Beiträge
Flüchtlingsrat SH, Landeszuwanderungsbeauftragter SH und Nordkirche fordern:
Afghanistan-Aufnahmeprogramme und Bleiberecht für Afghan*innen
Die Situation in Afghanistan hat – auf unabsehbare Zeit – dramatisch verschlechtert. Die Taliban haben gewaltsam die Kontrolle über das Land übernommen und inzwischen eine international nicht anerkannte Regierung gebildet. Aus Afghanistan erreichen uns alarmierende Nachrichten von Verfolgungsgewalt und einer zunehmenden Zahl Geflüchteter.
Aber auch für in Deutschland lebende Afghan *innen ist die Situation hochgradig belastend und herausfordernd. Die Bundesrepublik steht nach dem Abzug der Bundeswehr in der Verantwortung. Schnelles und konsequentes Handeln auf Bundes- und Landesebene ist geboten, die verfassungsmäßigen und gesetzlichen Regelungen in Asyl- und Aufenthaltsgesetz müssen im Sinne der Schutzsuchenden großzügig und konsequent angewendet werden.
Mit Blick auf die Unterstützungsbedarfe von gefährdeten Menschen in Afghanistan und auf die hierzulande im prekären Status eines noch nicht verfestigten Aufenthaltes lebenden Afghan*innen appellieren die Unterzeichnenden an die Bundes- und die Landesregierung umgehend im Interesse der betroffenen Menschen wie folgt tätig zu werden:
1. Konsequente ermessenspositive Anwendung von asyl- und aufenthaltsgesetzlichen Normen und Regelungen im Hinblick auf Aufenthaltsverfestigungen – zügige Bearbeitung von Folgeverfahren und anhängigen Asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren sowie Gewährung von Asyl oder subsidiärem Schutz
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge muss nun sofort Folgeverfahren von zuletzt abgelehnten Asylverfahren ermöglichen und zügig bearbeiten. Menschen in Afghanistan droht momentan nicht nur grundsätzlich „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit […] infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“. Afghanischen Asylsuchenden muss also mindestens subsidiärer Schutz nach §4 AsylG zuerkannt werden.
Für viele, etwa Frauen oder Angehörige von ethno-religiösen Minderheiten, ist voraussichtlich zudem auch die Zuerkennung einer Flüchtlingseigenschaft nach §3 AsylG zu prüfen, und zwar aufgrund von Verfolgung wegen ihrer Ethnie, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. In beiden Fällen ist gemäß § 25 Absatz 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
Unabhängig davon sollten die lokalen Ausländerbehörden wiederum bereits jetzt von sich aus aktiv werden, und den bis dato Geduldeten und formal Ausreisepflichtigen bereits jetzt gemäß der Vorgaben von §25 Abs. 5 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilen, da ihre „Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist“. Ebenso ist die Möglichkeit eines Aufenthalts nach § 25a oder § 25b AufenthG auch in diesem Fall zu prüfen.
Das ggf. erteilte Verbot jeglicher Erwerbstätigkeit sollte in allen Fällen zügig aufgehoben werden.
Zugang zu Sprachkursen und Integrationsangeboten ist so schnell wie möglich und auch vor der abschließenden Bearbeitung von Folgeanträgen oder anhängigen Verfahren zu gewähren.
Afghanische Staatsbürger*innen dürfen zudem grundsätzlich nicht weiter an die afghanische Botschaft verwiesen werden – das Einfordern von Dokumenten aus einer Vertretung, die von einer völkerrechtlich nicht anerkannten Miliz kontrolliert wird, ist weder legal noch legitim.
2. Zügige Planung und Umsetzung von Bundes- und Landesaufnahmeprogrammen
Dass der Bund offenbar ein Bundesprogramm und die Zustimmung zu landeseigenen Aufnahmeprogrammen zur Aufnahme von afghanischen Geflüchteten verwehrt, ist ein humanitärer Skandal. Die offensichtlichen Gefährdungslagen machen ein Bundesaufnahmeprogramm nach § 23 Abs. 2 AufenthG dringend. Dabei muss die schnelle und unbürokratische Aufnahme im Vordergrund stehen, die Prüfungskriterien müssen niedrigschwellig angelegt werden. Kriterium sollte hier die Vulnerabilität sein. Akut und besonders gefährdet sind u.a. ehemalige Ortskräfte und ihre Familien, Frauen und Mädchen, Journalist*innen, Menschenrechtsaktivist*innen, Kulturschaffende oder LBGTIQ*.
Zusätzlich sind die Möglichkeiten eines Resettlement-Programms entsprechend § 23 Abs. 4 AufenthG zu prüfen, um zur Entlastung der besonders betroffenen Nachbarländer beizutragen. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass es nicht zielführend ist in Fragen der humanitären Hilfe auf die Staaten zu zählen, die maßgeblich für die Instabilität in Afghanistan mitverantwortlich sind.
Wir appellieren an die Landesregierung, ein Landesaufnahmeprogramm entsprechend § 23 Abs. 1 AufenthG zu prüfen. Dieses sollte unabhängig von sogenannten Verpflichtungserklärungen aufgelegt werden, da davon nur Personen profitieren können, deren hier lebende Verwandte sehr gut verdienen. Stattdessen sollte Vulnerabilität im Vordergrund stehen. Beim Festhalten an der Voraussetzung einer Verpflichtungserklärung entsprechend § 68 AufenthG sollten jedoch zwingend die Krankenkosten vom Land übernommen, ein schneller und unbürokratischer Zugang zur Sprachförderung ermöglicht, ein schneller und unbürokratischer Zugang zu Ausbildungs- und Erwerbsmöglichkeiten geschaffen und eine Bürgschaft von mehreren Personen bzw. die damit verbundene Kostenteilung ermöglicht werden.
3. Ermöglichung von Familiennachzug und Entlastung des konsularischen Personals
Medienberichten zufolge gibt es in Kabul keine geschäftsfähige Deutsche Botschaft. Das Auswärtige Amt muss die Kapazitäten der deutschen Botschaften in den Nachbarstaaten sowie in der Türkei dringend ausbauen, damit das konsularische Personal von Abläufen von Landes-, Bundes und Resettlementaufnahmeprogrammen sowie Angelegenheiten des Familiennachzugs nicht überfordert werden. Zurzeit laufen viele Verfahren zum Familiennachzug, die oft an praktischen Hürden und einer enormen Bürokratie scheitern. Aktuell sind laut Pro Asyl ca. 3.000 Anträge auf Familiennachzug mitunter seit Jahren blockiert. Es müssen dringend die Bedingungen für wesentlich schnellere Termin- und Visavergaben geschaffen werden. Insbesondere ist es in Afghanistan nicht mehr möglich, die notwendigen Sprachzertifikate A1 zu bekommen – dies könnte in kürzester Zeit in Deutschland nachgeholt werden. Von nun unerfüllbaren Vorgaben wie dieser muss abgesehen werden.
• Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V., Martin Link,
• Stefan Schmidt, Landesbeauftragter für Flüchtlings-, Asyl- und Zuwanderungsfragen Schleswig-Holstein
• Dietlind Jochims, Flüchtlings- und Menschenrechtsbeauftragte der ev. Luth. Kirche in Norddeutschland,
• Die Flüchtlingsbeauftragten in den e.v luth. Kirchenkreisen in Schleswig-Holstein
(Gemeinsame Erklärung am 8.9.2021)