kiel-Neumünster erinnert in diesen Wochen mit einer Reihe von Veranstaltungen (Vorträgen, Fotoausstellung Stadtrundgang) an zwei wichtige Ereignisse in der Geschichte der Metaller: Der Dachverband der Metallarbeitergewerkschaften wurde vor 125 Jahren gegründet und die Arbeiterinnen und Arbeiter der schleswig-holsteinischen Metallindustrie streikten vor 60 Jahren 16 Wochen lang für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Peter Seeger, 1. Bevollmächtigter und Geschäftsführer der IGM leitete die Auftaktveranstaltung im Kieler Gewerkschaftshaus mit der Feststellung ein: „Geschichte wiederholt sich nicht und die gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen sind im ständigen Wandel. Das ist richtig, dennoch gilt auch eine alte Weisheit: Wenn du nicht mehr weißt, wohin du gehst, dann dreh dich um und schau, woher du kommst.“
Als Schussfolgerungen aus dem großen Streik der Metallarbeiter 1956/57 für gegenwärtige Arbeitskämpfe hob er folgende fünf Punkte hervor: Erstens: Die Betroffenen müssen sich selbst auf den Weg machen. Zweitens: Gerechtigkeitsfragen bewegen Menschen. Drittens: Erfolgreiche betriebliche Bewegungen gibt es nur bei Einbeziehung des sozialen Umfeldes. Viertens: Die aktive Einbeziehung der Kolleg*innen muss von gewerkschaftlicher Seite von Anfang an ernst gemeint sein. Fünftens: Politische Themen bewegen Menschen – Menschen wollen Politik bewegen. Peter Seeger verwies dabei auf die aktive Beteiligung der Gewerkschaften bei den Kämpfen gegen die Notstandsgesetzgebung, ihr Engagement in der Friedensbewegung der 80er Jahre und aktuell im Kampf gegen die geplanten Freihandelsabkommen CETA/TTIP.
Worum ging es bei dem Streik der schleswig-holsteinischen Metallarbeiter*innen vor 60 Jahren?
Mitten im sogenannten „Wirtschaftswunder“ erlebte Schleswig-Holstein einen bundesweit einmaligen Arbeitskampf. Zwischen Oktober 1956 und Februar 1957 streikten landesweit Beschäftigte der Metallindustrie 114 Tage lang. Es war der längste Streik in der deutschen Geschichte seit dem Jahre 1905. Im Ergebnis erkämpften sich die Metallarbeiter*innen die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Am 24. Oktober 1956 legten mit Beginn der Frühschicht über 18 000 Metallarbeiter*innen in 15 schleswig-holsteinischen Betrieben die Arbeit nieder; maßgeblich beteiligt waren vor allem die Werftarbeiter. Außer auf den Howaldtwerken in Kiel kam auch auf den Werften in Lübeck, Flensburg, Elmshorn, Lauenburg und Rendsburg die Arbeit vollständig zum Erliegen.
„Wir wollen nicht länger Menschen zweiter Klasse sein!“
Wofür kämpften die Metallarbeiter? Die zentrale Forderung der IG Metall war die nach Lohnausgleich im Krankheitsfall und damit die Gleichstellung mit den Angestellten. „Wir wollen nicht länger Menschen zweiter Klasse sein!“ lautete eine schlagkräftige Losung.
Die Gewerkschaft verdeutlichte ihre Forderungen an einem Beispiel: Ein Arbeiter mit Frau und zwei Kindern verdiente für 28 Tage Brutto 406,80 DM. Nach Abzug von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen verblieben ihm 350.30 DM. Wenn dieser Arbeiter krank wurde, bekam er an den ersten 3 Tagen (Karenzzeit) gar kein Geld, dann für 9 Tage Hausgeld von insgesamt 58,86 DM und 16 Tage Krankengeld in Höhe von 116,32 DM. In den vier Wochen seiner Krankheit erhielt er daher nur 175,18 DM. Seine Einkommensminderung betrug also die Hälfte seines normalen Verdienstes.
Die Arbeitgeber wiesen die Forderungen der Gewerkschaft mit der Begründung zurück, dass diese zu einer zu starken finanziellen Belastung der Betriebe führten, die Arbeitsplätze gefährden und die gesamte heimische Wirtschaft belasten würden. In einer Urabstimmung der IG Metall sprachen sich 77,7 % der schleswig-holsteinischen Metaller für den Arbeitskampf aus.
Daraufhin traten am 24. Oktober Metallarbeiter zwischen Flensburg und Lauenburg in den unbefristeten Streik. Er begann als Schwerpunktstreik in den gewerkschaftlich am besten organisierten Werftbetrieben und Maschinenfabriken. Mitte November ging die zentrale Streikleitung, die ihren Sitz in Kiel im Gewerkschaftshaus hatte, dazu über, auch kleinere Betriebe in den Streik einzubeziehen. Insgesamt wurde der Arbeitskampf bis zum 11. Januar 1957 auf 38 Betriebe mit 34 000 Beschäftigten ausgedehnt. Bei den Howaldtswerken z. B. beteiligten sich von 11 500 Lohnempfängern knapp 10.000 an den Streikaktionen.
Täglich wurden die „Streik Nachrichten“ der IG Metall-Bezirksleitung an die Arbeiter verteilt, um sie über den Stand der Verhandlungen zu unterrichten; bis zum Ende des Streiks erschienen 80 Ausgaben. Auf montäglichen Streikversammlungen und auf mehreren Großkundgebungen an den großen Streikorten wurde die Streikbereitschaft der Kolleg*innen „am Kochen gehalten.“
Zusätzlich wurde eine Vielzahl von Unterhaltungsveranstaltungen organisiert, die den Zweck verfolgten, die Streikenden und ihre Familien zusammenzuführen und ihnen dadurch das Bewusstsein zu geben, dass sie in diesem Kampf nicht allein sind. Zu diesem Programm gehörten Streikrevuen in der Kieler Ostseehalle, Kabarettveranstaltungen, Operettenabende, kostenlose Kinovorführungen, Skat- und Schachturniere; zur Weihnachtszeit veranstaltete die Gewerkschaft landesweit Weihnachtsfeiern.
Aus dem ganzen Bundesgebiet wie auch aus anderen Ländern kamen Solidaritätsbekundungen und Solidaritätsspenden. So schrieben z.B. die Essener Krupp-Arbeiter: „Wir Arbeiter der Krupp-Werke in Essen haben erkannt, daß Ihr im Interesse aller Metallarbeiter in der Bundesrepublik handelt. Wir erklären uns mit Euch solidarisch. Gebt den Streik nicht früher auf, bevor nicht die Forderungen erfüllt sind.“
Dänische Werftarbeiter erklärten, dass sie nicht bereit seien, Arbeiten auszuführen, die von bestreikten bundesdeutschen Werften an dänische Werften übergeben werden könnten, der Vorsitzende der United Steel Workers of America sandte ein Solidaritätstelegramm. Der Internationale Gewerkschaftsbund in Prag behandelte den Streik ausführlich, vom Freien Deutschen Gewerkschaftsbund aus der DDR gingen Solidaritätsspenden ein.
CDU-Regierungen und Medien auf Seiten der Unternehmer
Die IG Metall sah sich von Beginn des Streiks an einer beispiellosen Hetzkampagne ausgesetzt. „Die Arbeiter wollen das Blaumachen und Faulenzen tariflich verankern“ scholl ihnen von Unternehmern, Politikern und Medien entgegen. Von Unternehmerseite wurde mit Massenentlassungen und Aussperrungen gedroht, Mitarbeiterbriefe an die Kolleg*innen und Familien, in denen die Unternehmer auf angebliche Existenzgefährdungen der bestreikten Betriebe an die wand malten, sollten Verunsicherung und das Aufbrechen der Solidarität schaffen.
Die Adenauer-Regierung in Bonn und die Landesregierung unter Kai Uwe von Hassel (CDU) in Kiel versuchten mit Hilfe der Medien die Moral und Kampfkraft der Metaller zu brechen. So behauptete der damalige Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, die Metallarbeiter setzten den Wiederaufbau Deutschlands aufs Spiel und untergrüben den Wirtschaftsstandort Deutschland. Auf große Empörung stieß eine Maßnahme des schleswig-holsteinischen Innenministers Dr. Lemke (CDU). Der Altnazi ließ ein Exposé an alle Polizeidienststellen verbreiten, in dem Streikposten als Terroristen bezeichnet wurden. Eine gerichtliche Abfuhr erlebten die Metallunternehmer, die in Anzeigen die Behauptung aufstellten, dass der Streik längst zu Ende gewesen wäre, wenn die Arbeiter durch den Terror der zentralen Streikleitung am Betreten ihrer Werke nicht gehindert worden wären. Diese Äußerungen wurden vom Arbeitsgericht in einer einstweiligen Verfügung verboten, weil es sich um einen legalen Streik handele, der nach erfolgter Urabstimmung beschlossen worden sei.
Und selbstverständlich wurde auch auf antikommunistische Stimmungsmache gesetzt. So erklärte der Vorsitzende der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände, Dr. Paulssen: „Eine Gewerkschaft, die einen Streik wie in Schleswig-Holstein beginnt, arbeitet der verbotenen Partei (KPD) in die Hände.“ Und die "Kieler Nachrichten" stellten fest, dass noch keine tariflichen Streitigkeiten vorüber gegangen seien, "bei denen sich nicht radikale Kräfte (Kommunisten oder Personen aus der Sowjetzone) eingeschaltet haben.“
Streik, Tarifverhandlungen und Schlichtungsgespräche
Im Dezember wurden erste Schlichtungsverhandlungen geführt. Der Einigungsvorschlag der Schlichtungsstelle wurde aber von der Großen Tarifkommission der IG Metall abgelehnt. Auch 97% der im Ausstand befindlichen Metallgewerkschaftler sprachen sich in einer Urabstimmung gegen den Einigungsvorschlag aus. In dieser Situation wandte sich Ministerpräsident von Hassel an Bundeskanzler Konrad Adenauer, der daraufhin die Tarifparteien am 17. Januar 1957 zu einer Besprechung ins Kanzleramt einlud. Das Ergebnis der Bonner Verhandlungen wurde in einer Urabstimmung am 30. Januar mit 76% verworfen. Die Gewerkschaftsführung beschloss die Weiterführung des Streiks, rief aber gleichzeitig, um den „Risiken eines ausgedehnten Streiks mit politischen Konsequenzen“ auszuweichen, die freiwillige Schlichtungsstelle an, die am 8. Februar in Kiel zusammentrat und schon einen Tag später einen verbesserten Vorschlag vorlegte. Mit nur zwei Gegenstimmen wurde er von der Tarifkommission befürwortet und den Streikenden zur Annahme empfohlen.
Zwar sprachen sich in einer weiteren Urabstimmung am 13. Februar 1957 39,66% der Streikenden für und 57,66 % gegen eine Annahme aus. Da aber 75% der Stimmen für die Fortführung des Arbeitskampfes nach der Satzung notwendig gewesen wären, war der Streik damit beendet.
Das Ergebnis des Arbeitskampfes
Wie die Urabstimmung vom Februar gezeigt hat, war das Ergebnis der Kieler Verhandlungen bei den Metallarbeitern nicht unumstritten. Es war letztlich zwischen den Tarifparteien zu einem Kompromiss gekommen, der folgendermaßen aussah:
Das Ergebnis des Arbeitskampfes
Wie die Urabstimmung vom Februar gezeigt hat, war das Ergebnis der Kieler Verhandlungen bei den Metallarbeitern nicht unumstritten. Es war letztlich zwischen den Tarifparteien zu einem Kompromiss gekommen, der folgendermaßen aussah:
Die Höhe des Lohnausgleichs im Krankheitsfall beträgt 90% des Nettolohns. Die Wartezeit (Anzahl der Karenztage) wird von sieben auf vier Tage verkürzt.
Bei einer Krankheitsdauer von mehr als einer Woche werden eineinhalb Karenztage voll bezahlt. Nach einer Krankheitsdauer von mehr als zwei Wochen werden drei Karenztage mit dem Nettoverdienst bezahlt.
Lohnfortzahlung wird bei jedem Arbeitsunfall unabhängig von der Dauer der Betriebszugehörigkeit gewährt.
Nur wenige Monate nach Beendigung des Streikes in Schleswig-Holstein verabschiedete der Bundestag das „Gesetz zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfall“, wobei sich der Gesetzgeber an den Ergebnissen in Schleswig-Holstein orientierte. So profitierten auch Arbeiter in der gesamten Bundesrepublik von dem Erfolg der Metaller in Schleswig-Holstein. Am 1. Januar 1970 trat dann das „Gesetz über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfall“ in Kraft. Seit dieser Zeit entfallen die Karenztage gänzlich und Arbeiter und Angestellte sind im Krankheitsfalle gleichgestellt.
Rolle der Kommunisten
Bereits während des Arbeitskampfes wurden von Regierungs- und Pressekreisen Vermutungen über den hohen Anteil von Gegenstimmen bei der Abstimmung des Kompromissvorschlages am 30.1.57 geäußert - und dies einer angeblichen „kommunistischen Beeinflussung“ zugeschrieben. Zur Erinnerung: Die KPD war kurze Zeit vor Beginn des Streiks - am 17. August - vom Bundesverfassungsgericht verboten, die Partei und die GenossInnen damit in die Illegalität gedrängt worden. Trotzdem blieben die kommunistischen KollegInnen durch ihre jahrelange Arbeit in den Betrieben bekannt, wie z.B. Hein Wadle in Kiel, der 1953 für die Bundestagswahlen der Kandidat der KPD in Kiel war und 1956 zum Vorsitzenden der Vertrauensleute der IGM bei der größten Werft, der Howaldtwerke, gewählt wurde. Bis zum Parteiverbot wurden allein vor der Werft wöchentlich rund 500 Exemplare des„Norddeutschen Echos", der KPD-Landeszeitung, verkauft. Auch während des Streiks erschien diese Zeitung und das „Freie Volk“, das Zentralorgan - nun illegal herausgegeben - regelmäßig. In ihnen rief die KPD die Gewerkschaft dazu auf, den auf Schleswig-Holstein begrenzten Streik auszuweiten.
Im „Freien Volk" vom November 1956 steht unter der Überschrift „Solidaritätsstreiks sind die beste Hilfe": „Hut ab vor soviel Kampfmoral! Aber dennoch taucht die Frage auf, ob es denn überhaupt notwendig ist, daß sich der Streik endlos lange hinziehen muß. Wenn die Arbeiter und ihre Gewerkschaften alle Kräfte einsetzen, braucht das ganz gewiß nicht sein; sie sitzen am längeren Hebel. ... Bei Solidaritätsstreiks der Metallarbeiter an Rhein und Ruhr würden die Unternehmer schnell Wasser in die Ohren bekommen und sehr bald kleine Brötchen backen. Sie würden einsehen müssen, daß den berechtigten Forderungen der Arbeiter nicht auszuweichen, sondern zu entsprechen ist. Auf solche Weise könnte der neue Rahmentarifvertrag noch vor Weihnachten unter Dach und Fach sein.“ Die Forderungen nach einer Ausweitung des Streiks und verstärkter Solidarität wurde Anfang Januar 1957 durch einzelne Beschlüsse von Gewerkschaftsgremien unterstützt. So fasste die IG Metall Gelsenkirchen den Beschluss, die Streikenden mit einem 24-stündigen Solidaritätsstreik zu unterstützen, wenn die Forderungen nicht innerhalb von 14 Tagen erfüllt würden.
Die Betriebsratswahl 1957 nach Beendigung des Streiks macht deutlich, dass die politische und gewerkschaftliche Tätigkeit der KommunistInnen von den ArbeiterInnen anerkannt wurde. Auf der Howaldtswerft erhielt Hein Wadle die meisten Stimmen, von den 25 neuen Betriebsrats- Mitgliedern gehörten acht der früheren KPD an. Im bundesdeutschen Blätterwald fragte man sich: "Was geht bei Howaldt vor?"„ Neuer Howaldt-Betriebsrat: Jeder dritte ein Kommunist! Alarmierendes Ergebnis der Betriebsratswahlen auf Deutschlands größter Werft“, so die „Kieler Nachrichten“. Das Ergebnis der Betriebsratswahlen sei auch eine Folge des Streiks, so die auflagenstärkste Zeitung Schleswig-Holsteins, denn während des Arbeitskampfes habe die Werftleitung zum Mittel der ungerechtfertigten Kündigung von Arbeitern und Angestellten gegriffen. Ähnlich äußerte sich "Die Welt". "Wadle ist ein geschickter und kluger Agitator, der SED-Parteischulen in der Zone besucht hat. In der Meinung der Belegschaft ist er aber auch ein guter Kollege."
Text/Fotos: gst