Daten/Fakten  

   

Der Flüchtlingsrat SH zu den Landtagswahlen:

Wahlrecht für Alle!

Der Flüchtlingsrat SH legt dem Innen- und Rechtsausschuss des Landtags seine Stellungnahme zu zwei Anträgen zum Wahlrecht vor.

Am 2. Februar 2022 führte der Innen- und Rechtsausschuss des schleswig-holsteinischen Landtags eine Anhörung zum verbesserten Wahlrecht für Migrant*innen durch. Zugrunde lagen den Beratungen Anträge von SSW und SPD, die auf eine Erweiterung des Kommunal- bzw. Landtagswahlrechts für Eingewanderte ohne deutsche Staatsangehörigkeit abstellen.

Zwischen den Abgeordneten, verschiedenen Rechtswissenschaftler*innen und Vertretungen von Migrant*innenorganisationen entspann sich im Verlauf der Anhörung eine Diskussion darüber, ob eine Änderung des Wahlrechts nicht an der Hürde einer ggf. notwendigen Änderung der Verfassung scheitere.

„Wir mussten in den vergangenen Dekaden schmerzlich erfahren, wie leicht es der politischen Klasse bei Bedarf gefallen ist, die Verfassung zu Lasten von Geflüchteten oder anderen Migrant*innen zu schwächen“, zeigte sich Martin Link, Geschäftsführer beim Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein, über diese Debatte verwundert. „Vor diesem Hintergrund erscheint uns die ggf. notwendige Verfassungsänderung zur Ermöglichung einer Reform zugunsten des Wahlrechts für alle Migrant*innen als längst überfällige verfassungspolitische Wiedergutmachung.“

Bei der gestrigen mündlichen Ausschussanhörung trug Ari Kehr, Referent*in im AMIF-Projekt für verbesserte politische Partizipation von Migrant*innen beim Flüchtlingsrat, die Position des Vereins  vor: „Es entspricht unseres Erachtens dem demokratischen Grundprinzip, dass es seine Legitimation daraus erhält, dass die Menschen, die von Beschlüssen und Maßnahmen einer Regierung unmittelbar betroffen sind, sie diese auch mit wählen dürfen.“ Nichteingebürgerte Migrant*innen würden zwar als Steuerzahler*innen und als Erbringer*innen von Integrationsleistungen regelmäßig vom Staat in die Pflicht genommen und durch rassistische Angriffe und strukturelle Diskriminierung von der Mehrheitsgesellschaft herabgesetzt, blieben an den Wahlurnen aber ausgeschlossen.

Erschwerend käme mit Blick auf bald 20 Prozent der Bevölkerung nichtdeutscher Staatsangehörigkeit hinzu, dass „Wahlen, an denen nur ein Teil der Bevölkerung teilnehmen darf, darauf hinauslaufen, die Ergebnisse zu delegitimieren“, zeigt sich Ari Kehr besorgt und schlussfolgert: „Auf die Dauer droht damit eine folgenreiche Deformation der Demokratie“.

Wenn das demokratische System sich nicht der Wahlbeteiligung für Migrant*innen öffne und ihre Partizipation an politischen Entscheidungsprozessen auf allen Ebenen des föderalen Staatswesens ermögliche, würde damit sukzessive die Nachhaltigkeit der Integration von Einwandernden in die Einwanderungsgesellschaft konterkariert, befürchtet der Flüchtlingsrat.

„Wir stimmen der Einschätzung anderer Migrant*innenorganisationen zu, dass wer sich nicht willkommen und vielmehr bei der Beteiligung ausgeschlossen fühle, erfahrungsgemäß sein Interesse und Engagement auf die politischen Diskurse und Parteienlandschaften seines Herkunftslandes, anstatt auf die der neuen Heimat ausrichte“, erklärt Martin Link. (Presseerklärung 3.2.202)

Die beiden Anträge von SSW und SPD sowie die vollständigen Stellungnahmen des Flüchtlingsrates und anderer Organisationen sind auf der Web-Seite des Flüchtlingsrats verlinkt: https://www.frsh.de/artikel/stellungnahmen-zu-landtagsantraegen-zum-wahlrecht/

Unwort des Jahres 2021:

„Pushback“

Und wieder hat ein Wort der menschenfeindlichen Flüchtlingspolitik es geschafft zum Beginn des Jahres mediale Aufmerksamkeit zu bekommen. Wie jedes Jahr wurde das „Unwort des Jahres“ gewählt.

Eine Jury aus Mitgliedern der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) machte im Jahr 1991 den Anfang und losgelöst von deren Vorstand machten die Jurymitglieder als „Sprachkritische Aktion Unwort des Jahres“ seit 1994 weiter.

Die Jury sind vier Sprachwissenschaftler*innen und zwei Journalist*innen. Vorschläge für das Unwort können aus der Bevölkerung eingereicht werden.

Mit der Wahl zum „Unwort des Jahres“ soll auf "undifferenzierten, verschleiernden oder diffamierenden öffentlichen Sprachgebrauch" hingewiesen werden.

In den letzten Jahren haben bereits die Worte „Anti-Abschiebe-Industrie und Ankerzentrum“ (2018) sowie „Rückführungspatenschaften“ (2020) den denkwürdigen Titel erhalten.

„Pushback“ ist „Unwort des Jahres 2021“! 

Es scheint, dass jedes  „Unwort“ die politische Situation der jeweiligen Zeit spiegelt. Und damit auch hinweist auf die Veränderungen: ging es vorher noch darum, Geflüchtete und ihrem Recht auf Asyl in diesem Land zu widersprechen bzw. sie abzuschieben, kommt jetzt hinzu, Menschen auf der Flucht gar nicht erst nach Europa, geschweige denn Deutschland, einreisen zu lassen.

In vielen Medien wird nun, im Zusammenhang mit der „Auszeichnung“, über den „Pushback“ geschrieben er bedeute „zurückdrängen, zurückschieben“. Dies sind zwei der möglichen Übersetzungen. Eine weitere lautet: Zurückstoßen!

Da es um Sprache geht und mit der Wahl zum Unwort auch darum Begriffe zu demaskieren, sollte man auch bei der Übersetzung ehrlich sein. 

Der „Pushback“ richtet sich gegen Geflüchtete, die vor den Grenzen nach Europa illegal und mit Gewalt von einem Grenzübertritt abgehalten werden. Sie werden gezwungen wieder zurückzukehren in die Länder, aus denen sie geflohen sind oder in die Länder, in denen sie ihren letzten Aufenthaltsort hatten.

Diese Praxis der „Pushbacks“ wird an den Grenzen auf dem Land, aktuell insbesondere in Polen und Belarus, und auf dem Mittelmeer durch Grenzpolizei und Frontex durchgeführt. 

Menschen werden auf diese Weise daran gehindert ihr Asylrecht wahrzunehmen. Die Grenzen zu überwinden ist sehr oft mit Lebensgefahr verbunden. Grenzsoldaten versuchen das Übertreten von Grenzen auch mit Waffengewalt zu verhindern. Im Mittelmeer werden die oft ohnehin nicht seetauglichen kleinen Boote der Geflüchteten, mit den vielen Menschen an Bord, wieder zurückgetrieben und dem Meer überlassen. Von den zig-tausenden auf der Flucht im Mittelmeer ertrunkenen Menschen, sind auch die darunter, die von den Frontex-Einheiten zurückgestoßen wurden.

In der Ägäis, dem Teil des Mittelmeers zwischen der Türkei und Griechenland, werden immer wieder von der griechischen Küstenwache Geflüchtete zurück in türkische Gewässer gedrängt. 

Frontex, die europäische Grenzschutzpolizei, unterstützt bei diesen Aktionen nicht die Menschen auf der Flucht, sie retten nicht, sondern treiben mit „Pushbacks“ zurück auf das Meer. Seit Jahren gibt es an Frontex Kritik. Doch auch die neue Bundesregierung aus SPD/Grüne/FDP hat sich mit dem Koalitionsvertrag für die weitere Unterstützung des EU-Grenzregimes ausgesprochen. Sie meint es soll "auf Grundlage der Menschenrechte und des erteilten Mandats zu einer echten EU-Grenzschutzagentur weiterentwickelt werden" und weiterhin "ein wirksamer und rechtsstaatlicher Außengrenzschutz sein, der transparent ist und parlamentarisch kontrolliert wird. Frontex soll sich im Rahmen des Mandats bei der Seenotrettung aktiv beteiligen." (Koalitionsvertrag 2021)

Seit ihrem Bestehen, wird versucht der Frontex ein positives Bild zuzuschreiben. Doch immer wieder wird öffentlich, wie Frontex als eine Abwehrorganisation für Geflüchtete arbeitet. Dies scheint die Ampel-Regierung nicht sehen zu wollen. Frontex ist an den Pushbacks beteiligt.

Mit der Wahl zum Unwort des Jahres 2021 wird sich die Realität von „Pushbacks“ gegen Menschen die Schutz und Hilfe suchen nichts ändern. Dass die Wahl auf dieses Wort gefallen ist „weil mit ihm ein menschenfeindlicher Prozess beschönigt wird", so die Jury, kann jedoch dazu beitragen, dass mehr Menschen über diese Praxis des Zurückstoßens informiert werden. Darüber hinaus wird dann auch über die Einschränkungen des Asylrechts und die Versuche der unmenschlichen Abschreckung durch europäische Regierungen gelesen.

Es sind aber nicht Worte des Jahres, es sind die dazugehörigen Taten, die diesen Worten ihren erschreckenden und unmenschlichen Ausdruck geben.

Seit Jahren werden immer wieder Worte kreiert, die politische Ziele beschreiben sollen und dabei gleichzeitig den Weg zu unmenschlichen Vorhaben deutlich machen.

Wenn im Koalitionsvertrag der Bundesregierung mit dem Begriff der „Rückführungsoffensive“ die Perspektive mancher Geflüchteten beschreibt, zeigt allein schon dieses Wort wie diese Regierung mit der Frage von Flucht und Asyl umgehen wird – entgegen allen ihren eigenen Beteuerungen und Versprechungen für eine menschliche Flüchtlings- und Migrationspolitik.

Wenn die CDU/CSU die neue Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) dafür kritisiert, dass sie in der EU-Flüchtlingsfrage gemeinsam mit anderen Ländern eine "Koalition der aufnahmebereiten Mitgliedstaaten" schmieden will, zeigt dies, dass die Union dort weitermacht, wo der Innenminister a.D. Seehofer aufgehört hat. Deutlicher wird noch, wenn der CDU-Innenexperte Christoph de Vries der "Bild" diktiert: "Oberste Priorität für eine deutsche Innenministerin muss jetzt sein, klare Stoppsignale zu senden und keine neuen Einladungen zu verteilen", und Deutschland habe "viele Jahre die größten humanitären Lasten in Europa getragen".

"Pushback"- das Unwort des Jahres muss zur Untat des Jahres werden!

Halten wir es mit der Menschenrechtsorganisation „Mare Liberum“, die schreibt: „2022 suchen wir dann kein neues Wort, sondern schaffen diesen Unakt, die Pushbacks ab, ja? Für das Recht auf Bewegungsfreiheit und Safe Passage!“

Kämpfen wir für legale Fluchtwege!

Für das Recht zu kommen, für das Recht zu bleiben!

#LeaveNoOneBehind

Bettina Jürgensen, marxistische linke

Flüchtlingsrat SH zum migrationspolitischen Teil des AMPEL-Koalitionsvertrags: 

Innovationen bei der Flüchtlingsintegration versus Kontinuität bei der Aufenthaltsbeendigung 

Die Ampel kündigt einen Paradigmenwechsel beim Familiennachzug Geflüchteter, beim Bleiberecht, bei Arbeitsverboten und bei der Beschäftigungsintegration Geduldeter an. Für Besorgnis sorgt indes, dass die alte Linie bei Kasernierung neuzugewanderter Asylsuchender und bei der Abschiebungspolitik offenbar verstetigt werden soll. 

Der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein begrüßt es sehr, dass die Ampel-Koalition die Politik unterschiedlich ausgestalteter Flüchtlingsstatus beenden will. Subsidiär Geschützte sollen endlich mit Genfer Konventions-Flüchtlingen rechtlich gleichgestellt werden.

Nach Verlauten beinhaltet die im Ampel-Koalitionsvertrag avisierte Abkehr vom Konzept der AnkER-Zentren allerdings nicht das Ende der 18 bis 24-monatigen Wohnverpflichtung neu einreisender Asylsuchender in Erstaufnahmelagern. Damit fände das System der früh angelegten sozialen und gesellschaftlichen Isolierung Schutz suchender Menschen und Familien auch in der nächsten Legislaturperiode seine Fortsetzung, kritisiert der Flüchtlingsrat.

Die Ankündigung, die Opfer häuslicher Gewalt und von Menschenhandel aufenthaltsrechtlich besser abzusichern ist aller Ehren wert. Aber fast 50 Prozent der Asylsuchenden sind inzwischen weiblich. Die Tatsache, dass jedoch weiterhin eine frauenspezifische Flüchtlingspolitik ausbleibt, die auf die u.a. rechtlichen Bedarfe von Frauen abzielt, die durch Fluchtgründe und -wege traumatisiert, im Asylverfahren benachteiligt, durch fehlende Schutzkonzepte in den Lagern gefährdet und im Erleben eines rassistischen Alltags und der oft alleinigen Familienfürsorge mehrfach belastet sind, stellt eine aus Sicht des Flüchtlingsrats dringend zu kompensierende Leerstelle in der Ampel-Flüchtlingspolitik dar. 

Positiv aber sei, dass offenbar das Monopol des Asyl-Bundesamtes auf die Verfahrensberatung der Asylbewerber*innen zerschlagen werden soll. Eine „flächendeckende, behördenunabhängige Asylverfahrensberatung“, wie sie die Ampel jetzt ankündigt, fordern Fachverbände und Flüchtlingsräte schon lange. 

„Dass das Asylbewerberleistungsgesetz nach bald 10 Jahren regierungsamtlicher Missachtung des Bundesverfassungsgerichts nun doch novelliert und – so hoffen wir – die Verwaltungspraxis grundrechtskonform umgestaltet werden soll, ist eine gute Nachricht“, erklärt Martin Link, Geschäftsführer beim Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein. Hier gelte es aufmerksam zu beobachten, ob es der Ampel wirklich gelingen wird, der Unteilbarkeit der Menschenwürde ultimativ Rechnung zu tragen und der bis dato regelmäßigen sozialen Diskriminierung von Schutzsuchenden ein Ende zu bereiten. 

„Wir begrüßen sehr, dass jungen Geflüchteten und auch langjährig Geduldeten per Verkürzung der Wartefristen Brücken in das Bleiberecht geschlagen und bestehende gesetzliche Hürden – wie die ‚Duldung light‘ und ausländerrechtliche Arbeitsverbote abgeschafft werden sollen“ freut sich Astrid Willer, Koordinatorin des Arbeitsmarktnetzwerkes für Geflüchtete Alle an Bord! beim Flüchtlingsrat. Auch die vorgesehene Öffnung der Integrationssprachkurse ist ein wichtiger und lange überfälliger Schritt, um überhaupt die Möglichkeit für gesellschaftliche und arbeitsmarktliche Teilhabe zu schaffen.

Dass sich die Ampel-Koalition bei einer Bleiberechtsregelung allerdings für eine Stichtags- anstatt für eine regelmäßige gesetzliche Regelung entschieden habe, sei für den Rat ein Wehrmutstropfen. Doch noch besorgter ist Martin Link darüber, „dass Menschen, die nicht zuletzt jahrelang mittels lebensalltagsfeindlicher Kettenduldungsfristen an einer erfolgreichen Arbeitsmarkt-Integration gehindert worden sind, nun die Verstetigung der auf Probe zugestandenen Aufenthaltserlaubnis riskieren, wenn sie bei der Lebensunterhaltssicherung möglicherweise keinen Senkrechtstart hinbekommen“. Hier halte die allgemeine und erst recht die Corona bedingt schwierige Arbeitsmarktlage einige Stolpersteine für die Betroffenen bereit.

Der Koalitionsvertrag macht getrennten Familien Hoffnung: Die Verbesserung bei den Rechtsgrundlagen und die vorgesehene Beschleunigung beim Familiennachzug bedeuten, dass die jahrelange Trennung Geflüchteter von ihren Familien absehbar ein Ende haben wird. „Doch nach der dringend notwendigen Novellierung des Rechts geht die Arbeit erst richtig los. Im Auswärtigen Amt und seinen Auslandsvertretungen muss sowohl für schnellere, digitale und unbürokratische Abläufe, aber auch für eine künftig nachhaltig aufgeschlossene Haltung gegenüber den Anliegen der Antragstellenden gesorgt werden“, mahnt Axel Meixner, Jurist und Rechtsberater beim Flüchtlingsrat.  

„Dass der Bund künftig neben den dezentralen Angeboten der Migrationsberatung auch die Arbeit der ‚Migrantenorganisationen angemessen fördern‘ will, ist für viele der größtenteils ehrenamtlich arbeitenden Organisationen sicher ein Lichtblick.“ schätzt Ludmilla Babayan, beim Flüchtlingsrat im Projekt Souverän zuständig für Angebote zur Unterstützung von Migrant*innenorganisationen im Bundesland. Diese bundespolitische Wertschätzung der Rolle der Migrant*innenorganisationen beim Ziel, einen größeren Zusammenhalt in der Einwanderungsgesellschaft zu erreichen, kommt im 60. Jahr des Anwerbeabkommens spät, aber nicht zu spät.

„Dass weiterhin Kranke und Traumatisierte abgeschoben werden können, stimmt uns allerdings sehr bedenklich“, erklärt Martin Link. Abschiebungen in Kriegs- und Krisengebiete werden im Koalitionsvertrag nicht klar ausgeschlossen. Insgesamt scheint die Ampel-Politik auf mehr Abschiebung, denn auf weniger angelegt. Dass die ‚freiwillige Ausreise stets Vorrang habe‘, ist dabei nichts Neues. Dass die staatliche Rückkehrförderung finanziell besser ausgestattet werden soll, hatte auch die alte Bundesregierung schon im Plan. „Ob denn die oberste Bundesbehörde – d.h. das nach Verlauten künftig SPD-geführte Bundesinnenministerium – tatsächlich Gebrauch machen wird von den im Koalitionsvertrag ‚angestrebten temporären nationalen Abschiebungsstopps‘, ist noch nicht ausgemacht“, vermutet Axel Meixner.

Bei der europäischen Dimension künftiger deutscher Flüchtlingspolitik überwiegt im Koalitionsvertrag die Uneindeutigkeit. Schon die seit Wochen stattfindenden rechtwidrigen Rückschiebungen ins belarussische Elend durch polnische Grenzschützer hatten die verhandelnden Koalitionäre nicht infrage gestellt, aber – wie jetzt auch im Koalitionsvertrag – betont, dass die EU und Deutschland nicht erpressbar sein dürften. Da bleibt es wohl bezüglich des im Koalitionsvertrag abgegebenen Versprechens, die „illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden“ zu wollen, für die solidarische Zivilgesellschaft gegenüber der neuen Bundesregierung ständige Pflichtübung, ein konsequentes Einlösen regelmäßig einzufordern. 

Die Ampel-Koalition will mit mehr Relocation die visafreie Binnenmigration von in den EU-Frontstaaten aufgenommenen Flüchtlingen bekämpfen. Doch 80 Prozent der in den vergangenen Jahren über das Relocation-Programm in Deutschland Aufgenommenen, sind nach negativer Asylentscheidung längst wieder in ihre Heimatländer abgeschoben worden. „Wenn sich an dieser Praxis des rechts-kosmetischen Drehtür-Missbrauch der Relocation-Idee nichts ändert, wird sich das Ampel-Versprechen, auf diesem Wege ‚die Bedingungen für Geflüchtete in ihren Ländern zu verbessern‘ in heiße Luft auflösen“, befürchtet Martin Link

„Ob das rote Kanzleramt, das ebenfalls rote Innen- und das grüne Außenministerium künftig zu wirksamem Druck auf andere EU-Staaten bereit sein werden, Schutzsuchende die Grenzen passieren zu lassen und den Zugang zum Recht in allen Mitgliedsstaaten zu ermöglichen, wird zur Nagelprobe für die europa-flüchtlingspolitische Glaubwürdigkeit der Ampel-Regierung werden“, ist Martin Link überzeugt.

„Immerhin bietet das Ampel-Bekenntnis zur Schaffung von mehr legalen Einreisemöglichkeiten auch Perspektiven für endlich erfolgreiche Landesaufnahmestrategien“, erklärt Martin Link mit Blick darauf, dass der bisherige Bundesinnenminister solchen Anliegen der Länder regelmäßig die Zustimmung verweigert hat. Der Flüchtlingsrat hofft, dass die Landesregierung Schleswig-Holstein noch in der laufenden Landeslegislaturperiode der neuen Bundesregierung mit dem Anliegen eines Afghanistan-Angehörigen-Landesaufnahmeprogramms auf den Zahn fühlen wird. 

Presseerklärung des Flüchtlingsrat, Kiel, 25.11.2021 gez. Martin Link

Polen/Belarus:

Solidarität mit den Geflüchteten an der EU-Grenze

Etwa 50 Demonstrat*innen versammelten sich am 20.11.2021 am Kieler Hauptbahnhof und forderten offene Grenzen sowie die sofortige Aufnahme der an der polnisch-belarusischen EU-Außengrenze festgesetzen Menschen auf der Flucht.



Während das autoritäre Lukaschenko-Regime die Leidtragenden seit Wochen als Spielball im Kräftemessen mit der EU missbraucht, halten polnische Behörden mit Unterstützung diverser europäischer Staaten das EU-Grenzregime mit militärischer Brutalität aufrecht. Die Betroffenen müssen bei lebensgefährlicher Kälte in Wäldern hausen und werden an ihrer Weiterreise gehindert. Auch die deutsche Regierung hat sich jeglicher Schaffung sicherer Fluchtwege und Aufnahme der Schutzsuchenden verweigert. Zu der Kundgebung hatten Kurdische Organisationen aufgerufen; unter den Flüchtenden befinden sich viele Menschen aus Kurdistan. (Quelle: Revolutionsstadt Kiel)

Ergänzend dazu ein Kommentar der Schriftstellerin Daniela Dahn: “Kühl sagt Heiko Maas, glückloser Außenminister, Deutschland werde diese Menschen nicht aufnehmen. Es scheint egal, ob sie erfrieren oder nur erkranken. Egal, ob sie schon europäischen Boden betreten und damit das Recht auf ein Asylverfahren haben. In Brüssel wird nicht über ein Vertragsverletzungsverfahren diskutiert, sondern über die Bezahlung einer Mauer. Auf jeden Migranten, auf jede Frau, jedes Kind, kommen inzwischen drei oder vier Uniformierte an dieser Grenze der Schande – nicht mit dem Auftrag zu helfen, sondern mit dem gesetzwidrigen Pushback-Befehl. Go, go, go ist ihre Botschaft.
Das Wort Fluchtursachen scheint aus dem Vokabular gestrichen. Stattdessen werden Migranten angeblich nur noch „instrumentalisiert“, was ihnen eigene, begründete Motive abspricht. Und erst recht deren Verursacher im Dunkeln lässt. Die meisten Geflüchteten kommen aus dem Irak. Im Gegensatz zu Belarus war Polen einst mit 2.000 Soldaten beteiligt, als das Land von ausländischen Truppen, die dort nichts zu suchen hatten, in Schutt und Asche gebombt wurde.

Die Sprache zeugt heute unverändert von militantem Denken: „hybrider Angriff“ (von der Leyen), „menschliche Schutzschilde“ (Morawiecki) oder „weißrussischer Staatsterror“ (Steinmeier).“

(Daniela Dahn in: „Europa rüstet auf“. der Freitag, 19.11.2021, https://www.maskenfall.de/?p=14548)

Flüchtlingsrat SH, Landeszuwanderungsbeauftragter SH und Nordkirche fordern:

Afghanistan-Aufnahmeprogramme und Bleiberecht für Afghan*innen

Die Situation in Afghanistan hat – auf unabsehbare Zeit – dramatisch verschlechtert. Die Taliban haben gewaltsam die Kontrolle über das Land übernommen und inzwischen eine international nicht anerkannte Regierung gebildet. Aus Afghanistan erreichen uns alarmierende Nachrichten von Verfolgungsgewalt und einer zunehmenden Zahl Geflüchteter.
Aber auch für in Deutschland lebende Afghan *innen ist die Situation hochgradig belastend und herausfordernd. Die Bundesrepublik steht nach dem Abzug der Bundeswehr in der Verantwortung. Schnelles und konsequentes Handeln auf Bundes- und Landesebene ist geboten, die verfassungsmäßigen und gesetzlichen Regelungen in Asyl- und Aufenthaltsgesetz müssen im Sinne der Schutzsuchenden großzügig und konsequent angewendet werden.
Mit Blick auf die Unterstützungsbedarfe von gefährdeten Menschen in Afghanistan und auf die hierzulande im prekären Status eines noch nicht verfestigten Aufenthaltes lebenden Afghan*innen appellieren die Unterzeichnenden an die Bundes- und die Landesregierung umgehend im Interesse der betroffenen Menschen wie folgt tätig zu werden:


1. Konsequente ermessenspositive Anwendung von asyl- und aufenthaltsgesetzlichen Normen und Regelungen im Hinblick auf Aufenthaltsverfestigungen – zügige Bearbeitung von Folgeverfahren und anhängigen Asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren sowie Gewährung von Asyl oder subsidiärem Schutz

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge muss nun sofort Folgeverfahren von zuletzt abgelehnten Asylverfahren ermöglichen und zügig bearbeiten. Menschen in Afghanistan droht momentan nicht nur grundsätzlich „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit […] infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“. Afghanischen Asylsuchenden muss also mindestens subsidiärer Schutz nach §4 AsylG zuerkannt werden.
Für viele, etwa Frauen oder Angehörige von ethno-religiösen Minderheiten, ist voraussichtlich zudem auch die Zuerkennung einer Flüchtlingseigenschaft nach §3 AsylG zu prüfen, und zwar aufgrund von Verfolgung wegen ihrer Ethnie, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. In beiden Fällen ist gemäß § 25 Absatz 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
Unabhängig davon sollten die lokalen Ausländerbehörden wiederum bereits jetzt von sich aus aktiv werden, und den bis dato Geduldeten und formal Ausreisepflichtigen bereits jetzt gemäß der Vorgaben von §25 Abs. 5 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilen, da ihre „Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist“. Ebenso ist die Möglichkeit eines Aufenthalts nach § 25a oder § 25b AufenthG auch in diesem Fall zu prüfen.
Das ggf. erteilte Verbot jeglicher Erwerbstätigkeit sollte in allen Fällen zügig aufgehoben werden.
Zugang zu Sprachkursen und Integrationsangeboten ist so schnell wie möglich und auch vor der abschließenden Bearbeitung von Folgeanträgen oder anhängigen Verfahren zu gewähren.
Afghanische Staatsbürger*innen dürfen zudem grundsätzlich nicht weiter an die afghanische Botschaft verwiesen werden – das Einfordern von Dokumenten aus einer Vertretung, die von einer völkerrechtlich nicht anerkannten Miliz kontrolliert wird, ist weder legal noch legitim.

2. Zügige Planung und Umsetzung von Bundes- und Landesaufnahmeprogrammen

Dass der Bund offenbar ein Bundesprogramm und die Zustimmung zu landeseigenen Aufnahmeprogrammen zur Aufnahme von afghanischen Geflüchteten verwehrt, ist ein humanitärer Skandal. Die offensichtlichen Gefährdungslagen machen ein Bundesaufnahmeprogramm nach § 23 Abs. 2 AufenthG dringend. Dabei muss die schnelle und unbürokratische Aufnahme im Vordergrund stehen, die Prüfungskriterien müssen niedrigschwellig angelegt werden. Kriterium sollte hier die Vulnerabilität sein. Akut und besonders gefährdet sind u.a. ehemalige Ortskräfte und ihre Familien, Frauen und Mädchen, Journalist*innen, Menschenrechtsaktivist*innen, Kulturschaffende oder LBGTIQ*.
Zusätzlich sind die Möglichkeiten eines Resettlement-Programms entsprechend § 23 Abs. 4 AufenthG zu prüfen, um zur Entlastung der besonders betroffenen Nachbarländer beizutragen. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass es nicht zielführend ist in Fragen der humanitären Hilfe auf die Staaten zu zählen, die maßgeblich für die Instabilität in Afghanistan mitverantwortlich sind.
Wir appellieren an die Landesregierung, ein Landesaufnahmeprogramm entsprechend § 23 Abs. 1 AufenthG zu prüfen. Dieses sollte unabhängig von sogenannten Verpflichtungserklärungen aufgelegt werden, da davon nur Personen profitieren können, deren hier lebende Verwandte sehr gut verdienen. Stattdessen sollte Vulnerabilität im Vordergrund stehen. Beim Festhalten an der Voraussetzung einer Verpflichtungserklärung entsprechend § 68 AufenthG sollten jedoch zwingend die Krankenkosten vom Land übernommen, ein schneller und unbürokratischer Zugang zur Sprachförderung ermöglicht, ein schneller und unbürokratischer Zugang zu Ausbildungs- und Erwerbsmöglichkeiten geschaffen und eine Bürgschaft von mehreren Personen bzw. die damit verbundene Kostenteilung ermöglicht werden.

3. Ermöglichung von Familiennachzug und Entlastung des konsularischen Personals

Medienberichten zufolge gibt es in Kabul keine geschäftsfähige Deutsche Botschaft. Das Auswärtige Amt muss die Kapazitäten der deutschen Botschaften in den Nachbarstaaten sowie in der Türkei dringend ausbauen, damit das konsularische Personal von Abläufen von Landes-, Bundes und Resettlementaufnahmeprogrammen sowie Angelegenheiten des Familiennachzugs nicht überfordert werden. Zurzeit laufen viele Verfahren zum Familiennachzug, die oft an praktischen Hürden und einer enormen Bürokratie scheitern. Aktuell sind laut Pro Asyl ca. 3.000 Anträge auf Familiennachzug mitunter seit Jahren blockiert. Es müssen dringend die Bedingungen für wesentlich schnellere Termin- und Visavergaben geschaffen werden. Insbesondere ist es in Afghanistan nicht mehr möglich, die notwendigen Sprachzertifikate A1 zu bekommen – dies könnte in kürzester Zeit in Deutschland nachgeholt werden. Von nun unerfüllbaren Vorgaben wie dieser muss abgesehen werden.

• Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V., Martin Link,
• Stefan Schmidt, Landesbeauftragter für Flüchtlings-, Asyl- und Zuwanderungsfragen Schleswig-Holstein
• Dietlind Jochims, Flüchtlings- und Menschenrechtsbeauftragte der ev. Luth. Kirche in Norddeutschland,
• Die Flüchtlingsbeauftragten in den e.v luth. Kirchenkreisen in Schleswig-Holstein

(Gemeinsame Erklärung am 8.9.2021)